Interview

„Wir sind Kämpfer und Kümmerer“

Krankheit, Pflege, Inklusion und soziale Gerechtigkeit: Im G+G-Interview erklärt die neue Präsidentin des VdK, Verena Bentele, was Deutschlands größter Sozialverband bei diesen und anderen Themen alles durchsetzen will – und welche Eigenschaften sie aus ihrer früheren Sportlerkarriere dafür mitbringt.

Frau Bentele, ich wusste gar nicht, dass Sie alte Hüte verkaufen.

Verena Bentele: Alte Hüte?

Ja, Sie stehen seit Kurzem dem Sozialverband VdK vor, und der Verband wirbt für eine Reform der Krankenversicherung hin zur Bürgerversicherung. Das ist doch ein alter Hut, oder?

Bentele: So lange es keine solidarische Krankenversicherung für alle Menschen in Deutschland gibt, ist das kein alter Hut. Wir sind ja bei diesem Thema in den vergangenen Jahren keinen Schritt weitergekommen. Deutschland hat immer noch ein Zweiklassensystem in der medizinischen Versorgung.

Woran machen Sie das fest?

Bentele: Viele Arztpraxen sind bis heute nicht barrierefrei, sie sind für Menschen mit Behinderung nicht zugänglich. Außerdem ist es für viele Ärzte immer noch attraktiver, Privatpatienten zu behandeln. Und die Chefarztbehandlung im Krankenhaus ist auch ein Vorzug. Die Forderung nach einer solidarischen Kranken­versicherung für alle ist demnach hochaktuell, wenngleich die Lobby dagegen groß ist. Deshalb sind Ausdauer und Kampfgeist gefragt. Über beides verfügen wir.

Dem VdK gehören rund 1,9 Millionen Mitglieder an. Mehr als 60.000 von ihnen sind bis in die letzte Kommune hinein ehrenamtlich aktiv. Der VdK äußert sich zu Altersarmut und Teilzeit genauso wie zu Pflegegraden, Demenz und Inklusion. Wie steuert man einen solchen Tanker, der thematisch derart breit aufgestellt ist?

Bentele: Das gelingt, weil ich mich auf ein starkes, ein­gespieltes Team aus haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ver­lassen kann. Und zwar auf der Bundes- wie der Landesebene. Ich bin eine erfahrene Team­playerin. In meiner aktiven Zeit als Sportlerin habe ich immer in Teams gearbeitet. Außerdem habe ich einen sehr starken Willen.

Sie machen uns neugierig.

Bentele: Ich bin neulich von Trondheim nach Oslo mit dem Rad gefahren. 540 Kilometer in 20 Stunden und 52 Minuten. Das macht man irgendwann nicht mehr nur über die Beine. Da braucht man auch den Willen dazu, das schaffen zu wollen. Und dieser Wille, da bin ich mir sicher, der wird mir auch in den politischen Diskussionen in Zukunft gut helfen. Und natürlich die Ausdauer und Beharrlichkeit, für ein Ziel zu kämpfen.

„Es darf nicht sein, dass Pflege zu einem Armutsrisiko für die Menschen wird.“

Politisches Korrektiv und soziales Gewissen: Lässt sich die Funktion des VdK so zusammenfassen?

Bentele: Ich würde es nicht ganz so pathetisch formulieren: Der VdK ist die Interessenvertretung der Menschen, die soziale Nachteile haben und nicht vom Reichtum und Wohlstand des Sozialstaates profitieren. Rentner, Patienten, Pflegebedürftige und pflegende Angehörige, sozial benachteiligte Familien, Allein­stehende sowie Menschen mit Behinderungen. Ihnen wollen wir eine starke Stimme geben. Wir setzen uns aber auch für diejenigen ein, die erwerbstätig sind, deren Einkommen aber nicht für ein auskömmliches Leben und eine gute Rente im Alter reicht. Kurzum: Wir sind Kämpfer und Kümmerer.

Bei so vielen Adressaten – würden Sie da noch sagen, dass es in Deutschland sozial gerecht zugeht?

Bentele: Ich würde die These unterschreiben, dass Deutschland  ein Land ist, das in der Lage sein muss, sozial gerecht zu sein. Wir haben die Mittel und die Voraussetzungen, um allen Menschen gute Lebensbedingungen zu bieten. Dafür lohnt sich jeder Einsatz. Und deswegen bin ich hier.

Um den Finger in die Wunde zu legen?

Bentele: Auch das. Vor allem will ich mich dafür einsetzen, dass der Wohlstand bei allen Menschen ankommt. Ich meine auch, dass Unternehmen ihre Beschäftigten am erwirtschafteten Wohlstand beteiligen sollten, und nicht nur ein paar Aktionäre etwas davon haben.

Und dafür gehen Sie ab sofort in die zuständigen Ministerien und auf die Straße und streiten sich in Talkshows?

Bentele: Ja. Entscheidend für mich aber ist, dass der Sozialverband VdK auch wegen seiner Größe in sehr vielen Orten als Ansprechpartner präsent ist. Dann zum Beispiel, wenn eine Rechtsberatung gebraucht wird, um gegenüber einem Sozialversicherungsträger einen Leistungsanspruch durchzusetzen. Oder wenn ich wissen will, wie weit der rollstuhlgerechte Umbau des Bahnhofs an meinem Heimatort gediehen ist.

Vielen Großorganisationen laufen die Mitglieder weg. Der Sozialverband VdK dagegen wächst. Wie machen Sie das?

Bentele: Wir kümmern uns gut um unsere Basis. Wir geben unseren Mitgliedern das Gefühl, Teil einer starken Bewegung zu sein. Ein nächster Schritt ist, dass wir tatsächlich allen Menschen, die bei uns Mitglied sind, die Möglichkeit geben, sich aktiv einzubringen und zu engagieren, indem er oder sie sich etwa als Berater für Barrierefreiheit schulen lässt.

Auf der Website des VdK heißt es, der Verband stehe „allen“ offen. Als ich Freunden erzählte, dass wir zum Interview ver­abredet sind, antworteten die mir: Du gehst also zu diesem Verband, in dem Senioren für Senioren aktiv sind.

Bentele: Dann bestellen Sie denen schöne Grüße von mir: Ich bin 36 Jahre alt und aus Überzeugung Mitglied im VdK.

Sie stehen demnach für einen Verjüngungsprozess?

Bentele: Auf jeden Fall will ich den VdK noch stärker dorthin bringen, wo junge Menschen sind. In Schulen, Universitäten und in die Ausbildungsstätten. Da haben wir natürlich auch in der Vergangenheit schon viele tolle Projekte angeboten.

„Auf jeden Fall will ich den VdK noch stärker dorthin bringen, wo junge Menschen sind. In Schulen, Universitäten und in die Ausbildungsstätten.“

Rente, Pflege, Krankheit und Teilhabe – solche Themen sind nicht gerade sexy und cool. Wie wollen Sie junge Menschen dennoch dafür gewinnen – und damit für die Arbeit Ihres Verbandes?

Bentele: Indem wir diese Themen sexy verkaufen und auch über Kanäle wie Twitter, Facebook & Co. klarmachen: Pflege und Rente gehen auch junge Menschen an. Darüber hinaus wollen wir ihnen die Möglichkeit geben, sich in unserem Ver­band für ihre Rechte zu engagieren. Das betrifft ja beispielsweise die Frage, was mache ich, wenn meine eigenen Eltern pflegebedürftig werden, ich aber nicht in der Stadt wohne, wo meine Eltern leben, weil ich berufsbedingt von dort weggezogen bin. Das kann uns ja alle schneller treffen, als uns recht ist. Einen großen Pluspunkt sehe ich in der Authentizität, die den VdK auszeichnet.

Klingt toll – und heißt konkret was?

Bentele: Heißt, dass der VdK ein Verband ist, der nicht alle vier Jahre die Meinung ändert – je nachdem, wer gerade regiert. Wir sind verlässlich in dem, was wir sagen und tun. So etwas spricht auch junge Menschen an.

Ein Thema, das viele Menschen in Deutschland bewegt, ist die Pflege – auch weil Pflegeprofis knapp werden. Müssen wir demnach die Pflege durch Angehörige, Freunde, Bekannte – die sogenannte informelle Pflege – mehr stärken?

Bentele: In Deutschland tragen ja bereits viele Angehörige die Hauptlast der Pflege. Die Familie ist der größte Pflegedienst der Nation. Aber man kann nicht alles auf die Schultern der Angehörigen abwälzen, weil die genauso schauen müssen, wie sie ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen und ihr eigenes Leben organisieren können. Hier braucht es mehr entlastende Angebote. Ich bin aber auch der Meinung, dass es in einem reichen Land wie dem unseren möglich sein sollte, eine gute professionelle Pflege nicht nur über Versichertenbeiträge, sondern auch über Steuermittel zu finanzieren. Die Finanzierungsbasis muss breiter und gerechter werden.

Mit mehr Geld allein dürften die Probleme der Pflege nicht zu lösen sein.

Bentele: Ohne aber auch nicht. Es geht um mehr Personal, bessere Rahmenbedingungen und eine bessere, tarifgebundene Bezahlung der Beschäftigten. Das alles kostet viel Geld. Die von Gesundheitsminister Jens Spahn angekündigten 13.000 neuen Fachkraftstellen sind ein erster Schritt – aber auch nicht mehr. Und ich würde gerne wissen, wie Herr Spahn all die jungen Bewerberinnen und Bewerber für die neuen Stellen finden will.

Helfen Sie ihm doch auf die Sprünge.

Bentele: Mit Sicherheit gibt es unterschiedliche Mittel. Eine bessere Bezahlung von Pflegeprofis ist wie gesagt ein Instrument, das ich für wichtig halte. Verbesserte Arbeitsbedingungen sind ein weiterer Hebel. Die Menschen, die in der Pflege arbeiten, müssen das Gefühl haben, dass sie auch die nötigen zeitlichen Ressourcen besitzen, um ihrer Aufgabe wirklich gerecht werden zu können. Pflege im Laufschritt schreckt ab. Auch Prämien für Berufsrückkehrer sind denkbar. Ganz wichtig: Wir sollten mehr junge Menschen in die Pflegeberufe reinschnuppern lassen – über Schulpraktika oder ein freiwilliges soziales Jahr. Hier ist mehr Fantasie gefragt. Sonst entscheiden sich die Mädchen und Jungs für andere Ausbildungsjobs.

Sie haben kürzlich die zu hohen Eigenanteile der Pflegebedürftigen an der Pflege sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich kritisiert. Was genau fürchten Sie?

Bentele: Dass Pflege erneut zu einem Armutsrisko wird – und das darf nicht sein. Auch aus diesem Grund hat Deutschland ja vor gut 20 Jahren die Pflegeversicherung eingeführt. Und jetzt entnehmen wir der Statistik, dass heute knapp jeder achte Pflege­bedürftige die Sozialleistung „Hilfe zur Pflege“ bezieht. In Großstädten ist sogar rund ein Viertel der Menschen, die gepflegt werden, auf „Hilfe zur Pflege“ angewiesen. Dass wir Menschen im Alter oder aufgrund einer körperlichen oder geistigen Be­hinderung nicht ermöglichen, in Würde zu leben, finde ich einer Gesellschaft wie der unseren – einer reichen Gesellschaft – unangemessen. Hier wird der Sozialverband VdK – ich wiederhole mich da gerne – weiter den Finger in die Wunde legen und für eine breitere, auch steuerbasierte Finanzierung von Pflege werben und kämpfen.

Lassen Sie uns noch ein bisschen weiter in die Zukunft schauen: Wo steht der VdK in 20 Jahren – virtuelle Whats-App-Gruppe statt Stammtisch?

Bentele: (lacht) Im Jahr 2040 wird es sicherlich auch im Sozial­verband VdK viele virtuelle Whats-App-Gruppen geben – so wie es die realen Zusammenkünfte auf der kommunalen, der Landes- wie der Bundesebene weiterhin geben wird und die persönliche Unterstützung und Rechtsberatung. Dafür brauchen wir noch viele weitere engagierte Mitstreiter aller Altersklassen. Das ist für mich der Wunsch und der Traum, den ich mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesem Verband verfolge.

Thomas Hommel führte das Gespräch. Er ist Chefreporter der G+G.
Marc-Steffen Unger ist Fotojournalist.