Pro und Contra

Weniger Hürden für Medical-Apps?

Smartphone-Programme unterstützen Ärzte bei der Diagnostik, überwachen Stoffwechselwerte oder erinnern Patienten an die Medikamenten-Einnahme. Doch unter welchen Voraussetzungen sollten die Krankenkassen für die Kosten aufkommen?

Dr. Philipp Wien: „Der Gesetzgeber sollte ein eigenständiges Zugangsverfahren für digitale Medizinprodukte verankern.”

Wien leitet das Referat Gesundheitswirtschaft beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag

Das angekündigte E-Health-Gesetz 2.0

sollte für innovationsoffene Rahmenbedingungen sorgen. Das enorme Potenzial digitaler Anwendungen wird bisher nämlich kaum genutzt. Das schwächt langfristig nicht nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, sondern wirkt sich auch negativ auf die Qualität und Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen aus.

Die digitale Transformation kommt im Gesundheitsbereich auch deshalb nicht voran, weil bislang ein zentrales sozialrechtliches Bewertungs- und Zugangsverfahren fehlt, das sich mit den Besonderheiten von digitalen Medizinprodukten auseinandersetzt und eine systematische Integration dieser Produkte in die Regelversorgung sicherstellt. Es gibt zwar vereinzelte „Insellösungen“ aufgrund von Selektivverträgen, jedoch kein Verfahren, das Produkte und Leistungen automatisch in die Regelversorgung überführt, wenn ausreichend Evidenz für einen Nutzen im Rahmen der Vertragslaufzeit vorliegt. Digitale Medizinprodukte gehen weit über Apps für Onlinesprechstunden hinaus. Zum Beispiel wird gerade eine neue Generation von Tests zur Früherkennung von Alzheimer entwickelt, die über eine Plattformlösung auf Künstliche Intelligenz zurückgreifen.

Es gibt eine Vielzahl von sozialrechtlichen Regelungen, die für digitale Medizinprodukte anwendbar, jedoch nicht spezifisch für diese konzipiert sind. Der Gesetzgeber sollte daher ein eigenständiges Zugangsverfahren für CE-zertifizierte digitale Medizinprodukte verankern, das der Dynamik des Marktes gerecht wird und sektorenübergreifend ausgestaltet ist. Nachdem zum Beispiel der Hersteller einen Antrag beim Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) gestellt hat, sollte zunächst geprüft werden, wie und wo das Produkt zur Anwendung kommen soll. Davon hängen das Zugangsverfahren sowie Preis und Vergütung ab. Ergänzend sollten qualitätssichernde Instrumente entwickelt werden, die die Ergebnisse für die Praxis aufbereiten und den Stakeholdern systematisch zur Verfügung stellen.

Für das Bewertungsverfahren ist ein Klassifikationsmodell notwendig, das von der Eingriffsintensität des Produktes in den Entscheidungsprozess abhängt und entsprechend unterschiedliche Bewertungsmethoden vorsieht. Da gerade Start-ups sowie kleine und mittlere Unternehmen innovative Produkte entwickeln, sollten deren Herausforderungen dabei stärker berücksichtigt werden, beispielsweise in Form eines serviceorientierten Beratungsangebotes.

Da die ab Mai 2020 geltende europäische Medizinprodukteverordnung deutlich höhere Anforderungen für das Inverkehrbringen von digitalen Medizinprodukten vorsieht, sollte die Bewertung jedoch – ähnlich wie bereits im Arzneimittelbereich – grundsätzlich keine erstattungsrechtlichen Konsequenzen haben, sondern ein Ausschluss sollte nur unter engen Voraussetzungen, die der Gesetzgeber konkretisieren muss, möglich sein. Um den Innovationsanreiz zu erhöhen, sollte der Preis beziehungsweise die Vergütung auf Basis einer Bewertung erfolgen, die nach dem Nutzen differenziert. Zudem sollte der GBA mit dem Hersteller Versorgungsstudien vereinbaren können, um gegebenenfalls Evidenzlücken zu schließen – ohne die Unternehmen finanziell zu überfordern.

Dr. Gerhard Schillinger: „Es gibt keine Notwendigkeit für neue und eigene Bewertungen und Regeln für digitale Angebote im Gesundheitssystem.”

Schillinger leitet den Stab Medizin im AOK-Bundesverband

Science-Fiction-Fans erinnern sich:

Im Raumschiff Enterprise lässt Dr. Leonard McCoy, genannt Pille, seinen Scanner einmal kurz über den Kranken gleiten und weiß sofort, was diesem fehlt beziehungsweise hat ihn sogar schon digital behandelt. Viele Menschen hegen die Hoffnung, dass die Digitalisierung ein solches Szenario schon bald in die Realität der Gesundheitsversorgung holt.

Doch anders als auf der Enterprise gibt es für die allermeisten neuen Apps in der Wirklichkeit keinen Beleg für ihren Nutzen, wie bei Apps zur Früherkennung der Demenz und Apps zur Behandlung des Tinnitus oder sogar erhebliche Risiken beispielsweise durch mangelnde Diagnosesicherheit wie bei Smarphone-Apps, die Leberflecken von Hautkrebs unterscheiden wollen. Beurteilt die Leberfleck-App fälschlicherweise einen Leberfleck als Krebs, ist das eine schwere psychische Belastung bis zum Hautarztbesuch. Beurteilt diese App einen schwarzen Hautkrebs im Frühstadium als Leberfleck und wiegt den Nutzer in einer falschen Sicherheit, kann diese für ihn sogar den Tod bedeuten.

Es ist unbestritten, dass digitale Angebote Chancen bieten. Nachvollziehbar ist auch: Startups haben auf diesem Feld investiert und wollen nun ihr Geld mit digitalen Anwendungen verdienen. Aber in der Diskussion über den Marktzugang und die Vergütung durch die Krankenkassen muss es in erster Linie um den Nutzen für die Patienten gehen – und dies im Vergleich zur etablierten Versorgung.

Wir haben in Deutschland ein hervorragendes Gesundheitssystem, das anders als in vielen anderen Ländern allen Menschen offensteht. Ärzte, Apotheker, Psychotherapeuten, Krankenpfleger, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden und andere Therapeuten haben eine fundierte Ausbildung und bieten eine hochwertige Versorgung.

Digitale Angebote können diese Versorgung ergänzen, Teile der Behandlung übernehmen oder die Mitarbeit der Patienten im Sinne der Selbsthilfe unterstützen. Auch digitale Untersuchungs- und Behandlungsmethoden müssen ihren Nutzen im Vergleich zur Standardtherapie belegen. Erst dann können sie auf Kosten der Krankenkassen in die Regelversorgung übernommen werden. In der Zwischenzeit bieten selektive Verträge mit Krankenkassen die Möglichkeit für einen frühen Marktzugang für digitale Innovationen. Das sorgt für eine kontrollierte Umgebung, in der Schaden von Patienten vermieden wird und Daten zum Nutzen erhoben werden können. Ein Selektivvertrag kann ferner auch notwendige komplexe Settings der Anwendung innovativer digitaler Produkte sicherstellen.

Auch digitale Anwendungen müssen wirtschaftlich sein, sie müssen sich daher an den Kosten der bestehenden Regelversorgung messen lassen. Wir haben bewährte Methoden zur Bewertung des patientenrelevanten Nutzens, der medizinischen Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit neuer Methoden. Haben neue Methoden ein Potenzial eines Nutzens, kann der Gemeinsame Bundesausschuss Studien initiieren, an denen der Hersteller nur einen Anteil bezahlen muss. Daher gibt es auch keine Notwendigkeit für neue und eigene Bewertungen und Regeln für digitale Angebote im Gesundheitssystem.

Philipp Wien ist Leiter des Referats Gesundheitswirtschaft beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag.
Gerhard Schillinger ist Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband.
Bildnachweis: iStock/yotrak/Altayb/AndreyPopov