Kostprobe: Herbert Reichelts Buch

Spezielle Relativitätstheorie

Krimis, Lyrik, Kurzgeschichten: Der frühere Chef des AOK-Bundesverbandes Dr. Herbert Reichelt ist als Autor gleich in mehreren Genres aktiv. „So bunt wie das Leben” heißt sein aktuelles Buch. G+G-Digital veröffentlicht eine Kurzgeschichte.

Wie an jedem Morgen

saß Franz Drehlich am Esstisch, biss in sein mit Marmelade bestrichenes Brötchen, trank einen Schluck Kaffee und schaute gelangweilt in die Zeitung. Alles schien wie an jedem Morgen zuvor, alles schien seine Ordnung zu haben – und doch hatte er das Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst. Er hätte nicht sagen können, was es war, aber er spürte ganz deutlich, dass etwas nicht stimmte.

Er schaute auf die Wanduhr. Die Uhrzeiger standen auf zwanzig nach sieben. War die Uhr stehengeblieben? Er hatte sich doch erst um kurz nach acht an den Frühstückstisch gesetzt. Nein, die Uhr stand nicht. Er hörte ihr leises Ticken, aber irgendwie klang dieses Ticken anders als sonst. Franz Drehlich lauschte konzentriert dem Ticken der Uhr, und er hörte es ganz deutlich: Die Uhr machte andere als die vertrauten Geräusche. Spielte seine Uhr verrückt? War sie defekt? Er holte seine Armbanduhr, die noch auf dem Nachtschränkchen lag. 18 Minuten nach sieben zeigte die Uhr. War er zu früh aufgestanden? Hatte sein Wecker ihm einen Streich gespielt? Seit er Pensionär war, hatte er mehr und mehr das Zeitgefühl verloren. Das war ihm nun schon mehrmals aufgefallen. So etwas wäre ihm doch früher niemals passiert, dass er unsicher war, ob die Uhrzeit stimmte.

Ihm blieb unklar,

wo der Fehler steckte. Die Analyse komplexer naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, der systematische Ausschluss von Fehlerquellen, all das war früher sein tägliches Brot gewesen. Und wie gern hatte er als Physiker am Max Planck-Institut gearbeitet. Es war eine wirklich spannende Zeit gewesen. Immer wieder gebar die moderne Quantenphysik neue Theorien und Modelle über die Entstehung des Universums, über den Zustand von Raum und Zeit. Aber das war nun lange her. Jetzt hatte er nur noch eine kleine Bibliothek, die ihn mit seiner Vergangenheit verband, mit den großen Ideen, die er in die Wissenschaft eingebracht hatte, und mit dem Ruhm, den er sich damals in den Fachkreisen erworben hatte.

Hatte sich die Richtung der Zeit gedreht? Aber wie konnte das sein?

Wo war eigentlich Ilse? Franz Drehlich verstand nicht, warum sich seine Frau schon wieder davon geschlichen hatte. Wahrscheinlich war sie in der Küche und bereitete schon das Mittagessen vor. Sie hätte es ihm aber auch sagen können. Immer wieder machte sich Ilse davon, ohne etwas zu sagen. Vor allem aber hätte er sie jetzt gern nach der korrekten Uhrzeit gefragt.

Ilse hatte seine wissenschaftlichen Leistungen

nie richtig verstanden. Für Physik und Mathematik hatte sie sich nie erwärmen können. Sie hatte andere Begabungen, solche, die ihm selbst ein Leben lang fremd geblieben waren. Sprachen und Literatur, das war Ilses Metier. Sie beherrschte nicht nur Englisch und Französisch wie ihre Muttersprache, sondern war auch jederzeit in der Lage, Konversationen auf Italienisch, Spanisch oder Holländisch zu führen. Drehlich hatte seine Frau immer darum beneidet. Und wie oft war ihre Sprachbegabung auch einfach sehr hilfreich gewesen – mit Ilse konnte man Urlaub machen, wo man wollte. Verständigungsprobleme gab es so gut wie nie.

Er hatte sich damals Hals über Kopf in sie verliebt, als sie sich kurz auf dem Universitätsfest unterhalten hatten. Aber niemals hätte er erwartet, dass sie seine Liebe erwidern könnte. Sie war doch so völlig anders als er selbst – lebenslustig, kontaktfreudig, immer offen, neue Menschen und neue Länder kennenzulernen. Aber vielleicht war es ja wirklich so, wie immer wieder gesagt wurde, dass sich Gegensätze anziehen. War es in der Physik nicht auch so? Die unterschiedlichen elektrischen Ladungen hielten die Atome zusammen.

Ilse könnte ihm jetzt bestimmt helfen. Aber sie war nicht im Zimmer. Wo sie nur blieb? Drehlich schaltete das Radio ein. Über diesen Weg musste die Uhrzeit auf jeden Fall heraus zu bekommen sein. Wie gewohnt, drückte er auf die Taste mit der Ziffer 4. Der Radiosender mit seinem ganztägigen Volksmusikprogramm war inzwischen sein Lieblingssender geworden. Früher hatte er mit Volksmusik nichts anfangen können. Sein Musikinteresse galt Klassik und Jazz. Aber mehr und mehr hatte er Gefallen an den alten, vertrauten Melodien gefunden, die ihm Ohrwürmern gleich gar nicht mehr aus dem Kopf wollten.

Nur war ihm das,

was er heute im Radio zu hören bekam, ganz und gar nicht vertraut. Es erklang nur ein seltsames Schwurbeln. Er konnte absolut nichts verstehen. Es klang alles merkwürdig verzerrt, und auch die Musik erschien ihm unbekannt und seltsam. Franz Drehlich wurde das Ganze unheimlich. Er ging zum Fernsehgerät und schaltete das Morgenmagazin ein. Auch hier gab es nur dieses unverständliche Schwurbeln. Und da, jetzt bemerkte er es ganz deutlich – tatsächlich, es war ja gar nicht zu übersehen: Die Moderatoren bewegten sich rückwärts. Was passierte da? Lief mit einem Mal alles um ihn herum rückwärts? Hatte sich die Richtung der Zeit gedreht? Aber wie konnte das sein? Dann müsste doch auch er selbst davon betroffen sein, aber er selbst bewegte sich eindeutig vorwärts – da gab es keinen Zweifel.

Buchcover Kurzgeschichten von Herbert Reichelt

Lesetipp

Herbert Reichelt: So bunt wie das Leben. Acht kurze Krimis und zehn weitere Kurzgeschichten. Kid-Verlag. Book on Demand. ISBN: 978-3-929386-94-3. Preis: 10,80 Euro

Franz Drehlich versuchte sich zu erinnern. Ganz gebannt hatte er als junger Student die Paradoxien der allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie aufgesogen. Die Relativität der Gleichzeitigkeit war ihm noch immer ein Begriff. Aber eine Richtungsumkehrung der Zeit? Und dann auch noch eine partielle, eine, von der er selbst ausgenommen war? Das konnte es doch gar nicht geben. Oder war am Ende alles völlig anders, als sie sich das mit ihren Modellen hatten erklären wollen?

Er war noch ganz in den Gedanken

um die Relativität der Zeit gefangen, als er die Tür aufgehen sah, und dann jemand rückwärts in das Zimmer kam und auf ihn zu ging. Und wieder erklang dieses merkwürdige verzerrte Schwurbeln, das er nicht zu identifizieren vermochte. Vielleicht wird es notwendig sein, die rückwärts laufende Sprache zu erlernen, dachte er. So wie man eine Fremdsprache erlernen muss, wenn man sich in einem fremden Land verständigen will.

Er begann langsam, sich auszumalen, was da alles auf ihn zukam, wenn er in dieser merkwürdigen neuen Welt überleben wollte. Alles würde sich ändern. Nichts bliebe ihm so vertraut, wie es immer gewesen war. Drehlich fürchtete sich vor dieser neuen Welt, die da auf ihn zuzukommen schien. Wo steckte Ilse nur? Sie könnte ihm jetzt Halt geben. Ilse wüsste bestimmt, wie man mit dieser völlig neuen Situation umzugehen hatte. Aber Ilse kam einfach nicht aus der Küche zurück…

„Melanie, hast Du schon beim Drehlich reingeschaut?”, 

wollte Oberschwester Gertrud wissen. „Ja, alles wie immer bei Drehlich”, kam zur Antwort. „Erst hat er wieder diesen alten Schmöker aus dem Regal geholt, den er eigentlich schon von vorne bis hinten auswendig kennen müsste, dann hat er das Radio eingeschaltet, verwirrt dreingeblickt und ist dann zum Fernseher gelaufen. Aber auch die Bilder hat er nur mit offenem Mund angestaunt. Wenn man ihn anspricht, schaut er nur überrascht auf, reagiert aber gar nicht weiter. Jeden Morgen das Gleiche. Da ändert sich wohl auch nichts mehr.” „Ja, ja, der arme alte Drehlich”, seufzte Oberschwester Gertrud. „Ich möchte nur zu gern wissen, was in dessen Kopf noch so vor sich geht.”

Herbert Reichelt ist Autor und früherer Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes.
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