Essay

Mehr Power für die Pflege

Dem Pflegeberuf fehlt es hierzulande an gesellschaftlicher Anerkennung und politischem Einfluss, meint Professor Dr. Andreas Büscher. Der Pflegewissenschaftler beschreibt, wie die Profession an Macht und Ausstrahlung gewinnen kann – damit sich mehr Menschen für eine Ausbildung in der Branche entscheiden.

Die Pflege sieht sich selbst am Boden, eine Pflegereform jagt die nächste, und Krankenhäuser haben bereits oder müssen bald Betten sperren, weil ihnen Fachkräfte fehlen – es steht offensichtlich nicht gut um die Pflege in Deutschland. Dabei scheint es ganz einfach zu sein: Kaum gelingt es einem engagierten und schlagfertigen Pflege-Auszubildenden in einer TV-Sendung die Bundeskanzlerin herauszufordern, wird er vom Fernsehen zu einem der „Menschen des Jahres 2017“ gekürt und durch die Talkshows gereicht, um die Botschaft zu verkünden, dass zu wenig für seine Profession getan wird. Der Erfolg sei dem jungen Mann herzlich gegönnt, und es bleibt zu hoffen, dass er weiter die Gelegenheit bekommt, öffentlich die Probleme in der Pflege anzusprechen. Tatsächlich ist das Ganze jedoch eher ein Symptom dafür, wie in Deutschland seit Jahrzehnten die Diskussion über die Pflege geführt wird: Der großen Aufregung folgt ein noch größeres Schweigen. Sehenden Auges steuern wir seit etwa 20 Jahren auf eine dramatischer werdende Situation zu, von der wir mit einer erstaunlichen Gelassenheit glauben, dass sie schon irgendwie vorüberziehen wird. Der folgende Beitrag versucht, einigen Fragen auf den Grund zu gehen und eine Perspektive für die Zukunft aufzuzeigen.

Der Bedarf steigt.

Werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie sich der Bedarf an Pflege in Deutschland entwickelt hat. Die alle zwei Jahre erscheinende Pflegestatistik im Rahmen der Pflegeversicherung verdeutlicht einen kontinuierlichen Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Menschen von 2,04 Millionen 2001 auf 2,9 Millionen im Jahr 2015. Die Pflegequote, also der Anteil der als pflegebedürftig eingestuften Bevölkerung, ist von 2,5 Prozent im Jahr 2003 auf 3,5 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Zudem hat der Gesetzgeber Anfang 2017 einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt, nach dem nun auch Menschen mit kognitiven und anderen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit als pflegebedürftig gelten, die vorher keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten haben.

Pflege findet jedoch nicht nur im Bereich der Pflegeversicherung statt. Auch im Krankenhaus bedürfen Menschen der Pflege. Es ist vermutlich nicht falsch zu sagen, dass Menschen überhaupt nur im Krankenhaus aufgenommen werden, wenn sie neben der ärztlichen Behandlung einer weiteren Unterstützung bedürfen, die vielfach durch Pflegende erbracht wird. Andernfalls würden sie ambulant behandelt werden.

In den letzten Jahren lässt sich in den Krankenhäusern ein Anstieg der Behandlungsfälle bei gleichzeitig sinkender Verweildauer beobachten. In der Praxis führt dies zu einer deutlichen Erhöhung der Versorgungsintensität. Daraufhin haben die Krankenhäuser den Anteil der Ärzte erhöht und Stellen in der Pflege abgebaut. Angesichts der demografischen Entwicklung und der seit Jahren zu beobachtenden Zunahme der Zahl chronisch kranker Menschen gibt es nur wenig Grund zu der Annahme, dass sich der Trend zu einer höheren Versorgungsintensität kurzfristig ändern wird. Ob sich die erhöhte Intensität in der stationären Behandlung vor allem durch die Einsparung beim Pflegepersonal bewältigen lässt, darf in hohem Maße bezweifelt werden. Dennoch haben die Verantwortlichen in der Politik, bei den Krankenkassen und in den Krankenhäusern diese Botschaft in den letzten Jahren konsequent ausgesandt.

Portrait Andreas Büscher

Zur Person

Professor Dr. Andreas Büscher, Jahrgang 1967, Krankenpfleger und Pflegewissenschaftler, ist Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege und Professor für Pflegewissenschaft an der Hochschule Osnabrück. Zudem lehrt er als Gastprofessor am Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke. Büscher promovierte am Department of Nursing Science der University of Tampere in Finnland.

Der Arbeitsmarkt ist leergefegt.

In allen Bereichen des Gesundheitswesens werden Pflegeprofis händeringend gesucht. Wie viele Pflegekräfte benötigt werden, lässt sich kaum seriös beziffern. Jedoch liegt die Zahl wohl deutlich über den 13.000 Stellen für die medizinische Behandlungspflege in Heimen, die der Entwurf für ein Pflegepersonal-Stärkungsgesetz vorsieht. Ambulante Pflegedienste und Krankenhäuser bleiben dabei unberücksichtigt, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass auch sie einen hohen Bedarf an Pflegekräften haben.

Doch wie lassen sich diese Kräfte gewinnen? Diskutiert wird über die Anhebung der Bezahlung, über Personal-Untergrenzen im Krankenhaus und die Entwicklung eines Systems zur Personalbemessung in Pflegeheimen. Angesichts solcher Überlegungen zucken viele Einrichtungsleiter und Pflegende nur resigniert mit den Achseln, weil der beste Personalschlüssel nichts bringt, wenn der Arbeitsmarkt leergefegt ist.

Wenig Einfluss auf die Politik.

Angesichts des bestehenden Bedarfs an pflegerischer Unterstützung und der zunehmend hilflosen Suche nach Personal könnte man davon ausgehen, dass Pflegekräfte mit einem hohen Selbstbewusstsein auftreten und die Gunst der Stunde zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen nutzen. In Deutschland haben zudem viele Menschen eine Ausbildung in der Pflege erfolgreich absolviert, sodass es auch an der zur Durchsetzung politischer Ziele notwendigen Masse nicht scheitern dürfte. Dennoch ist eine entsprechende Bewegung nicht zu erkennen. Wie kann das sein? Liegt es daran, dass die Pflege ein Frauenberuf ist und Frauen die Misere eher stillschweigend ertragen als sich zur Wehr zu setzen? Oder haben viele Pflegekräfte nicht gelernt, sich für ihre Interessen einzusetzen, weil sie in erster Linie Menschen helfen wollen statt sich politisch zu engagieren?

Für diese Annahme gibt es Gründe. Der Organisationsgrad ist in der Pflege nicht hoch – weder in den Gewerkschaften noch in den Berufsverbänden. Viele setzen daher auf die Gründung von Pflegekammern mit einer verpflichtenden Mitgliedschaft, um eine schlagkräftige Interessensvertretung aufzubauen. Nach Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen haben weitere Bundesländer beispielsweise mit Fördervereinen die Weichen für die Errichtung von Pflegekammern gestellt. Ob diese den hohen Erwartungen gerecht werden, wird sich zeigen müssen. Andere Initiativen, wie der Zusammenschluss „Pflege in Bewegung“ (siehe Web- und Lesetipps), setzen auf Netzwerkbildung. Wieder andere, wie die Bewegung „Pflege am Boden“, rufen dazu auf, dass sich Pflegende als Zeichen des Protests im öffentlichen Raum auf den Boden setzen oder legen, um damit den Forderungen nach einer Verbesserung der Situation in der Pflege Ausdruck zu verleihen.

Im Zweifelsfall stehen die unterschiedlichen Bewegungen bei der Durchsetzung ihrer Ziele nicht zusammen, sondern gegeneinander – ein bereits seit langem bestehendes Problem. Nicht nur die Untergliederung in Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sowie Altenpflege trägt dazu bei, dass gemeinsame Positionierungen schwerfallen. Insgesamt ließe sich der pflegerischen Berufsgruppe vorwerfen, dass sie ihre Möglichkeiten zur politischen Meinungs- und Willensbildung weitgehend ungenutzt lässt.

Im Juli 2018 initiierten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Konzertierte Aktion Pflege. Ziel ist, den Arbeitsalltag und die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften spürbar zu verbessern, die Pflegekräfte zu entlasten und die Ausbildung in der Pflege zu stärken.

 

„Wir wollen Pflegekräfte ermuntern, in den Job zurückzukehren oder wieder Vollzeit darin zu arbeiten“, sagte Jens Spahn zum Start der Aktion. Franziska Giffey ergänzte: „Die Pflegekräfte leisten viel, sie haben höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und Entlastung im Alltag mehr als verdient.“ Hubertus Heil bekräftigte: „Wir wollen mit unserer Konzertierten Aktion den Pflegenden und den Pflegebedürftigen endlich die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die ihnen zusteht. Dazu ist es nötig, in dem Bereich mehr Tarifbindung zu schaffen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.“

 

Die Konzertierte Aktion Pflege bezieht Pflegeberufs- und Pflegeberufsausbildungsverbände, Verbände der Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, die Kirchen, Pflege- und Krankenkassen, Betroffenenverbände, die Berufsgenossenschaft, die Bundesagentur für Arbeit sowie die Sozialpartner mit ein. „Uns alle eint das Ziel, die Arbeitssituation der Pflege deutlich zu verbessern und der Arbeitsverdichtung entgegenzuwirken“, so Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes.

 

Die Beteiligten sollen gemeinsam mit Bund und Ländern binnen eines Jahres konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der beruflich Pflegenden entwickeln und deren Umsetzung verbindlich festhalten. Dazu setzt die Konzertierte Aktion Pflege fünf Arbeitsgruppen ein: 1. Ausbildung und Qualifizierung, 2. Personalmanagement, Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung, 3. Innovative Versorgungsansätze und Digitalisierung, 4. Pflegekräfte aus dem Ausland, 5. Entlohnungsbedingungen in der Pflege. Koordiniert wird die Aktion vom Bundesgesundheitsministerium, das eine Geschäftsstelle einrichtet.

 

 Quelle: Bundesgesundheitsministerium

Die Akademikerquote bleibt unter dem Ziel.

Könnte dies an der nach wie vor unzureichenden Akademisierung des Pflegeberufs liegen? Als der Autor dieses Beitrags im Jahr 1996 ein Studiensemester in Finnland verbrachte, hatten Stationsleiterinnen und -leiter der Universitätsklinik in Kuopio üblicherweise einen Masterabschluss. Auch viele andere Länder haben die akademische Qualifikation in der Pflege deutlich ausgebaut und sich die dadurch entstandene Expertise für unterschiedliche Bereiche der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung zunutze gemacht. Im Gegensatz dazu gibt es in Deutschland im Jahr 2018 in mehreren Bundesländern nicht einen einzigen Masterstudienplatz mit einer pflegewissenschaftlichen oder pflegefachlichen Ausrichtung. Selbst für die vom Wissenschaftsrat für angemessen erachtete Quote von zehn bis 20 Prozent akademisch Qualifizierter in der Pflege reichen die Kapazitäten nicht aus.

Der Profession fehlt die Anerkennung.

Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt: Pflegende in Deutschland klagen häufig über mangelnde Anerkennung. Anerkennung kann in Form einer entsprechenden Entlohnung, aber auch in Form von Wertschätzung des Einsatzes und der Kompetenz erfolgen. An der Hochschule Osnabrück haben Studierende in der Pflege die Gelegenheit, in einem dreimonatigen Praxisprojekt Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Etwa die Hälfte macht von dieser Möglichkeit Gebrauch und absolviert Praxisprojekte in Ländern wie Schweden, Finnland, Dänemark, Wales, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, Portugal, Zypern oder Brasilien. Die Studierenden haben den Eindruck, dass die Pflege – bei aller Unterschiedlichkeit der Systeme – in diesen Ländern besser angesehen ist und eine höhere Wertschätzung genießt als in Deutschland. Diese subjektiven Eindrücke verdeutlichen eines der Kernprobleme: Es gelingt im deutschen Pflege- und Gesundheitssystem offensichtlich nicht, der größten Berufsgruppe ausreichende Wertschätzung entgegen zu bringen. Wer sich in seinen Bemühungen dauerhaft nicht anerkannt fühlt, wird irgendwann desillusioniert und demotiviert sein.

Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Bei einer genaueren Betrachtung fällt jedoch auf, dass es offenbar Unterschiede zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung gibt. In der Selbstwahrnehmung halten viele Pflegende das Image ihres Berufes für schlecht. Andererseits zeigt sich in Umfragen der Gesellschaft für Konsumforschung, dass die Bevölkerung die Gesundheits- und Krankenpflege für eine der vertrauenswürdigsten Berufsgruppen hält. Ob diese Menschen ihren Kindern und Enkeln empfehlen würden, ihre berufliche Perspektive in der Pflege zu suchen, beantworten die Umfragen nicht. Aber die Differenzen in der Wahrnehmung sind auffällig und für die Zukunft nicht unerheblich. Wenn die Profession selbst ihr Image als schlecht ansieht, wird es vermutlich schwer werden, potenziellen neuen Auszubildenden die positiven Seiten verdeutlichen zu können.

In der Pflege sollten von der Hilfskraft bis zur promovierten Wissenschaftlerin alle ihren wichtigen Beitrag leisten können.

Der Gesetzgeber sieht eigenständiges Handeln nicht vor.

Eine Ursache für die von der Berufsgruppe wahrgenommene unzureichende Wertschätzung könnte in den gesetzlichen Rahmenbedingungen liegen. Sie beruhen in großen Teilen auf einem recht anachronistischen Pflegeverständnis. Im Sozialgesetzbuch (SGB) V ist jegliches Pflegehandeln nur vor dem Hintergrund des ärztlichen Behandlungsvorbehalts zu betrachten – ein eigenständiges Pflegehandeln sieht der Gesetzgeber hier nicht vor. Das zeigen die sehr komplexen Regelungen der Heilkundeübertragungsrichtlinie nach Paragraf 63 Absatz 3c SGB V. Sie legen die Bedingungen für die Delegation heilkundlicher Aufgaben an Pflegekräfte fest.

Die dort beschriebenen Aufgaben werden in der Praxis bereits oftmals von Pflegenden übernommen, ohne dass es einer entsprechenden Regelung bedurft hätte. Ein Problem würde vielmehr dann entstehen, wenn sie vor der Übernahme von ursprünglich ärztlichen Tätigkeiten wie beispielsweise die Anlage und der Wechsel von Magensonden, die Versorgung chronischer Wunden oder die Umsetzung eines Therapieplans bei Demenz eine offizielle Aufgabenübertragung benötigten. Versorgungsengpässe größeren Ausmaßes wären die Folge.

Kompetenzen bleiben ungenutzt.

Ein zweites Problem liegt darin, dass der Gesetzgeber das Zusammenspiel von Medizin und Pflege nur unter den Bedingungen von Delegation und/oder Substitution betrachtet. Die Möglichkeit der Kooperation scheint für ihn nicht zu existieren. Für den Bereich der gesundheitlichen Primärversorgung im ländlichen Raum zeigt sich bereits jetzt, dass damit Chancen ungenutzt bleiben. Der angesichts ähnlicher Probleme in anderen Ländern eingeschlagene Weg einer stärkeren Verantwortungsübertragung auf die Pflege und sinnvoller Kooperationsmodelle zwischen Hausärzten und ambulanten Pflegediensten wird hierzulande nicht einmal diskutiert.

Die derart beschränkte Sicht des Pflegehandelns zeigt sich auch in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege. Sie nennt eine Vielzahl von Maßnahmen, die Ärzte zunächst verordnen müssen, damit ambulante Pflegedienste sie erbringen können. Den Pflegekräften wird dabei keinerlei eigenständiges Urteilsvermögen zugetraut. Sämtliche Entscheidungen über Notwendigkeit, Dauer, Häufigkeit und Zweckmäßigkeit der Maßnahmen verbleiben in ärztlicher Hand. Die Aufgabe der Pflege besteht in der korrekten Ausführung und der Meldung von Auffälligkeiten. Das SGB V schreibt den Pflegekräften kaum eigene Verantwortungsbereiche zu. Umfangreiche Erfahrungen und fundierte Kompetenzen der Berufsgruppe bleiben so schlichtweg ungenutzt.

Veraltete Grundlagen prägen das Berufsbild.

Nun liegt die Vermutung nahe, dass es im SGB XI – der gesetzlichen Grundlage der Pflegeversicherung – um die Wertschätzung der pflegerischen Kompetenz besser bestellt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Im SGB XI hat der bis Ende 2016 gültige Begriff der Pflegebedürftigkeit, der auf die Hilfe bei Alltagsverrichtungen ausgerichtet war, das gesellschaftliche und sozialpolitische Verständnis auch von professioneller Pflege entscheidend geprägt und beeinflusst. Pflege wird als Hilfestellung bei klar definierten, kleinteiligen Alltagsverrichtungen angesehen.

In den Rahmenvereinbarungen der Leistungserbringung, insbesondere in der ambulanten Pflege, wird diese Sichtweise zur Grundlage der Finanzierung von Pflegeleistungen und reduziert das Leistungsspektrum der professionellen Pflege auf Alltagsverrichtungen in den Bereichen Mobilität, Ernährung und Körperpflege. Dadurch entsteht ein kaum überbrückbarer Gegensatz zwischen den Bedarfslagen kranker und pflegebedürftiger Menschen, die deutlich über die Unterstützung bei Alltagsverrichtungen hinausgehen, und dem refinanzierten pflegerischen Versorgungsangebot. Es ist bislang nicht gelungen, den Angehörigen der Pflegeberufe so viel Eigenständigkeit zuzugestehen, wie sie durch den erfolgreichen Abschluss ihrer Berufsausbildung haben könnten.

Forderung nach einem Masterplan ist sinnvoll.

Wie kann es angesichts dieser nicht sehr optimistischen Bestandsaufnahme mit der Pflege weitergehen? Politisch bedarf es einer kontinuierlichen Bearbeitung des Themas Pflege. Sporadische Initiativen wie einmalige Stellenförderprogramme sind bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie werden wirkungslos bleiben, wenn es nicht gelingt, an mittel- und langfristigen Lösungen zur Bewältigung des Pflegebedarfs in Deutschland zu arbeiten. Dazu gehört ausdrücklich nicht nur die Berücksichtigung der Pflegeberufe, sondern ebenso die Unterstützung und Flankierung der umfangreichen Leistungen pflegender Familienangehöriger und die Entwicklung von Versorgungskonzepten unter Einbeziehung weiterer Akteure und technischer Unterstützungsmöglichkeiten. Die Forderung nach einem Masterplan Pflege ist vor diesem Hintergrund sehr sinnvoll.

Angesichts des zu erwartenden weiteren Anstiegs der Zahl pflegebedürftiger Menschen braucht die Pflegepolitik zudem mehr Institutionalisierung, um sicherzustellen, dass Weiterentwicklungen nicht allein von Einwürfen in Fernsehsendungen oder dem Engagement einzelner Entscheidungsträger abhängig sind. Die Pflegepolitik muss die bestehende Fragmentierung in eine SGB V- und eine SGB XI-Pflege (Kranken- und Pflegeversicherung) überwinden.

Streiten lernen.

Nicht zuletzt wird sich die Berufsgruppe der Pflegenden selbst in verschiedener Hinsicht weiter professionalisieren müssen. Dazu gehört das Erlernen einer Streitkultur ebenso wie die klare Formulierung von Interessen und die Bereitschaft, diese durchzusetzen. Dies erfordert langen Atem und die Entwicklung kurz-, mittel- und langfristiger Strategien. Ein beleidigtes Warten auf Anerkennung hilft nicht.

Die Pflegenden müssen zudem begreifen, dass die Bewältigung der Pflegebedürftigkeit nicht allein ein berufspolitisches, sondern ein gesellschaftliches und sozialpolitisches Thema ist, zu dessen Lösung auch andere einen wichtigen Beitrag zu leisten vermögen. Für eine gute pflegerische Versorgung ist außerdem eine Ausdifferenzierung des Berufes unabdinglich. In der Profession sollten von der Hilfskraft bis zur promovierten Pflegewissenschaftlerin alle einen Platz finden und einen wichtigen Beitrag leisten können. Die Politik wird entscheiden müssen, ob sie weiterhin die umfangreichen Kompetenzen der Pflegenden fahrlässig ignorieren will. Die Wertschätzung bleibt ein Lippenbekenntnis, wenn sie weiterhin damit einhergeht, dass der Gesetzgeber dem Pflegehandeln keinen eigenen Raum zugesteht.

Konstruktive Debatte beginnen.

Nur wenige Menschen setzen sich gerne mit Fragen der Pflege auseinander. Das ändert sich schlagartig, wenn sie selbst oder nahestehende Menschen pflegebedürftig werden. Doch die Zahl derjenigen, die persönlich betroffen sind, wächst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten – auch unter Entscheidungsträgern. Daher besteht Hoffnung, dass die Diskussion über die Zukunft der Pflege nicht mehr zwischen Aufregung und Schweigen schwankt, sondern eine konstruktive Debatte beginnt, die zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung führt.

Andreas Büscher ist Professor für Pflegewissenschaft an der Hochschule Osnabrück und Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege.
Oliver Weiss ist Illustrator und lebt in Berlin und New York.
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