Eine Depression belastet auch Angehörige: Der Familiencoach zeigt Auswege.
Online-Training

Beistand im Umgang mit Depressionen

Wie reagieren, wenn ein Angehöriger in Schwermut versinkt oder sogar einen Selbstmord ankündigt? Hilfestellung bietet der neue „Familiencoach Depression“ der AOK niedrigschwellig über das Internet. Von Peter Willenborg

Michael lebt mit seiner

depressiv erkrankten Mutter Roswitha unter einem Dach. Wenn er nach der Arbeit nach ihr sieht, findet sie oft kaum heraus aus ihren negativen Gedanken: „Ich krieg’ überhaupt nichts mehr auf die Reihe – ich war noch nicht mal mit dem Hund draußen.“

Michael versucht dagegen zu halten. Er will seine Mutter mit Argumenten überzeugen – ohne Erfolg. Roswitha hört nicht auf zu jammern. Das Gespräch endet im Streit.

Szenen wie diese erleben viele Menschen: In einer Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gaben 37 Prozent der Deutschen an, als Angehöriger oder Bekannter Kontakt mit einem depressiv erkrankten Menschen zu haben. „Der Umgang mit einem depressiv erkrankten nahestehenden Menschen kann mit großen Sorgen verbunden sein und die Angehörigen mitunter an ihre Belastungsgrenzen bringen“, sagt Professorin Elisabeth Schramm vom Universitätsklinikum Freiburg. Die Expertin für Depressionsbehandlung und Angehörigenarbeit hat in Zusammenarbeit mit der AOK den neuen „Familiencoach Depression“ entwickelt, um Auswege zu zeigen.

Umgang mit den Symptomen lernen.

Ziel des kürzlich unter der Internet-Adresse www.familiencoach-depression.de gestarteten Online-Programms ist es, dass Angehörige besser mit häufigen Symptomen wie Freudlosigkeit oder Antriebslosigkeit umgehen können. „Es geht darum, sich selbst und den Erkrankten in dieser schwierigen Situation zu entlasten“, erläutert Elisabeth Schramm. Wie das gelingen kann, zeigen unter anderem 14 Filme, die Probleme und mögliche Lösungswege darstellen.

Im Fall von Michael und Roswitha gibt es ganz konkrete Ratschläge: Der Online-Coach erläutert, warum es nichts bringt, dass Michael mit seiner Mutter diskutiert. Stattdessen lauten die Tipps für ihn: „Zeigen Sie Mitgefühl. Benennen Sie die negativen Gedanken als Stimme der Depression. Unterbrechen Sie das Jammern.“ In vier Trainingsbereichen vermittelt der Familiencoach, wie sich die Beziehung zum Angehörigen stärken lässt und was den Erkrankten unterstützt. „Das Programm basiert auf den Inhalten von Psychoedukationskursen, die die Belastung der Angehörigen nachweislich senken können“, so Schramm.

Auch der Umgang mit Krisensituationen ist Thema im Familiencoach. Laut Stiftung Depressionshilfe starben 2015 mehr Menschen durch Suizid (10.080) als durch Drogen (1.226), Verkehrsunfälle (3.578) und HIV (371) zusammen. Wie soll ich reagieren, wenn ich bei einem Angehörigen oder Freund Suizid-Gedanken vermute? In einem Video nimmt Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Stellung: „Häufig wird nicht über Suizidgedanken gesprochen“, so Hegerl. Das sei falsch: „Man muss es ansprechen, denn diese Gedanken sind bei der Mehrzahl der Menschen mit Depressionen ohnehin vorhanden.“ Wenn die Betroffenen ihre Gedanken mit den Angehörigen teilen könnten, sei dies oft ein erster Schritt zur Hilfe.

Wissen über die Erkrankung vermitteln.

Neben dem richtigen Umgang mit Symptomen und Krisen vermittelt der Familiencoach den Angehörigen auch Wissen über die Erkrankung Depression.

Wie wichtig das ist, zeigen aktuelle Ergebnisse aus dem repräsentativen „Deutschland-Barometer Depression“ der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutsche Bahn Stiftung über Ansichten und Einstellungen der Bevölkerung zur Depression: „Jeder dritte Angehörige glaubt fälschlicherweise, dass Depression ein Resultat von Charakterschwäche sei, während es bei den Betroffenen 22 Prozent der Befragten sind“, berichtet Ulrich Hegerl. 85 Prozent der Angehörigen seien der Meinung, dass Medikamente gegen Depressionen (Antidepressiva) süchtig machten – im Vergleich zu 60 Prozent der Betroffenen. „Diese Vorurteile und Wissensdefizite können dazu führen, dass Angehörige die Betroffenen nicht optimal unterstützen“, sagt Hegerl. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe begrüße das neue AOK-Angebot und habe die Konzeption im Projektbeirat begleitet.

Die Angehörigen schützen.

Depressionen werden oft als „Volkskrankheit“ bezeichnet. Nicht zu Unrecht: Sie gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere oft unterschätzten Erkrankungen. Im Laufe eines Jahres sind 8,2 Prozent der deutschen Bevölkerung von der Erkrankung betroffen.

Mit dem neuen Online-Coach will die AOK auch dazu beitragen, dass Angehörige von Menschen mit Depressionen nicht selbst erkranken: Durch die hohen psychosozialen Belastungen könne die Lebensqualität, aber auch der Gesundheitszustand der Angehörigen beeinträchtigt werden, erläutert Dr. Christiane Roick, stellvertretende Leiterin des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband. Mit dem Online-Coach solle zudem eine Lücke geschlossen werden: „Während Psychoedukationskurse für Patienten bereits zum Standardrepertoire der Versorgung gehören, sind entsprechende Kurse für die Angehörigen noch deutlich seltener“, so Roick.

Furcht vor Stigmatisierung.

Nur gut ein Drittel der psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken in Deutschland halte solche nachweislich wirksamen Angebote vor, und nur ein Fünftel der in Frage kommenden Angehörigen nutze sie. „Gründe für die geringe Inanspruchnahme sind unter anderem die Kurszeiten, die berufstätigen Angehörigen eine Teilnahme erschweren“, erläutert AOK-Expertin Roick. Aber auch die Furcht vor Stigmatisierung spiele eine Rolle.

Zugang ist kostenlos und anonym.

Diese Hürden sollen mit dem Familiencoach überwunden werden. Er erlaubt einen zeitlich und örtlich flexiblen Zugang zu den Informationen. Die Nutzung ist kostenlos und anonym möglich – für alle Interessierten. AOK-Versicherten steht in Kürze ein exklusives Zusatzangebot zur Verfügung: Sie können an Videochats teilnehmen, in denen Elisabeth Schramm als Entwicklerin des Familiencoachs alle zwei Monate Fragen zur Umsetzung der Empfehlungen beantwortet. Aufgrund seiner innovativen Inhalte könne der Familiencoach eine sinnvolle Ergänzung für psychoedukative Präsenzkurse an Kliniken oder in der Beratung von Angehörigen sein, sagt Elisabeth Schramm.

Das Angebot ermögliche allerdings nicht den Austausch mit anderen betroffenen Angehörigen. „Hierbei helfen zum Beispiel regionale Selbsthilfegruppen des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen.“

Weitere Online-Programme im Angebot.

Wie der Familiencoach wirkt, will die AOK im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation untersuchen. Diesen Wirksamkeitsnachweis hat ein Online-Selbsthilfeangebot der AOK für die Betroffenen selbst bereits erbracht: Das Programm www.moodgym.de basiert auf Erkenntnissen der kognitiven Verhaltenstherapie und hilft bei der Vorbeugung und Linderung von depressiven Symptomen. Das Programm wurde von australischen Wissenschaftlern entwickelt. Mehrere internationale Studien belegen den Erfolg – zuletzt eine randomisierte und kontrollierte Studie der Universität Leipzig auch für den Einsatz in deutschen Hausarztpraxen.

Außerdem bietet die AOK seit 2016 den „ADHS-Elterntrainer“ an. Er hilft Müttern und Vätern von Kindern mit hyperaktivem oder impulsivem Verhalten bei der Bewältigung von typischen Erziehungsproblemen und vermittelt einfache, auf verhaltenstherapeutischen Erkenntnissen basierende Methoden.

Peter Willenborg ist Pressereferent im AOK-Bundesverband.
Bildnachweis: AOK-Bundesverband