Interview

„Das Zauberwort heißt Kooperation“

Sachsen-Anhalts Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne hat sich viel vorgenommen: Die Sozialdemokratin will die Krankenhauslandschaft umbauen und setzt dabei auf den Konsens mit Kliniken und Kassen.

Frau Ministerin Grimm-Benne, auf einer Radtour habe ich die Altmark kennengelernt – viel Landschaft, wenig Menschen, etwas für Naturliebhaber. Was verbindet Sie mit Sachsen-Anhalt?

Petra Grimm-Benne: Ich habe 1991 als Rechtsamtsleiterin in Schönebeck angefangen. Diese Jahre nach der Wende waren für mich prägend und bindend. Es war alles vom Willen getragen, etwas aufzubauen und zwar sofort. Das fehlt mir jetzt manchmal.

In einem Dorf nahe Stendal habe ich einen Zettel gesehen, dass ein Arzt einmal monatlich Sprechstunde hat. Was bringt so ein Angebot für die gesundheitliche Versorgung auf dem Land?

Grimm-Benne: Sachsen-Anhalt hat nicht nur eine schwindende, sondern auch eine der ältesten Bevölkerungen. Die Dörfer merken jetzt, dass sie ein Angebot der ärztlichen Versorgung machen müssen – für junge Familien wie für ältere Menschen. Das ist auch der Grund, warum ich im Konsens mit der Krankenhausgesellschaft und den Kassen die Krankenhäuser der Grundversorgung nach Möglichkeit erhalten will. Wo die ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte nicht mehr ausreicht, müssen wir in Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern Zentren vorhalten, in denen Allgemeinmediziner und Fachärzte praktizieren. Wir wandeln deshalb Krankenhäuser der Grundversorgung nach und nach in regionale Versorgungszentren um. Das soll sektorenübergreifend laufen. Fachärzte mit eigener Praxis können die Klinik für kleinere Operationen nutzen. Das Zauberwort heißt Kooperation.

Ist das dann so etwas Ähnliches wie ein MVZ, ein Medizinisches Versorgungszentrum?

Grimm-Benne: Ja, nur dass eben auch stationäre Elemente dazugehören. In Seehausen in der Altmark ist das schon realisiert. Dort bieten zwei Mediziner ambulante Sprechstunden an. Zudem gibt es eine Tagespflege und Physiotherapie, aber auch den ganz normalen Krankenhausbetrieb. Wir müssen auf Bundesebene darüber diskutieren, wie das gesetzlich zu verankern ist, damit die Häuser für ihre Arbeit in der Grundversorgung auch angemessen vergütet werden. Das wollen wir mit unserem neuen Krankenhausgesetz koordinieren. Ich bin Mitglied der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Sektorenübergreifende Versorgung. Wir reden gerade darüber, wie sich die unterschiedlichen Vergütungssysteme angleichen lassen, damit wir die medizinische Grundversorgung – zum Beispiel in Stendal – aufrechterhalten können.

Also gute Perspektiven für die Krankenhäuser in der Fläche?

Grimm-Benne: Ja. Wir machen uns mehr Sorgen um die Häuser in den größeren Städten. Dort konkurrieren Unikliniken mit Fachkrankenhäusern und Krankenhäusern der Grundversorgung. Wir lassen uns im neuen Krankenhausgesetz von der Qualität leiten. Mindestmengen für Operationen spielen dabei eine Rolle.

„Wir müssen den Menschen die Sorge nehmen, dass sie im Ernstfall keine Hilfe bekommen.“

Aber wir schauen auch Behandlungspfade an: Was braucht etwa ein Patient mit einem Herzinfarkt – von der Diagnose über die Operation bis zur Nachsorge? Dafür haben wir in einem guten Miteinander von Ministerium, Krankenhausgesellschaft und Krankenkassen Qualitätsziele und -standards festgelegt. Dazu gehört, dass ein Linksherzkathetermessplatz rund um die Uhr mit Fachpersonal besetzt ist. Für eine bessere Notfallversorgung wollen wir das Rettungsdienstgesetz so ändern, dass jeder Patient rechtzeitig das passende Krankenhaus erreicht.

Berücksichtigen Sie auch die Ergebnisqualität?

Grimm-Benne: Wir haben häufig gehört, dass es zu lange dauert, bis ein Patient mit Herzinfarkt im richtigen Krankenhaus landet. Das wollen wir auf Basis von Daten des Statistischen Landesamtes verbessern. Wir wollen Anreize schaffen, damit sich Krankenhäuser zu unterschiedlichen Schwerpunkten zusammenschließen. Wir arbeiten schon lange mit Leistungs-, Qualitäts- und Entgeltvereinbarungen, haben allerdings bisher keine Möglichkeit zu Sanktionen. In dieser Hinsicht bessern wir nach: Wer sich nicht an die Vereinbarung hält, soll vom Markt verschwinden. Wir haben uns für die Qualitätsoffensive vier Schwerpunkte herausgesucht: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Onkologie, Orthopädie und Geriatrie.

Das heißt, Sie halten alle Krankenhäuser, legen aber bei der Qualität die Daumenschrauben an?

Grimm-Benne: Das heißt, dass wir die bestehende Krankenhauslandschaft für bedarfsgerecht halten – zumindest jetzt und heute. Das heißt aber nicht, dass die Krankenhäuser machen können, was sie wollen und wie sie es wollen. Sie müssen sich sehr anstrengen. Aber wir werden nicht am grünen Tisch entscheiden, welche Kliniken was machen dürfen. Wenn ein Haus für eine Leistung bestimmte Qualitätskriterien erfüllt und dafür eine Vereinbarung mit den Krankenkassen schließt, unterstützen wir es auf dem Weg, sich zu spezialisieren.

Auf unserer Radtour sind wir in der Cafeteria der Psychiatrie Uchtspringe eingekehrt – alles vom Feinsten. Investiert Sachsen-Anhalt mehr in Kliniken als andere Bundesländer?

Grimm-Benne: Träger des Landeskrankenhauses Uchtspringe ist eine gemeinnützige GmbH, die landeseigene Salus gGmbH – das funktioniert sehr gut. Viele Krankenhäuser sind allerdings mit Bundesmitteln für den Aufbau Ost saniert worden. Das Programm ist zwischenzeitlich aber beendet. Danach hat Sachsen-Anhalt kaum noch Investitionskosten finanziert. Unter der Schwarz-rot-grünen Koalition haben wir das erste Mal wieder ungefähr 20 Millionen Euro Landesmittel zusätzlich vergeben. Wir nutzen zudem Mittel aus dem Strukturfonds, um bestimmte Bereiche in der stationären Versorgung zusammenzuschließen oder Abteilungen zu erneuern. Wir hoffen aber auch auf zusätzliches Geld vom Bund, das er an Qualitätskriterien knüpfen wird. Wir haben außerdem in unserem Haushalt 15 Millionen Euro für kommunale Krankenhäuser verankert.

Damit können Sie sicher auch in der Bevölkerung punkten?

Grimm-Benne: Ich bin viel unterwegs und nicht immer nur zu schönen Terminen. In Genthin haben die Johanniter den Klinikstandort aufgegeben, um in Stendal investieren zu können. Wenn das Krankenhaus zumacht, ist das genauso schwierig wie die Kita oder Schule zu schließen. Die Menschen haben das Gefühl, abgehängt zu werden. Wir müssen ihnen die Sorge nehmen, dass sie im Ernstfall keine Hilfe bekommen. Argumente der Wirtschaftlichkeit zählen da nicht. Stattdessen müssen wir Alternativen bieten, ein MVZ zum Beispiel und eine gut funktionierende Notfallversorgung.

Zurück zur ambulanten Versorgung: Welche Perspektiven bieten Telemedizin und fortgebildete Praxishelferinnen, die zu den Patienten auf die Dörfer fahren?

Grimm-Benne: Wir haben in Sachsen-Anhalt mit großer Unterstützung der AOK und mit Unterstützung der Kassenärztlichen Vereinigung das Projekt MOPRA – Mobile Praxisassistinnen – etabliert: Die Kassenärztliche Vereinigung bildet aus und prüft.

„Telemedizin und Digitalisierung tragen zur besseren Versorgung in ländlichen Regionen bei – auch wenn sie den Menschen nicht ersetzen können.“

Seit Beginn des Projekts sind 710 Praxisassistentinnen genehmigt worden, die in 516 Hausarztpraxen eingesetzt sind. Sie machen Hausbesuche und versorgen beispielsweise Wunden oder geben Spritzen. In diesem Zusammenhang diskutieren wir über die Delegation und Substitution ärztlicher Aufgaben: Wir erhoffen uns vom Sachverständigenrat die Empfehlung, da weiterzukommen. Wir sehen da Potenzial. Und Telemedizin und Digitalisierung können ebenfalls zur besseren Versorgung in ländlichen Regionen wie der Altmark beitragen – auch wenn sie den Menschen nicht ersetzen kann. Allerdings müssen wir zunächst die Glasfasertechnik in die Erde bringen.

Ich komme zum großen Thema Pflege: Was tut das Land, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen?

Grimm-Benne: Sachsen-Anhalt war eines der letzten Bundesländer, in denen Auszubildende in der Altenpflege Schulgeld zahlen mussten. Ich habe mich mit dem Bildungsministerium verständigt, dass wir aus unserem Haushalt für 2018 Geld zur Verfügung stellen, um ein Jahr vor der vom Bund beschlossenen Frist Schulgeldfreiheit bieten zu können. Doch auch in der Bezahlung muss sich einiges tun. In Sachsen-Anhalt verdienen Pflegekräfte viel weniger als in anderen Bundesländern. Zudem liegt zwischen dem Einkommen von Kranken- und Altenpflegerinnen fast ein Tausender Unterschied, auch bestehen noch Unterschiede zwischen Ost und West.

Woran liegt das?

Grimm-Benne: Das Problem ist vielschichtig. Hier kommen jetzt viele Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien ins Rentenalter und in die Pflege. Wenn die Pflegesätze den Tarif abbilden, reicht bei vielen Pflegebedürftigen die Rente nicht mehr, um den Heimaufenthalt zu bezahlen – sie brauchen Grundsicherung. Ich bin der Meinung, dass die Pflegeversicherung eine Vollversicherung werden muss, damit sich Menschen nicht mehr sorgen müssen, ob ihre Rente im Alter für Pflege reicht.

Und was die Bezahlung angeht: Brauchen Pflegekräfte mehr Selbstbewusstsein oder Kampfgeist?

Grimm-Benne: Die Altenpflege geht nicht auf die Straße und demonstriert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind kaum gewerkschaftlich organisiert. Wir müssen ihnen sozusagen von außen und auch gesetzlich helfen. Übrigens erzählen mir die Arbeitgeber, dass sie es sich gar nicht mehr leisten können, ihre Beschäftigten schlecht zu bezahlen, weil sie dann woanders hingehen. In den Gesprächen am Runden Tisch Pflege in Sachsen-Anhalt sind mir neben den Gehaltsfragen aber andere Sachen aufgefallen, beispielsweise die Arbeitsbelastung. Wer heute mit Herzblut den Job macht, klagt insbesondere darüber, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz schwierig ist. Die Dauerbelastung mit vielen Wochenenddiensten verschleißt die Pflegekräfte. Die Rahmenbedingungen müssen attraktiver werden, beispielsweise durch verlässliche Dienstplangestaltung. Die Mitarbeiterinnen müssen ihre freien Wochenenden auch nehmen können und nicht doch einspringen, weil jemand krank geworden ist.

Sie haben viel Erfahrung in der Kommunalpolitik. War das Gesundheitssystem für Sie Neuland, als Sie als Sozialministerin angefangen haben?

Grimm-Benne: Seitdem ich 2002 in den Landtag eingezogen bin, weiß ich, dass das Gesundheitssystem ein ziemlich vermintes Gelände ist. Gesundheitspolitik ist geprägt von vielen widerstreitenden Interessen und Lobbyisten. Es ist eine spannende Aufgabe, das alles unter einen Hut zu bringen. Und ich finde, wir haben die Beteiligten geeint in dem Bewusstsein: Wir wollen etwas für unsere Patientinnen und Patienten machen. Das ist auch das, was mich umtreibt.

Wenn Sie für einen Tag in einem Gesundheitsberuf hospitieren dürften: Wo würden Sie gerne reinschnuppern oder mitmachen?

Grimm-Benne: Die Arbeit in der Gerontopsychiatrie hat mich immer fasziniert, wie man Menschen mit Demenz auffängt über Musiktherapien, Bewegungstherapien, mit Möbeln oder Spielen, die sie aus ihrer Jugendzeit kennen. Das würde ich gerne machen: Psychiatrie-Pflegerin oder Therapeutin in dem Bereich.

Änne Töpfer ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: Dirk Mahler