Gesundheitspolitik

Schutzschild gegen Manipulationen

Kodierfehler und die manipulative Veränderung von Daten führen zu falschen Zuweisungen und können die Finanzen der Krankenkassen belasten. Deshalb muss der Risikostrukturausgleich besser gegen Manipulationen geschützt werden. Wie sich das erreichen lässt, skizzieren Dr. Karl-Heinz Mühlhausen und Timm Paulus.

Eine hohe Qualität und Sicherheit der im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) verwendeten Daten ist unverzichtbar. Die Rechenregeln des RSA führen nur dann zu richtigen Ergebnissen, wenn die genutzten Daten von guter Qualität und frei von Manipulationen sind. Dabei ist die Diskussion um die Qualität und Verlässlichkeit der RSA-Daten schon so alt wie der RSA selbst. Auch Vorwürfe, einzelne Krankenkassen würden sich durch eine Beeinflussung der RSA-Daten Vorteile verschaffen, gehören ebenso in diesen Kontext wie die Kritik an der unterschiedlichen Aufsichtszuständigkeit von bundes- und landesunmittelbaren Krankenkassen.

Der Gesetzgeber hat darauf kontinuierlich reagiert. So wurden mit Einführung des RSA klare Rechtsvorschriften für die Datenmeldungen formuliert und Prüfverfahren für die gemeldeten Versicherungszeiten und für die Ausgaben geschaffen. Bundes- und Landesaufsichten prüfen jährlich die Datenmeldungen aller Krankenkassen auf der Grundlage eines einheitlichen Handbuchs. Im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz sind die Regeln konkretisiert und geschärft worden.

Zunahme ambulanter Diagnosen.

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt (BVA) hat in seinem Sondergutachten von 2017 die Diagnoseentwicklung überprüft und festgestellt, dass die Morbi-RSA-Daten keine Auffälligkeiten im Vergleich zu epidemiologischen Informationen aufweisen. Aber er hat auch beobachtet, dass bestimmte ambulante Diagnosen stark zugenommen haben, nachdem sie für den Morbi-RSA relevant wurden. Dabei ist es unerheblich, ob sich diese Veränderung durch ein – vom Wissenschaftlichen Beirat durchaus gewünschtes – „Rightcoding“ oder durch ein verfälschendes, manipulatives „Upcoding“ von Diagnosen erklären lässt. Maßgeblich für einen funktionierenden Morbi-RSA ist: Die rechtswidrige Einflussnahme von Krankenkassen auf die RSA-Daten im Allgemeinen und die Diagnosen im Speziellen muss ausgeschlossen sein.

Neue Architektur für die Prüfung.

Um den Morbi-RSA manipulationssicher zu machen, ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Zum einen müssen die Grundlagen der RSA-Datenerhebung im Vorfeld der Berechnungen geprüft werden (Vorabprüfung) – und nicht erst viele Jahre später. Zum anderen ist die Architektur der Kooperation zwischen Bundes- und Länderaufsicht so zu verändern, so dass ein einheitlicher Maßstab für die Ausübung der Rechtsaufsicht in RSA-Fragen für alle Krankenkassen gilt – unabhängig davon, ob es sich um eine bundesunmittelbare oder eine landesunmittelbare Krankenkasse handelt.

Datenmeldungen, Krankheitsauswahl, Zuschläge: Seit Anfang 2009 orientiert sich der Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen den gesetzlichen Krankenkassen auch am Krankheitszustand, der Morbidität, der Versicherten. Ziel dieses morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) ist, dass die Beitragsgelder dorthin fließen, wo sie zur Versorgung Kranker benötigt werden. Der Morbi-RSA ist eine unverzichtbare Bedingung für den Wettbewerb zwischen den Krankenversicherern um Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung von Kranken. Dazu hat das Bundesversicherungsamt eine Übersicht verfasst.

Künftig sollte das Bundesversicherungsamt gemeinsam mit den Landesaufsichten festlegen, welche selektivvertraglichen Regelungen aus RSA-Sicht zulässig sind und welche nicht. Alle Versorgungsverträge werden vom BVA beziehungsweise den Landesaufsichten nach klaren Kriterien überprüft, wobei die maßgebliche Bewertung durch das BVA im Rahmen seiner Zuständigkeit für RSA-Datenmeldungen erfolgt. Nur Diagnosen aus als „zulässig“ qualifizierten Verträgen dürfen Krankenkassen für den RSA melden. Dabei kann das BVA mithilfe von Vertragskennzeichen, die künftig zu jeder Diagnose übermittelt werden, schon vor der RSA-Berechnung alle Diagnosen ausschließen, die keinem als „zulässig“ bewerteten Versorgungsvertrag zugeordnet sind. Auch erhält das BVA das Recht, bereits bei begründetem Verdacht auf rechtswidrig gemeldete Diagnosen diese von den Berechnungen vorab und so lange auszuschließen, bis die Krankenkasse nachweist, dass diese Daten den rechtlichen Anforderungen genügen.

Vertragsregister schafft Transparenz.

Mit einem solchen Verfahren lassen sich die zentralen Kritikpunkte effektiv beseitigen. Die Vorabprüfung schafft Sicherheit für alle Krankenkassen und sorgt dafür, dass rechtswidriges Verhalten einzelner nicht zulasten richtig handelnder Kassen geht. Ein beim BVA ein-zurichtendes Vertragsregister schafft zusätzlichTransparenz. Auch lässt sich so eine unmittelbare und effektive Sanktionierung des Fehlverhaltens erreichen, da nicht mehr viele Jahre vergehen, bis überhaupt Konsequenzen für Fehlverhalten spürbar werden.

Ob Bundes- oder Landesebene – für die Rechtsaufsicht muss es einen einheitlichen Maßstab geben.

Zudem schließt eine noch kooperativer angelegte Aufsichtsarchitektur die – zumindest gefühlte – Ungleichbehandlung von Krankenkassen aus. Die heute erhobenen Vorwürfe, dass bundesunmittelbare Krankenkassen unter Bundesaufsicht in Bezug auf die RSA-Datengrundlagen anders behandelt werden als landesunmittelbare Krankenkassen von der Landesaufsicht, entbehren spätestens dann jeglicher Grundlage.

Um diese Neuausrichtung zu erreichen, ist ein Paket von verschiedenen, ineinandergreifenden Maßnahmen erforderlich (siehe Kasten „Bausteine für einen manipulationssicheren RSA“). Einige davon fordert auch der Wissenschaftliche Beirat beim BVA, zum Beispiel die Einführung des Vollmodells mit allen Krankheiten, ein Vertragsregister, ambulante Kodierrichtlinien und die Regionalisierung der Prüfung.

Trennung der Aufsichten bleibt bestehen.

Für die Umsetzung ist dabei von zentraler Bedeutung, dass die verfassungsrechtlich begründete Trennung von Bundes- und Landesaufsichten nicht infrage gestellt wird. Vielmehr ist die Zusammenarbeit der Bundes- und Landesbehörden im Sinne einer neuen Architektur unter Festlegung von miteinander verzahnten Zuständigkeiten und Kompetenzen klar und bundesweit einheitlich zu regeln. Beispiele aus anderen Verwaltungsbereichen – etwa die verbesserte Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit – zeigen, dass dies funktionieren kann.

  • Berücksichtigung aller Krankheiten im Risikostrukturausgleich
  • Einführung ambulanter Kodierrichtlinien
  • Ausbau der strukturierten Zusammenarbeit der Rechtsaufsichten des Bundes (Bundesversicherungsamt, BVA) und der Länder
  • einheitlicher Prüfkatalog: Festlegung verbindlicher Kriterien zur Bewertung der rechtlichen Zulässigkeit von vertraglichen Regelungen im Sinne der Anforderungen an die RSA-Datenmeldungen durch das BVA
  • Pflicht der Kassen zur Vorlage der Versorgungsverträge und Prüfung dieser Verträge durch die Aufsicht
  • Einführung eines Vertragsregisters beim BVA und einer Vertragskennzeichnung der Diagnosen in den RSA-Datenmeldungen
  • Vorab-Prüfrecht des BVA im Rahmen von Paragraf 273 SGB V (Sicherung der Datengrundlagen für den Risikostrukturausgleich)
  • Konsequente Regionalisierung der BVA-Auffälligkeitsprüfungen – auch für zurückliegende Jahre
  • Erweiterung des BVA-Auskunftsrechts
  • kontinuierliche Weiterentwicklung der Prüfverfahren durch den Wissenschaftlichen Beirat beim BVA

Quelle: AOK-Bundesverband

Für die Stärkung der Manipulationsresistenz des Morbi-RSA sind hierzu die entsprechenden Regelungen im Sozialgesetzbuch V (Paragraf 273: Sicherung der Datengrundlagen für den Risikostrukturausgleich) zu schaffen, flankiert durch klare Vorlage- und Informationspflichten der Länderaufsichten an das Bundesversicherungsamt. Dass das BVA dann in allen den RSA betreffenden Fragen das letzte Wort haben sollte, ist wünschenswert.

Umsetzbar in einem Jahr.

Abschließend stellt sich die Frage, wie sich der Übergang zur neuen Aufsichtsarchitektur und die Etablierung von Vorabprüfungen gestalten lässt. Hier ist zügiges Handeln durch den Gesetzgeber gefragt. Denn dann könnten bereits die Daten des Jahresausgleichs 2019, der im November 2020 erfolgt, effektiv vor Manipulationen geschützt sein. Das wäre zeitlich passgenau zum Zieltermin der RSA-Reform, dem 31. Dezember 2019.

Interview
„Kodierhilfe gibt Ärzten Orientierung“

Mehr Orientierung und bessere Unterstützung: Das soll die Kodierhilfe bieten, die das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) entwickelt hat. Im Interview mit Hans-Bernhard Henkel-Hoving erläutert Geschäftsführer Dr. Dominik von Stillfried, wie das Instrument funktioniert.

Dr. Graf von Stillfried, die Diagnosestellung und Leistungsabrechnung veranschlagen einige Zeit in der ärztlichen Praxis. War das der Ausgangspunkt für das Zi, eine eigene Kodierhilfe zu entwickeln?

Graf von Stillfried: Die Zeitersparnis ist ein Nebeneffekt der Vereinfachung. Die Klassifikationsliste von Krankheiten, die ICD-10-GM, ist sehr umfangreich, zum Teil komplex und erscheint nicht immer logisch. Ziel war es daher, durch die Fachgruppen-bezogenen Thesauren eine größere Übersichtlichkeit zu schaffen. Ergänzend bietet die Kodierhilfe ein schnelles Nachschlagewerk für den Fall, dass hinsichtlich der korrekten Verschlüsselung einer Diagnose Unsicherheit oder Fragen bestehen. Insgesamt wollen wir den Vertragsärzten Orientierung und gezielte Unterstützung bei der Dokumentationsarbeit geben.

Dr. Dominik Graf von Stillfried ist Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi).

Wie funktioniert das Instrument – und welche Vorteile bringt es?

Stillfried: Die Kodierhilfe enthält zu jeder Schlüsselnummer eine Checkliste mit Hinweisen, welche Voraussetzungen für eine Kodierung gegeben sein sollten. Inzwischen liegen für 96 Prozent aller Kodes solche Checklisten vor. Grundlage waren Leitlinien und Standardwerke sowie eine interdisziplinäre Abstimmung zwischen Praktikern. Gesucht werden kann nach den ICD-10-Kodes oder den Schlagworten aus den Checklisten. Vorteil: In wenigen Sekunden lässt sich der passende Kode finden. Diese Handreichung kann nach Aussage vieler Fachärzte die Kodierqualität verbessern.

Wann könnte die Kodierhilfe Einzug in die Praxen halten und wie sollte die regelmäßige Pflege des Instruments aussehen?  

Stillfried: Über die Internetseite kodierhilfe.de und die Kodierhilfe-App ist unser Angebot in einigen Praxen bereits angekommen. Die Webseite und die App greifen auf die gleiche Datenbank zu, in der die Checklisten hinterlegt sind. Ideal wäre eine Einbindung in die Praxissoftware. Für einen flächendeckenden Einsatz müssten die Praxissoftware-Hersteller die Schnittstelle oder die bereitgestellte Wissensbasis regelhaft einbinden. Eine solche Verpflichtung existiert aber derzeit nicht, eine Bereitschaft der Praxen, hierfür zusätzliche Mittel aufzuwenden, verständlicherweise auch nicht. Das Zi betreibt die Weiterentwicklung und Pflege der Kodierhilfe seit 2009. Haus- und Fachärzte arbeiten unter Federführung der Fachabteilung kontinuierlich an der Wissensbasis. Für einzelne Fragen werden Spezialisten herangezogen. Die Checklisten werden regelmäßig überarbeitet. Hinzu kommen Anpassungen, die sich aus Änderungen der ICD-10 ergeben.

Karl-Heinz Mühlhausen leitet das Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
Timm Paulus war bis September 2018 Stellvertretender Geschäftsführer in der Geschäftsführungseinheit Finanzen beim AOK-Bundesverband.
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