Morbi-RSA

Kurs halten beim Kassenausgleich

Er verteilt die Mittel zielgenau und sorgt für fairen Wettbewerb: Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich hat sich bewährt. Nun gilt es behutsam nachzusteuern, um das Verfahren weiter zu verbessern. Zwei wissenschaftliche Gutachten geben die Richtung vor. Eine Analyse von Kai Senf, Michael Neumann und Kristin Höfinghoff

Rund 230 Milliarden Euro jährlich erhalten die gesetzlichen Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds. Wie sich das Geld auf die mehr als 100 Kassen verteilt, regelt seit 2009 der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Kein Wunder, dass das RSA-Verfahren immer wieder Gegenstand gesundheitspolitischer Kontroversen ist.

Seit Einführung der kassenindividuellen, einkommensabhängigen Zusatzbeiträge 2015 hat sich die Debatte noch einmal merklich verschärft. Sie dreht sich um die Berücksichtigung von Krankheiten, den Umgang mit regionalen Ausgabenunterschieden, Manipulationsrisiken, Präventionsanreizen und andere Stellschrauben des Ausgleichsverfahrens. Allianzen von Krankenkassen haben mit einer Vielzahl von Auftragsgutachten versucht, ihre jeweilige Position zu einer möglichen Reform des Morbi-RSA zu untermauern. Diese Zweckbündnisse haben zudem nichts unterlassen, um ein möglichst dramatisches Bild der Lage in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu zeichnen. Manche Kassen- und Verbandschefs prophezeiten gar ein massenhaftes Kassensterben oder das Ende der Kassenpluralität. Trotz einer auch innerhalb einzelner Kassenarten heterogenen Finanzsituation sahen sie im GKV-Wettbewerb eine gravierende Schieflage zugunsten der AOKs, insbesondere in den neuen Bundesländern.

Zweckbündnisse fordern Umbau.

Nach außen vermitteln die Allianzen den Eindruck von Einigkeit in ihren Forderungen zur Reform des Finanzausgleichs. Dabei besteht allenfalls Übereinstimmung in dem Ziel, eine Veränderung zulasten der AOK zu erreichen. Hinter den vermeintlich geschlossenen Lagern stecken Krankenkassen mit höchst unterschiedlichen Ausgangslagen. So beteiligen sich an den Bündnissen beispielsweise eine Metzinger Betriebskrankenkasse, die keinen Zusatzbeitrag erhebt, und eine Techniker Krankenkasse mit einem unterdurchschnittlichen Zusatzbeitrag und einem Überschuss von 630 Millionen Euro im Geschäftsjahr 2016, die beide mit dem Status quo gut leben könnten. Dass die Zweckbündnisse weiter zusammenhalten, wenn die konkrete Reformagenda bei der für den Herbst angekündigten Überarbeitung des Morbi-RSA steht, ist eher unwahrscheinlich. Auch ob die bekannt gewordenen kassenartenspezifischen Absprachen zur „Beuteteilung“ dann weiter gelten, ist höchst fraglich.

Risikostrukturausgleich: Wie kann er noch besser werden?

Während manche Kassen-Bündnisse Dramen heraufbeschwören, stellt sich die Realität ganz anders dar: Weder ist in den letzten drei Jahren eine Krankenkasse insolvent geworden, noch läuft eine Pleitewelle auf uns zu. Der höchste Zusatzbeitrag lag im Jahr 2015 bei 1,3 Prozent, drei Jahre später sind es 1,7 Prozent. Auch haben laut dem aktuellen Tätigkeitsbericht des Bundesversicherungsamtes alle Kassen die gesetzlichen Anforderungen zur Mindestrücklage erfüllt. Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen läuft in geregelten Bahnen.

Gleichwohl war und ist es notwendig, den RSA kontinuierlich auf mögliche Schwachstellen zu überprüfen und ihn weiterzuentwickeln. Nicht um Krankenkassen zu retten, die unwirtschaftlich arbeiten, sondern um Risikoselektion weiter zu minimieren – und somit die Kernaufgabe des RSA zu erfüllen. Die AOK-Gemeinschaft hat sich daher seit Langem für eine wissenschaftliche Gesamtevaluation des Kassenausgleichs ausgesprochen. Bereits jetzt erreicht der deutsche RSA im internationalen Vergleich eine hohe Zielgenauigkeit und bedarf keines vollständigen Umbaus. Dennoch muss er im Sinne eines lernenden Systems auf Basis wissenschaftlicher Ergebnisse weiter verbessert werden.

Auftrag an die Wissenschaft.

Andere Kassen pochten in den letzten Monaten hingegen auf kurzfristige politische Lösungen und ignorierten dabei ein Faktum: Es ist zwar Aufgabe der Politik zu entscheiden, ob sie einen Ausgleichsmechanismus etablieren will, der Risikoselektion und Unwirtschaftlichkeit weiter minimiert. Aber mit der konkreten Ausgestaltung  und Weiterentwicklung des Mechanismus im Sinne der Politik wird die Wissenschaft beauftragt.

Die Politik hat deshalb im Jahr 2017 den beim Bundesversicherungsamt angesiedelten Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des RSA mit zwei Sondergutachten beauftragt. Dem ersten Sondergutachten war ein Anhörungsverfahren vorausgegangen, bei dem alle Kassen ihre Weiterentwicklungsvorschläge einbringen konnten. Auch das zweite Gutachten fußt auf den Forderungen vieler Kassen, regionale Ausgabenunterschiede müssten im RSA stärkere Berücksichtigung finden. Alle Kassen hatten Möglichkeiten der Partizipation und haben diese rege genutzt. Die Daten aller Kassen wurden für die Evaluation herangezogen. Die Kritik, der Beirat habe seinen Gutachterauftrag nicht hinreichend erfüllt, läuft also ins Leere und ist eher Ausdruck von enttäuschten Interessen.

Ambulante Diagnosen zugrunde legen.

Nun liegen die Ergebnisse der beiden Gutachten vor (siehe Web- und Lesetipps). Das „Sondergutachten zu den Wirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ liefert eindeutige Handlungsempfehlungen für die Politik: Zukünftig sollen alle Krankheiten Zuschläge im RSA auslösen (sogenanntes Vollmodell). Klar ist für den Beirat auch, dass ambulante Diagnosen weiterhin das Maß der Dinge sind, um Krankheiten zu berücksichtigen. Außerdem soll das Alter der Versicherten bei den Morbiditätszuschlägen berücksichtigt („Altersinteraktionsterme“) und die Zuweisungen damit zielgenauer werden. Der Erwerbsminderungsstatus soll als Merkmal für die Schweregraddifferenzierung genutzt werden. Auch für die Erhöhung der Manipulationsresistenz machen die Experten konkrete Vorschläge, unter anderem die Einführung ambulanter Kodierrichtlinien.

Grafik: Risikostrukturausgleich – Höchste Zielgenauigkeit mit allen Krankheiten

Je näher die Ausgabendeckung an 100 Prozent liegt, desto zielgenauer ist der Morbi-RSA und desto geringer sind die Anreize zu Risikoselektion. Wenn der Morbi-RSA alle Krankheiten berücksichtigt, erfüllt er sein Ziel besser als das aktuelle Modell mit 80 Krankheiten. Das Modell mit 80 seltenen und teuren Krankheiten hat die geringste Zielgenauigkeit.

Quelle: AOK-Bundesverband

Das „Gutachten zur regionalen Verteilungswirkung des Risikostrukturausgleichs“ bestätigt, dass der RSA bereits heute regionale Ausgabenunterschiede zu einem Großteil ausgleicht. Für verbleibende Differenzen schlägt der Beirat zum einen die Berücksichtigung von zehn Morbiditäts- und Mortalitätsmerkmalen wie Sterbekosten, Pflegegrad oder Hausarztdichte vor. Auf mittlere Sicht könnten laut Beirat außerdem Über- und Unterdeckungen zwischen Regionen mithilfe eines zusätzlichen Verfahrensschrittes („Deckungsbeitrags-Cluster-Modell“) ausgeglichen werden.

AOK unterstützt Empfehlungen.

Die Gutachter stellen fest, dass der Anreiz zur Risikoselektion weiter zu reduzieren ist. Noch bekommen die Krankenkassen für gesunde Versicherte mehr Geld, als sie für deren Gesundheitsversorgung benötigen (Überdeckung). Vor allem auf diese Widersprüchlichkeit zielen die Beiratsvorschläge ab. Deren Umsetzung würde die Überdeckungen bei gesunden Versicherten abbauen, die zu Fehlanreizen zum Beispiel in Form von einseitigen Marketingkampagnen führen.

Die AOK-Gemeinschaft unterstützt die Vorschläge des Beirats in vollem Umfang. Besondere Bedeutung haben aus ihrer Sicht die Berücksichtigung aller Krankheiten (statt wie bisher nur 80), die Altersinteraktionsterme und der Erwerbsminderungsstatus als Merkmal der Schweregraddifferenzierung – auch wenn dies die AOK-Gemeinschaft finanziell belastet. Zudem sollten die Vorschläge des Beirats zur Stärkung der Manipulationsresistenz des RSA zügig umgesetzt werden. Dabei sollte der Gesetzgeber noch einen Schritt weiter gehen und die Prüfrechte des Bundesversicherungsamtes stärken. Das Amt sollte die Versorgungsverträge, die für den RSA relevant sein könnten, zentral prüfen – unabhängig davon, ob es sich um Verträge bundes- oder landesunmittelbarer Kassen handelt.

Die Ergebnisse liegen auf dem Tisch: Die Politik muss die Weiterentwicklung des RSA jetzt anpacken.

Kein Ausgleich von Ist-Ausgaben.

Allerdings darf der Ausgleich regionaler Deckungsunterschiede kein Selbstzweck sein. Regionalstatistische Merkmale sind keine sachgerechte Ergänzung des Morbi-RSA. Sie verfestigen bestehende Strukturen der Über-, Unter- und Fehlversorgung und setzen damit Fehlanreize in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit. Aus gleichem Grund sind Ist-Ausgaben-Ausgleiche und Deckungsbeitrags-Cluster-Ausgleiche (siehe oben) abzulehnen. Ist-Ausgaben-Ausgleichen erteilt auch der Wissenschaftliche Beirat eine klare Absage. Ziel muss es stattdessen sein, die Zielgenauigkeit des Morbi-RSA auf Ebene der Versicherten und Versichertengruppen zu erhöhen. Deshalb sollte das Ausgleichsverfahren die bislang nicht beachteten Morbiditätsfaktoren versichertenbezogen und nicht je Region berücksichtigen.

Kritiker stellen Systemfrage.

Die Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen reagieren auf die beiden Gutachten mit viel Kritik, weil ein Großteil ihrer Vorschläge bei der wissenschaftlichen Bewertung durchgefallen ist. Der geforderte Verzicht auf ambulante Diagnosen führt aus Sicht der Experten zu einem merklichen Anstieg der Überdeckung bei gesunden Versicherten; sie lehnen ihn daher ab. Ein derartiger Eingriff in den RSA würde sich im Übrigen verheerend auf die Finanzen derjenigen Kassen auswirken, die sich vor allem um kranke und ältere Versicherte kümmern. Mit Blick auf die Überdeckung bei gesunden Versicherten raten die Fachleute auch davon ab, im RSA ausschließlich teure und seltene Erkrankungen zu berücksichtigen. Die ersatzlose Streichung der Erwerbsminderungsgruppen würde laut Beirat zu „schwerwiegenden Risikoselektionsanreizen“ gegenüber Erwerbsminderungsrentnern führen.

TK, BKK und Co. verfolgen mit ihren Reformvorschlägen offenbar das Ziel, zum alten, 2009 abgelösten RSA zurückzukehren, um die eigene Kassenlage zu verbessern. Die Politik hat gut daran getan, nicht mit Schnellschüssen zu reagieren, sondern die Ergebnisse der Gutachten abzuwarten. Auf deren Basis kann der Gesetzgeber wie beabsichtigt Risikoselektion weitgehend verhindern und die Wirtschaftlichkeit in der Gesundheitsversorgung erhöhen. Vor diesem Hintergrund haben sich einige Kassen nun auf die schlichte Ablehnung des RSA verlegt. So finden sich Aussagen von Seiten der Betriebskrankenkassen, ob man „nicht zulassen [solle], dass darüber debattiert wird, ob es nicht andere Formen der Gewährleistung des Ausschlusses von Risikoselektion und der Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen gibt, als den Morbi-RSA?“ Diskutiert wird zudem ein hälftiger Ist-Ausgaben-Ausgleich. Der über einen Zeitraum von 25 Jahren sukzessive weiterentwickelte RSA soll nun wegen finanzieller Sonderwünsche einzelner Kassen zurückgedreht werden.

Regionalisierung lockt auf die falsche Fährte.

Damit spricht sich ein Teil der Krankenkassen offen für weniger Wirtschaftlichkeit und mehr Risikoselektion aus, lehnt sich gegen die von der Politik beauftragten wissenschaftlichen Empfehlungen auf und stellt die solidarische Wettbewerbsordnung infrage. Schließlich sprechen die Kritiker sogar dem Wissenschaftlichen Beirat, der über viele Jahre substanzielle Arbeit zur Weiterentwicklung des RSA geleistet hat, kurzerhand die Kompetenz ab.

In dieser Ausgabe:
 

  •  „Votum für die Zukunft”: Die beiden Sondergutachten zum Risikostrukturausgleich liegen vor. Sind sie überzeugend? Eine Analyse von Prof. Dr. Klaus Jacobs
  • „Schutzschild gegen Manipulationen”: Wie sich der Risikostrukturausgleich besser gegen Manipulationen, etwa die manipulative Veränderung von Daten, schützen lässt. Im Interview: Dr. Dominik von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi), über die Kodierhilfe für Ärzte
  • „Der RSA ist ein lernendes System”: Warum der Strukturausgleich auch in Zukunft lernfähig bleiben sollte, erklärt der Präsident des Bundesversicherungsamtes, Frank Plate, im Interview.

Weiterführend:
 

Gutachten zu den regionalen Verteilungswirkungen des Risikostrukturausgleichs (29. Juni 2018):
Sondergutachten zu den Wirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs vom 27.11.2017 (korrigierte Fassung vom 25.1.2018)
• Dossier des AOK-Bundesverbands: Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA)
„Mit Bedacht justieren“, G+G-Spezial zum Risikostrukturausgleich

Auch mit dem Thema Regionalisierung haben verschiedene Kassen versucht, die Politik auf die falsche Fährte zu locken. Mit der fehlenden Regionalisierung des RSA erklären sie vermeintliche Verwerfungen zwischen den Kassen. Der Beirat sagt dazu: „Die beobachteten Unterschiede in den Deckungssituationen von Krankenkassen sind also nur zu einem kleineren Teil auf die Finanzwirkungen der regionalen Verteilung der Versicherten zurückzuführen.“ Die Aussage der Barmer „Region schlägt Management“ ist damit widerlegt. Der BKK-Dachverband interpretiert die Ergebnisse des zweiten Gutachtens als nicht ausreichend, um „Unterdeckungen bei großen Betriebskrankenkassen“ zu mindern. Damit erklärt er das wichtigste Ziel des RSA – Risikoselektion zu verhindern – zur Nebensache.

Die Gutachten ebnen den Weg.

Wenn die politischen Entscheidungsträger an der bisherigen Maxime „weniger Risikoselektion und mehr Wirtschaftlichkeit“ festhalten wollen, ebnen ihnen die Gutachten mit ihren Vorschlägen den Weg. Ignoriert der Gesetzgeber aber die Vorschläge der Gutachten, so muss er sich zwangsläufig für einen Rückbau des RSA einschließlich der damit verbundenen negativen Folgen entscheiden. Das hieße, die Selektion zwischen guten Risiken (gesunde Versicherte) und schlechten Risiken (kranke Versicherte) wieder zu verstärken. Es hieße auch, dass Anreize für wirtschaftliches Verhalten wegfallen und somit Ausgabenanstiege in der gesetzlichen Krankenversicherung drohen.

Die nachhaltigere Variante für die Politik ist es, den RSA auf Basis wissenschaftlicher Expertise weiterzuentwickeln. Der Beirat zeigt genügend Optionen auf, um das bereits heute gut funktionierende Ausgleichssystem weiter zu verbessern. Ein zielgenauer RSA, der Risikoselektion minimiert, führt zu fairen Wettbewerbsbedingungen für alle Krankenkassen. Der Gesetzgeber muss zudem dafür sorgen, dass das Ausgleichssystem von nun an regelmäßig evaluiert wird. Damit hilft er, die Diskussion um den RSA zu versachlichen.

Die von der Politik beauftragten Gutachter haben die in den letzten drei Jahren geführte Debatte umfangreich aufgegriffen und untersucht. Die Ergebnisse liegen auf dem Tisch, die Daten sind frisch: Es gibt keinen Grund, eine RSA-Weiterentwicklung auf die lange Bank zu schieben – entschärfen wird sich der Konflikt dadurch nicht. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Politik den Risikostrukturausgleich anpackt. Dann kann sie sich wieder wichtigeren Fragen zuwenden: Pflegenotstand, Digitalisierung oder der Versorgung auf dem Land.

Interview
„Gutes kann man besser machen“

Höhere Zielgenauigkeit, weniger Manipulationsanreize: Das sind aus Sicht von Jens Martin Hoyer zentrale Erfolgsfaktoren bei der Weiterentwicklung des RSA. Im Interview mit Karola Schulte erklärt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, wie die nächsten Schritte aussehen sollten.

Herr Hoyer, benötigen wir eine RSA-Reform und wenn ja, wann sollte sie kommen?

Jens Martin Hoyer: Vorab ganz grundsätzlich: Der RSA funktioniert. Zu diesem Ergebnis kommen die aktuellen Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates. Insofern ist eine grundlegende Reform des RSA nicht angezeigt. Aber Gutes kann man besser machen, und der RSA ist als lernendes System kontinuierlich weiterzuentwickeln. Als Grundlagen für sinnvolle und umsetzbare Ansätze liegen die aktuellen Gutachten auf dem Tisch. Und nächste Schritte zur Weiterentwicklung sind dann auf Grundlage der bereits beauftragten weiteren Gutachten zum Krankengeld und Auslandsversicherten zu vollziehen.

Jens Martin Hoyer ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes.

 

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte?

Hoyer: Alle Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung müssen sich daran messen lassen, ob sie die Zielgenauigkeit des RSA auf Ebene der Versicherten beziehungsweise Versichertengruppen erhöhen. Nur so werden Anreize zur Risikoselektion weiter reduziert und Anreize zur Wirtschaftlichkeit gesetzt. Hiervon profitieren alle Versicherten. Dafür unterbreitet der Beirat konkrete Empfehlungen, wie die Berücksichtigung aller Krankheiten und Altersinteraktionsterme. Perspektivisch ist die versichertenindividuelle Einbeziehung der bislang nicht berücksichtigten Morbiditätsfaktoren zu prüfen. Zugleich muss die Manipulationsresistenz des RSA gestärkt werden. Das Bundesversicherungsamt sollte vorab eine einheitliche Prüfung der RSA-Relevanz von Versorgungsverträgen aller Krankenkassen vornehmen. Das Amt entscheidet dann, ob Diagnosen aus dem Vertrag für den RSA gemeldet werden dürfen oder nicht.

Welche Ansätze sehen Sie kritisch?

Hoyer: Der diskutierte Ausgleich regionaler Deckungsunterschiede ist kein Selbstzweck. Ob und inwieweit regionale Deckungsunterschiede überhaupt Risikoselektionsanreize darstellen, wird von den Gutachtern nicht untersucht. Es wird auch kein Nachweis erbracht, dass regionale Risikoselektion als praxisrelevantes Phänomen besteht. Die Annahme, dass ein Ausgleich regionaler Deckungsunterschiede erforderlich ist, ist damit nicht belegt. Regionalstatistische Merkmale sind daher keine sachgerechte Ergänzung des Morbi-RSA. Sie erhöhen nicht die Zielgenauigkeit auf Versichertenebene sondern zementieren bestehende Strukturen der Über-, Unter- und Fehlversorgung und setzen damit Fehlanreize in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit. Aus gleichem Grund sind auch Ist-Ausgaben-Ausgleiche und Deckungsbeitragscluster-Ausgleiche für eine Weiterentwicklung des RSA auszuschließen.

Kai Senf ist Geschäftsführer Politik und Unternehmensentwicklung im AOK-Bundesverband.
Michael Neumann leitet die Abteilung Politik im AOK-Bundesverband.
Kristin Höfinghoff ist Referentin in der Abteilung Politik im AOK-Bundesverband.
Bildnachweis: iStock/pixelnest/katyau, Die Hoffotografen, Deutscher Bundestag/Benno Kraehahn, Laurence Chaperon, AOK-Mediendienst