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Vorstand gefragt!

„Eine Notfallgebühr wäre unangemessen“

Eine Rufnummer, eine Leitstelle, ein Anlaufpunkt für alle Patienten – die Debatte über eine Reform der Notfallversorgung ist in vollem Gange. Tom Ackermann (46), Vorstandschef der AOK NordWest, bezieht Position.

G+G: Herr Ackermann, Sie sind Vater von zwei schulpflichtigen Kindern. Kennen Sie die Situation, als Vater am Wochenende in die Notfallambulanz eines Krankenhauses zu müssen?

Tom Ackermann: Ja, natürlich habe ich das bereits erlebt. Ich war mit einem meiner Kinder einmal nachts in der gleichen Notfallambulanz, in der ich selbst als Kind viele Jahre zuvor schon war. Nachts ist in Notfallambulanzen aber meistens wenig los, von daher war die Situation mit unserem Kind nicht von Gedränge oder Überlastung des Personals geprägt. Ich weiß jedoch aus vielen Gesprächen im Bekannten- und Freundeskreis, wie überfüllt Notfallambulanzen insbesondere am Wochenende tagsüber sein können und habe Verständnis für die Forderung, dass das für alle Beteiligten, also die Patienten und das Personal, auf Dauer nicht so bleiben kann.  

G+G: Woran liegt es, dass so viele Menschen außerhalb der Sprechstundenzeiten in die Notfallambulanzen gehen?

Ackermann: Ich sehe hier drei Aspekte. Zum einen die Unsicherheit darüber, wie der eigene Gesundheitszustand einzuschätzen ist. Viele Menschen gehen heute lieber ins Krankenhaus und lassen abklären, was mit ihnen oder ihren Angehörigen los ist, anstatt, wie es früher üblich war, erst einmal abzuwarten. Zum anderen ist die Telefonnummer 116117 des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes nach wie vor zu wenig bekannt. Die 112 kennt jedes Kind, aber die 112 ist der falsche Kanal, solange es nicht um ernste oder gar lebensbedrohliche Situationen geht. Und zum Dritten empfinden viele Menschen die Notfallambulanzen der Krankenhäuser mittlerweile als Teil der ambulanten Versorgung, wo man ohne lange Vorlaufzeiten eine fachärztliche Behandlung erhalten kann. Dahinter verbirgt sich möglicherweise eine andere Anspruchshaltung, aber auch die Tatsache, dass es zumindest für einige Facharztgruppen schwierig ist, zeitnah einen Termin zu bekommen.

G+G: Was halten Sie von Vorschlägen, eine Notfallgebühr von Patienten zu erheben, die eigentlich keine Notfälle sind?

Ackermann: Gerade unter der Überschrift „Notfall“ halte ich davon gar nichts. Wenn eine Erkrankung, eine gesundheitliche Situation als dringend behandlungsbedürftig empfunden wird, dann haben Patienten das gute Recht auf medizinische Versorgung. Im Nachhinein einem medizinischen Laien – und nichts anderes ist ein Patient in der Regel – zu sagen, der Weg in die Notfallambulanz war unnötig und deswegen kostet der Besuch jetzt 30 Euro extra, hielte ich für völlig unangemessen. Im Übrigen glaube ich, dass sich das Problem nach einer Reform der Notfallversorgung deutlich relativieren wird und auch weite Teile der Ärzteschaft die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erhobene Forderung nach einer Notfallgebühr nicht mittragen.

G+G: Sie hatten schon erwähnt, dass die 116117 nur wenige Versicherte kennen. Haben die Kassenärztlichen Vereinigungen für die Nummer zu wenig geworben?

Ackermann: Es war zumindest eine gewisse Zurückhaltung zu spüren. Allerdings hat sich in den letzten ein bis zwei Jahren schon einiges getan, jedenfalls im Gebiet der AOK NordWest, also in Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe. Aber natürlich reicht es im Smartphone-Zeitalter nicht, Plakate aufzuhängen oder Flyer in den Praxen auszulegen. Da ginge noch mehr. Und wer den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Notfallversorgung will, der muss sich eben auch um solche Themen kümmern, wie der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung selbst gesagt hat.

G+G: Der Sachverständigenrat fürs Gesundheitswesen wirbt für eine Reform der ambulanten Notfallversorgung nach dem Motto: eine Nummer, ein Tresen. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg?

Ackermann: Grundsätzlich ja. Anrufe für die 112 und für die 116117 in einer Leitstelle auflaufen zu lassen, geht heute schon. Erste Erfahrungen mit einem von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe finanzierten Modellversuch in Ostwestfalen-Lippe sind jedenfalls vielversprechend. Aber klar ist auch, dass die 112 zur Daseinsvorsorge gehört und sich bei einer Zusammenlegung von Leitstellen und Rufnummern nicht nur die Krankenkassen, sondern auch die Kommunen und das Land engagieren müssen.

G+G: Und ist ein Tresen im Krankenhaus als Anlaufstation für alle ambulanten Notfallpatienten sinnvoll, ganz gleich, ob sie am Ende stationär oder ambulant behandelt werden?

Ackermann: Ja. Ich nehme hier zumindest auf der Überschriftenebene auch viel Zustimmung für das Konzept des Sachverständigenrates war. Auf der Detailebene sehe ich aber noch Gesprächsbedarf, etwa wenn es um die Trägerschaft und die Finanzierung der Integrierten Notfallzentren geht, wie sie der Rat für die ambulante Notfallversorgung vorschlägt. Zugleich müssen wir darauf achten, dass das Konzept zu den Plänen des Gemeinsamen Bundesausschusses für die stationäre Notfallversorgung passt. Wir sollten zum Beispiel vermeiden, dass eine Klinik zwar an der ambulanten Notfallversorgung teilnimmt, aber nicht mehr an der stationären. Das würde die Patienten nur irritieren und im Zweifel für unnötige Wege sorgen.

G+G: Die AOK-Gemeinschaft hat ein eigenes Konzept für die ambulante Notfallversorgung entwickelt. Wo groß ist die Schnittmenge zum Konzept des Sachverständigenrates?

Ackermann: Die Schnittmenge ist groß, aber natürlich gibt es Unterschiede im Detail. Ob es zum Beispiel einen eigenen Leistungsbereich zum Rettungsdienst bzw. Notfallversorgung im Sozialgesetzbuch geben sollte, wie es der Sachverständigenrat vorschlägt, weiß ich nicht. Es müsste zumindest gleichzeitig geklärt werden, wer zum Beispiel die Investitionskosten für die Integrierten Notfallzentren trägt. Sonst kommt es am Ende wieder zu Quersubventionierungs-Effekten wie im Krankenhaussektor, wo die Länder Investitionen nicht ausreichend finanzieren und Mittel der Krankenkassen für Technik und Gebäude zweckentfremdet werden. Auf der anderen Seite böte ein gemeinsamer Leistungsbereich Notfallversorgung im Sozialgesetzbuch unter anderem die Chance, einheitliche Qualitäts- und Strukturparameter für den Rettungsdienst festzulegen, der heute sehr kommunal geprägt und zergliedert ist.

G+G: Sie hatten es schon erwähnt: Der Gemeinsame Bundesausschuss hat ein Stufenkonzept für die stationäre Notfallversorgung vorgelegt, das personelle und technische Mindeststandards in den Kliniken vorsieht. Ist das der richtige Weg?

Ackermann: Wir haben als AOK-Gemeinschaft immer wieder darauf hingewiesen, dass zu viele Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten in Kliniken eingeliefert werden, die über keine Stroke-Unit verfügen oder keinen Linksherzkatheter-Messplatz haben. Das muss sich ändern. Von daher geht das Konzept des Bundesausschusses in die richtige Richtung, wenn es – wie schon gesagt – mit den Vorschlägen des Sachverständigenrates für die ambulante Notfallversorgung verzahnt wird. Aufgrund der Krankenhausdichte, etwa im Ruhrgebiet, erwarte ich in Westfalen-Lippe übrigens deutlich intensivere Diskussionen darüber, welches Haus künftig noch an der stationären Notfallversorgung teilnimmt als in Schleswig-Holstein. Aber die AOK NordWest wird sich überall konstruktiv einbringen.

Hans-Bernhard Henkel-Hoving führte das Interview. Er ist Chefredakteur der G+G.
Bildnachweis: AOK NordWest