Analyse

Votum für die Zukunft

Die beiden Sondergutachten zum Risikostrukturausgleich liegen vor. Während die erste Expertise überzeugt, ist die zweite mit einigen Fragezeichen zu versehen. Eine Analyse von Prof. Dr. Klaus Jacobs

Die Bundesregierung will den Risikostrukturausgleich (RSA) in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unter Berücksichtigung der Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats weiterentwickeln. So stand es bereits im Koalitionsvertrag von Union und SPD, und so steht es auch im GKV-Versichertenentlastungsgesetz, das 2019 in Kraft treten soll. Gemeint sind die beiden Sondergutachten, die das Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegeben hatte: die Gesamtevaluation des RSA, die Ende November 2017 veröffentlicht worden ist, sowie die ergänzende Analyse von Regionaldimensionen, die der Wissenschaftliche Beirat Mitte Juli 2018 vorgelegt hat. Dass es zwei Gutachten gibt, hat allein datentechnische Gründe. Denn zum Zeitpunkt der Beauftragung des ersten Gutachtens lagen dem Beirat noch keine Regionaldaten vor.

Mittel gegen Risikoselektion.

In Bezug auf die Zielstellung des RSA befindet sich der Beirat in völliger Übereinstimmung mit der internationalen Gesundheitsökonomie. Danach wird in jedem wettbewerblichen Krankenversicherungssystem ohne risikoäquivalente Beiträge der Versicherten ein RSA benötigt. Dessen zentrale Aufgabe besteht darin, Risikoselektion zu vermeiden. Indem der RSA für die Krankenkassen über entsprechend adjustierte Zuweisungen Risikoäquivalenz herstellt, wird zugleich ein wesentlicher Beitrag zur Herstellung fairer Chancen im Kassenwettbewerb geleistet. Je größer die Zielgenauigkeit der Mittelzuweisungen entsprechend dem mittleren Ausgabenrisiko der Versicherten ist, desto geringer sind Wettbewerbsverzerrungen, die durch unterschiedlich verteilte Risiken entstehen. Damit ist der RSA ein wesentliches Element der GKV-Wettbewerbsordnung. Aber er ist gewiss nicht ihr einziges und somit auch nicht für die Lösung aller Wettbewerbsprobleme zuständig.

Allen Forderungen, die die Leistungsfähigkeit des RSA in seiner Kernfunktion beeinträchtigen, erteilt der Beirat eine Absage. Wer andere Ziele verfolgen will, zum Beispiel die Förderung von Prävention, setzt folglich bei der Ausgestaltung des RSA an der falschen Stelle an. Wer gar vorschlägt, den RSA neu zu denken, hat sich längst von den Erkenntnissen der Gesundheits- und Versicherungsökonomie verabschiedet. Das mag interessenpolitisch legitim sein, entspricht aber weder dem Reformvorhaben der Bundesregierung noch ihren hierzu erteilten Aufträgen an den Wissenschaftlichen Beirat.

Analyse auf der Versichertenebene.

Wenn das zentrale Ziel des RSA in der Vermeidung von Risikoselektion liegt, muss seine empirische Überprüfung primär auf die Versichertenebene abstellen. Dies erfolgt neben statistischen Gütemaßen auf der Individualebene vor allem durch die Analyse von Deckungsquoten von Versichertengruppen. Eine Verringerung der Unterschiede in den Deckungsquoten von Krankenkassen sieht der Beirat dagegen nicht per se als Verbesserung an. Diese Aussage steht im Widerspruch zur Kritik am bestehenden RSA, wonach manche Kassen mehr und manche Kassen weniger Geld bekämen, als sie für die Versorgung ihrer Versicherten bräuchten. Ein Ausgleich der tatsächlichen Ausgaben ist aber nicht die Aufgabe des RSA, der bewusst prospektiv ausgestaltet ist. Gemessen an den Ausgabenrisiken ihrer Versicherten erhalten alle Kassen identische Zuweisungen, allerdings geben manche mehr und andere weniger aus.

In die Irre führt nach Ansicht des Beirats die Betrachtung von Kassenarten. Diese stehen nicht miteinander im Wettbewerb um Versicherte, sondern allein die Einzelkassen, und zwar vielfach auch innerhalb derselben Kassenart. Dabei hat die Heterogenität der Kassen innerhalb der Kassenarten zugenommen. RSA-Reformen, von denen eine bestimmte Kassenart auf Kosten einer anderen profitieren würde, machen deshalb in wettbewerblicher Sicht keinen Sinn.

Festhalten an ambulanten Diagnosen.

Bei seiner ausführlichen Analyse der Ausgestaltung des Klassifikationsmodells geht der Beirat auch der Frage nach, ob auf die Verwendung ambulanter Diagnosen verzichtet werden kann. Hierzu wird geprüft, inwieweit ambulant behandelte Krankheiten durch Pharmakostengruppen abgebildet werden können, wie es etwa in den Niederlanden geschieht. Wegen des oft über mehrere Krankheiten streuenden Einsatzes von Arzneimitteln ginge das allerdings nicht bei einem begrenzten Krankheitsspektrum im RSA, sondern erfordert ein Krankheitsvollmodell. Doch auch dann hält der Beirat die Einführung von Pharmakostengruppen als Ersatz für ambulante Diagnosen nicht für zielführend. Mehr als 70 Prozent der Versicherten würden schlechter gedeckt, weil sowohl die Überdeckungen bei Gesunden als auch die Unterdeckungen bei Kranken zunähmen. Zudem werden nicht alle Krankheiten zwingend mit Arzneimitteln behandelt, weshalb das Kriterium der Versorgungsneutralität verletzt werden könnte.

Cover G+G Spezial 10_16

Lesetipp

G+G-Spezial 10/2016: „Risikostrukturausgleich: Mit Bedacht justieren. Positionen, Konzepte, Projekte.”

 Zur Ausgabe im Archiv

Vor diesem Hintergrund wendet sich der Beirat gegen einen Verzicht auf ambulante Diagnosen im RSA und schlägt eine Reihe von Maßnahmen zur Erhöhung der Manipulationsresistenz vor, unter anderem die Einführung von ambulanten Kodierrichtlinien. Den verstärkten Einsatz von Arzneimittelinformationen hält er gleichwohl für zweckmäßig, und zwar sowohl als Aufgreifkriterium zur Stärkung der Manipulationsresistenz als auch mittels zusätzlicher Pharmakostengruppen zur Verbesserung der Zielgenauigkeit.

Weiterentwicklung als Vollmodell.

Im Hinblick auf diese beiden Ziele, die Stärkung der Manipulationsresistenz und die Verbesserung der Zielgenauigkeit, empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen. Eine deutliche Verbesserung der Zielgenauigkeit des RSA verspricht insbesondere der Verzicht auf die Begrenzung der Berücksichtigung von maximal 80 Krankheiten. Stattdessen sollte das Klassifikationsmodell künftig als Vollmodell weiterentwickelt werden, also alle prospektiv ausgabenwirksamen Krankheiten umfassen. Allein dadurch könne die Überdeckung der Gesunden fast halbiert werden. Die aktuelle Begrenzung, die Jahr für Jahr eine aufwendige Auswahlprozedur verlangt, habe der Gesetzgeber ausdrücklich nur zeitlich begrenzt im Sinne einer gleitenden Einführung der direkten Morbiditätsorientierung des RSA vorgesehen.

Krankheitszuschläge stärker differenzieren.

Ein weiterer Reformvorschlag betrifft den Umgang mit Multimorbidität. Nach den Analysen des Beirats sind viele Versicherte mit mehreren zuschlagsrelevanten Krankheiten in höherem Alter überdeckt. Deshalb sollten bestimmte Krankheitszuschläge in Zukunft nach dem Alter der Versicherten differenziert werden.

In die Richtung einer stärkeren Differenzierung der Krankheitszuschläge geht auch der Vorschlag des Beirats zum Erwerbsminderungsstatus. Die Forderung, dieses Kriterium ersatzlos zu streichen, lehnt der Beirat ab, denn in diesem Fall würde eine mittlere Unterdeckung der Erwerbsminderungsrentner von 1.100 Euro pro Jahr starke Selektionsanreize gegen diese Versichertengruppe setzen. Allerdings sollte ihrer Heterogenität stärker Rechnung getragen werden, indem der Erwerbsminderungsstatus künftig zur Schweregraddifferenzierung von Krankheiten eingesetzt wird. Einem anderen Streichungsvorschlag begegnet der Beirat dagegen mit Sympathie: Die außerhalb des eigentlichen RSA erfolgende Zuweisung einer Programmkostenpauschale für Versicherte in Disease-Management-Programmen hält er für entbehrlich.

Die Finanzergebnisse hängen nur zu einem kleineren Teil von der regionalen Verteilung der Versicherten ab.

Damit sind die zentralen Reformvorschläge des ersten Sondergutachtens genannt, das insgesamt einen sehr stringenten Eindruck macht. Insoweit ist es kein Wunder, dass die Bundesregierung in Kenntnis dieses Gutachtens die Absicht bekundet hat, die Empfehlungen der Gutachter bei der Weiterentwicklung des RSA zu berücksichtigen. Erkennbar interessengeleitete Kritik, hier werde „noch mehr RSA“ vorgeschlagen, verkennt dagegen nicht nur den Auftrag der Gutachter, sondern verweist vor allem auf die eigene Orientierungslosigkeit.

Regionale Ausgabenunterschiede im Fokus.

Die Bewertung des Gutachtens zu den Regionaldimensionen muss deutlich zurückhaltender ausfallen. Denn hier erscheint keineswegs alles stringent. Doch zunächst zum Ausgangsproblem: Die GKV-Aus-gaben für die Gesundheitsversorgung unterscheiden sich stark zwischen einzelnen Regionen. Der heutige RSA gleicht diese Unterschiede bereits zu einem Gutteil aus, nämlich zu rund 60 Prozent. Damit verbleiben jedoch weiterhin regionale Ausgabenunterschiede, deren Ursachen jenseits der aktuellen RSA-Faktoren liegen. Ein Wettbewerbsproblem kann vor allem darin liegen, dass die Krankenkassen von Unterschieden in den regionalen Deckungsquoten unterschiedlich betroffen sind, weil sie nicht überall gleich stark vertreten sind. Außerdem sieht der Beirat die Gefahr von Anreizen zu regionaler Risikoselektion.

Die empirische Analyse scheint zunächst Erwartungen zu bestätigen, die im Vorfeld des Gutachtens geäußert wurden, etwa durch den Verband der Ersatzkassen in seinem Positionspapier zum RSA. Danach herrsche in den Ballungsgebieten eine größere Versorgungsdichte, weshalb die Ausgaben je Versicherten in städtischen Regionen deutlich höher seien als auf dem Land. Dies benachteilige Krankenkassen mit vielen Versicherten in den Städten. Tatsächlich kommt der Beirat zu dem Ergebnis, dass GKV-Versicherte in Großstadtregionen im Mittel eine Unterdeckung von 50 Euro pro Jahr aufweisen, das sind 1,9 Prozent der durchschnittlichen GKV-Leistungsausgaben ohne Krankengeld. Dagegen sind die Versicherten außerhalb von städtischen Ballungsräumen im Mittel mit 30 Euro pro Jahr überdeckt, also mit 1,1 Prozent der GKV-Durchschnittsausgaben je Versicherten.

Realität komplexer als die Erwartung.

Resultiert hieraus ein Anreiz zur Risikoselektion? Mit dem Ob oder gar dem Wie der pauschal als Gefahr angesehenen regionalen Risikoselektion setzt sich der Beirat leider nicht näher auseinander. Der hierzu allein zitierte Aufsatz von Sebastian Bauhoff von 2012 springt auch deutlich zu kurz. Kassenmanager wären jedenfalls schlecht beraten, würden sie sich etwa bei der Planung von Vertriebsaktivitäten an Regionstypen orientieren. Denn die kartografische Darstellung der regionalen Deckungsquoten im Gutachten des Beirats zeigt augenfällige Abweichungen. So sind etwa die Versicherten in Berlin und Stuttgart gar nicht unterdeckt, die in Bremen und Frankfurt am Main sogar überdeckt. Die höchste absolute Unterdeckung mit 260 Euro pro Kopf weisen nicht etwa Versicherte in Hamburg oder München auf, sondern im Kreis Vorpommern-Greifswald. Der war für ein besonders dichtes und teures Versorgungsangebot bislang eher nicht bekannt. Das gilt auch für die beiden nordhessischen Kreise Schwalm-Eder und Hersfeld-Rotenburg, die eine Deckungsquote von weniger als 96 Prozent der Ausgaben aufweisen. Wie passt das zusammen?

Dass die Realität sehr viel komplexer ist als manche Erwartung, zeigen auch die Erklärungsfaktoren für die verbleibenden Regionaldifferenzen. Der weitaus größte Teil resultiert nämlich aus Morbiditäts- und Mortalitätsvariablen, während der Einfluss der Angebotsvariablen eher gering ausfällt. Das Krankenhausangebot schafft es nicht einmal in die Top Ten der Erklärungsfaktoren. Bis ins Mark erschüttern müsste die Anhänger eines Regionalfaktors im RSA aber vor allem die folgende Aussage der Gutachter: „Die beobachteten Unterschiede in den Deckungssituationen von Krankenkassen sind nur zu einem kleineren Teil auf die Finanzwirkungen der regionalen Verteilung der Versicherten zurückzuführen.“ Mit dieser Erkenntnis hätte der Beirat seine Arbeit eigentlich beenden können.

Zweifelhafte Ergänzungsvorschläge.

Das haben die wissenschaftlichen Gutachter aber nicht getan. Vielmehr empfehlen sie die zeitnahe Aufnahme von zehn regionalstatistischen Merkmalen in das Klassifikationsmodell des RSA. Das soll zur Verminderung von regional bedingten Wettbewerbsverzerrungen führen, die – wie gerade gesehen – gar keine größere Rolle spielen, sowie zur Vermeidung von regionaler Risikoselektion, deren praktische Relevanz nicht belegt wird. Zudem sollen die vorgeschlagenen Merkmale im RSA-Modell allein wohnort- und nicht versichertenbezogen verwendet werden, obwohl sie sich überwiegend ohne großen Aufwand auf Versicherte beziehen lassen. Zumindest müsste diese Option wohl auch geprüft werden. Jedenfalls erscheint es nicht leicht vermittelbar, dass eine Krankenkasse für ihre Versicherten in einer Region allein deshalb höhere Zuweisungen bekäme, weil dort viele Pflegebedürftige mit hoher Sterblichkeit leben, selbst wenn diese großenteils in anderen Kassen versichert sind.

Aber auch die ergänzenden Vorschläge „auf mittlere Sicht“ vermögen nicht wirklich zu überzeugen, beginnend mit der Begründung für weiteren Handlungsbedarf. Dass der Beirat die nach Umsetzung des regionalstatistischen Modells verbleibende regionale Deckungsbeitragsvariation als „zu hoch“ erachtet, hätte man schon gern näher erläutert gehabt. Vor allem, wenn die allein wettbewerbsrelevanten Unterschiede in den Deckungsquoten von Krankenkassen bereits vor Umsetzung dieses Modells nur zu einem kleineren Teil auf der regionalen Verteilung der Versicherten basieren. Und wenn die ergänzend vorgeschlagene Reformoption eines Ausgleichs nach Deckungsbeitrags-Clustern gerade auf Kassenebene zu keiner weiteren Verbesserung gegenüber dem regionalstatistischen Modell führt, will sich die Logik dieses Vorschlags nicht recht erschließen. Denn mit ihm drohen verminderte Effizienzanreize bei den Kassen sowie eine Zementierung von Über-, Unter- und Fehlversorgung in den Regionen. Dass die alternative Reformoption regional differenzierter Zusatzbeiträge kaum substanzieller behandelt wird als schon im ersten Sondergutachten, sei nur der Vollständigkeit halber angeführt. Hierzu erfährt man leider nichts Neues.

Kein Grund zu Aktionismus.

Die Wissenschaft hat gesprochen, jetzt ist die Politik am Zug. Der sachlich nicht gerechtfertigte Alarmismus mancher RSA-Kritiker darf nicht zu Aktionismus der Politik führen. Dafür gibt es keinen Anlass, denn bereits „das aktuelle RSA-Verfahren ist eines der zielgenauesten seit Einführung eines Ausgleichssystems in Deutschland und überzeugt auch im internationalen Vergleich.“ Diese Aussage stammt nicht etwa vom Wissenschaftlichen Beirat, sondern von der Bundesregierung aus ihrer Antwort am 23. April 2018 auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. Recht hat sie!

Klaus Jacobs ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
Bildnachweis: iStock/roibu