Systemvergleich

Im Osten was Neues?

Junge Ärzte gehen in Hungerstreik, Fachkräfte verlassen ihre Heimat und überall fehlt es am Geld: In der Gesundheitsversorgung osteuropäischer Länder liegt fast 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einiges im Argen. Martina Merten skizziert am Beispiel Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei die aktuelle Lage.

Auf die Frage, was sich in den Ländern Mittel- und Osteuropas im Zuge des Transformationsprozesses in den letzten 30 Jahre geändert hat, fällt die Antwort eindeutig aus: alles. „Die Veränderungen, auch im Gesundheitswesen, sind gigantisch“, fasst es Dr. Otmar Kloiber, Generalsekretär des Weltärztebundes, zusammen. Alle ehemals kommunistischen Länder haben wenige Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Krankenversicherungssysteme eingeführt, einige (Polen, Ungarn, Slowenien und die Baltischen Staaten) basierend auf einem Single-Payer-System, also auf einer Einheitskasse für alle Bürger. Andere (Tschechien und Slowakei) basierend auf einem Zusammenspiel mehrerer Kassen, von denen meist eine den Großteil der Bevölkerung abdeckt.

Im stationären Sektor wurden größtenteils Fallpauschalen-Systeme eingeführt, Betten-Überkapazitäten abgebaut und es fanden Teilprivatisierungen statt. Im ambulanten Bereich führten die Regierungen in vielen Ländern Zuzahlungen für Patienten ein, immer abhängig davon, welche politische Strömung sich durchsetzen konnte. Häufig wurde der Hausarzt zum Arzt des ersten Kontakts aufgewertet. In den Gesundheitssystemen von Ländern wie Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei hat sich nach ihrer Öffnung nach Westen und dem Eintritt in die Europäische Union also vieles durchaus positiv entwickelt.

Fachkräfte sind unzufrieden.

Eines jedoch haben die Regierungen dieser Länder nicht in den Griff bekommen: die massive Unterfinanzierung, vor allem im stationären Sektor, gepaart mit der Unzufriedenheit der im Gesundheitswesen beschäftigten Fachkräfte.

„Unsere Gehälter sind niedrig, die Menge an Überstunden, die Ärzte leisten müssen, ist riesig, und das Weiterbildungssystem kann einfach nur als chaotisch beschrieben werden“, bringt es Dr. Milan Kubik, Präsident der Ärztekammer Tschechiens, auf den Punkt. Vor diesem Hintergrund hält Kubik es für nicht erstaunlich, dass gerade junge Ärzte das Land verlassen und Krankenschwestern in völlig andere Bereiche abwandern, beispielsweise in Büros und Sekretariate.

Tschechische Ärzte sponsern mit Überstunden das System.

Tschechien hat seit 1990 etliche Regierungswechsel hinter sich, die Gesundheitsminister kamen und gingen. In den Neunziger Jahre gab es in dem Land mit rund zehn Millionen Einwohnern fast zwanzig Krankenkassen. Alle diese Kassen boten gleiche Leistungskataloge an. Geblieben sind sieben Kassen. Zweidrittel der Bevölkerung sind bei der Allgemeinen Krankenkasse der Tschechischen Republik (VZP ČR) versichert.

Polen:

Der Narodowy Fundusz Zdrowia (Nationaler Gesundheitsfonds) ist die einzige Krankenkasse im Land und dem Gesundheits- und dem Finanzministerium untergeordnet. Die Kasse schließt Verträge mit Leistungserbringern ab. Es besteht Versicherungspflicht. Arbeitnehmer führen neun Prozent ihres Einkommens an den Nationalen Gesundheitsfonds ab.
 

Ungarn:

Einzige Krankenversicherung ist die Nationalkasse für Gesundheitsversicherung (NEAK) unter der Aufsicht der ungarischen Regierung. Es besteht Versicherungspflicht. Der Arbeitgeber beteiligt sich an den Sozialversicherungsbeiträgen seiner Angestellten, jedoch mit einem niedrigeren Anteil als die Arbeitnehmer selbst.
 

Tschechien:

Es gibt sieben Krankenkassen, die dem Gesundheitsministerium unterstehen. Zwei Drittel der Versicherten sind bei der Allgemeinen Krankenkasse der Tschechischen Republik. Arbeitnehmer zahlen 4,5 Prozent ihres monatlichen Bruttoeinkommens, Arbeitgeber tragen neun Prozent. Zwischen den Kassen findet ein Risikostrukturausgleich statt. Es besteht Versicherungspflicht.
 

Slowakei:

Es gibt drei Krankenversicherungen (eine davon in staatlicher Hand, zwei in Privatbesitz). Die größte ist die Allgemeine Krankenversicherung (VZP Slovakei), deren alleiniger Gesellschafter das Gesundheitsministerium ist. Dieses legt den Leistungskatalog der Kassen fest, bestimmt Verträge mit Leistungserbringern sowie Qualitätsansprüche und Wartezeiten. Es besteht Versicherungspflicht. Kassen werden über Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert.

Quellen: European Observatory on Health Systems and Policies: Health systems reviews (HiT series) of Poland, Slovakia, the Czech Republic and Hungary; WHO Country Profiles; OECD Health Statistics; Recherchen der Autorin

Beim tschechischen Krankenversicherungsmodell handelt es sich um eine Volks- beziehungsweise Bürgerversicherung mit Pflichtmitgliedschaft der Gesamtbevölkerung. Arbeitnehmer müssen monatlich 4,5 Prozent ihres sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens an die jeweilige Krankenkasse abführen, neun Prozent zahlt der Arbeitgeber. Selbstständige tragen alles allein. Beiträge für Menschen ohne eigenes Einkommen werden vom Staat übernommen.

Was in der Theorie machbar erscheint, funktioniert in der Praxis allerdings nicht. „Es ist nicht möglich, für nicht einmal acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts Gesundheitsdienste auf dem Niveau von Deutschland zu gewähren“, ärgert sich Kubik. Tschechiens Anteil für Gesundheit gemessen an dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt derzeit rund 7,7 Prozent.

Der Anteil der Eigenleistungen der Patienten an den gesamten Gesundheitsausgaben ist im Vergleich zu anderen OECD-Staaten mit 15,7 Prozent relativ niedrig. Die längste Zeit waren Patienten nicht bereit, für Gesundheit etwas auszugeben. Leistungen wurden als selbstverständlich angesehen. Wer doch etwas zu zahlen bereit war, tat dies lieber indirekt, also schwarz.

Mit dem Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP liegt Tschechien zwar mehr oder weniger auf Augenhöhe mit anderen ehemaligen Ostblockstaaten. Dennoch reicht dieser Betrag nicht, um den Investitionsstau an Kliniken und die Bedürfnisse der medizinischen Fachkräfte zu stillen.

„Ärzte und Krankenpfleger sind die unfreiwilligen Sponsoren dieses Systems“, beklagt der Ärztekammerpräsident. Nur weil sie Überstunden machen, sei das System noch nicht zusammengebrochen. Forderungen der Kammer an die Regierung nach mehr Geld und besserer Bezahlung der medizinischen Fachkräfte blieben bislang ungehört.

Patienten in Polen zahlen hohen Eigenanteil.

Die Probleme der Slowakei, Polens und auch Ungarns sind vergleichbar, wenn auch die Unzufriedenheit der jeweiligen Akteure zu unterschiedlichen Zeitpunkten hochkocht.

Vor etwas mehr als einem Jahr gingen polnische Ärzte in den Hungerstreik, um auf die auf ihrem Rücken ausgetragene Unterfinanzierung ihres Systems aufmerksam zu machen. Diese Unterfinanzierung zeigt sich auch an den Ärzteeinkommen. Gerade für Einsteiger betragen die Gehälter oftmals nicht mehr als einige hundert Euro. „Die polnische Regierung hat infolge des Streiks eine Anhebung der Gehälter in Aussicht gestellt“, erklärt Domen Podnar, bei der Bundesärztekammer (BÄK) Referent für internationale Angelegenheiten.

Eine der Folgen der aus der Unterfinanzierung resultierenden Unzufriedenheit ist die geringe Ärztedichte: Auf 1.000 Einwohner kommen in Polen 2,2 Ärzte. Das liegt weit unter dem OECD-Durchschnitt von 3,2 Ärzten auf 1.000 Einwohner.

Polen, mit knapp 40 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste der vier Vergleichsländer, gibt nur 6,4 Prozent seines BIP für Gesundheit aus. Hoch sind dagegen die Eigenleistungen der Patienten: Knapp 25 Prozent der Gesundheitsausgaben zahlen sie aus der eigenen Tasche. Es gibt eine einzige Krankenkasse im Land, den Nationalen Gesundheitsfonds. Der hohe Eigenanteil der Patienten ist ein Hinweis darauf, dass der Leistungskatalog in Polen weitaus schmaler ist als in Tschechien.

Nicht ohne Grund bezeichnete der ehemalige Vizepräsident der niederschlesischen Ärztekammer in Breslau, Dr. Joséf Lula, das polnische System bereits Anfang 2000 als „Fortführung des kommunistischen Systems unter dem Deckmantel eines demokratischen, allerdings ohne Geld“.

In Ungarn fehlen Mediziner mittleren Alters.

Dr. István Eger wünscht sich für das Gesundheitswesen seines Landes – Ungarn – auch mehr Geld. Der Präsident der ungarischen Ärztekammer glaubt an eine andere Quelle: die Abschaffung der Schwarzgeldzahlungen. Das, was derzeit von den Patienten in die illegale Bezahlung von Ärzten fließe, könne auch anders eingesetzt werden, findet Eger. Mehr sagt er nicht. Grundsätzlich hält er die Ausgaben Ungarns für Gesundheit mit 7,4 Prozent vom BIP für zu niedrig. Die Nationalkasse für Gesundheitsversicherung, die einzige Kasse im Land, benötige mehr Geld, insbesondere für die Finanzierung der Instandhaltung von Krankenhäusern.

In Ungarn haben sich viele Jahre lang nicht genug Menschen für den Arztberuf interessiert.

Von der Regierung um Victor Orbán erhofft Eger sich Einsicht, vor allem, was die Bezahlung von ärztlichem Personal angeht. Da sich viele Jahre lang nicht ausreichend Menschen für den Arztberuf interessiert haben, belastet inzwischen noch etwas anderes das dortige System: Es fehlt an Medizinern mittleren Alters. „Das hat dazu geführt, dass inzwischen kaum noch Ärzte da sind, welche die jungen Ärzte anleiten können. Die ärztliche Weiterbildung in Ungarn ist damit grundlegend gefährdet“, bringt es Domen Podnar von der BÄK auf den Punkt.

Ineffiziente Strukturen in der Slowakei.

Ein Mangel an Ärzten und Krankenschwestern belastet auch das slowakische Gesundheitssystem. Auf 1.000 Einwohner kommen lediglich 6,1 Krankenschwestern und drei Ärzte (EU-Durchschnitt: 8,5; 3,5). 45 Prozent der Ärzte sind derzeit älter als 50 Jahre, geht aus den jüngsten „Health Systems Reviews“ des European Observatory über die Slowakei aus 2016 hervor. Neben diesem Mangel leide das kleine Land noch immer an ineffizienten, korrupten Strukturen, beklagt die dortige Ärztekammer in einem Bericht für das einmal jährlich stattfindende Symposium der Mittel- und Osteuropäischen Ärztekammern (ZEVA; 2014 fand das Treffen der Kammern in Bratislava statt).

Ein Bericht des slowakischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2016 kritisiert ähnliches: Die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit gemessen am BIP liegen mit 5,5 Prozent zwar höher als in Polen, Ungarn und Tschechien. Dennoch schnitten diese Länder weitaus besser ab, wenn es um vermeidbare Todesfälle oder Lebenserwartung ging. Sprich: Es mangelt an Effizienz.  

Viele Fachkräfte wandern nach Westen ab.

Unzufriedenheit mit der Ineffizienz der heimischen Systeme, gepaart mit niedrigen Gehältern, hat Massen an Ärzten ins westliche Ausland abwandern lassen, auch nach Deutschland. Nach Angaben der Bundesärztekammer ist die Zahl der ausländischen Ärzte im Jahr 2016 um knapp zehn Prozent auf 46.721 gestiegen. Ein Großteil dieser Ärztinnen und Ärzte (mehr als 30.000) stammt aus anderen europäischen Staaten. Ungarn liegt mit 119 Ärzten unter den Top Ten der Herkunftsländer. Aus Polen kamen 2016 knapp 100 Ärzte erstmals nach Deutschland – 2,1 Prozent mehr als noch im Vorjahr.

Doch nicht nur das. Auch zieht es nach wie vor Pflegefach- und Betreuungskräfte aus Osteuropa in stationäre und ambulante Einrichtungen nach Deutschland. Außerdem kommen private Haushalte für viele osteuropäische Pflegekräfte für die Erwerbstätigkeit infrage. Nach Angaben des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP) ist von „vielen Tausenden“ Pflegefachkräften auszugehen. Hinzu kommen mehr als 200.000 Betreuungskräfte in Haushalten.

Der Hauptgrund für die Entscheidung, in Deutschland zu arbeiten, ist immer derselbe: die Vergütung, sagt Friedhelm Fiedler, Vizepräsident des AGVP. Zudem waren die Bedingungen gerade in der Altenpflege in Mittel- und Osteuropa viele Jahre deutlich schlechter als bei uns, so Fiedler. „Inzwischen holt allerdings die Demografie auch Osteuropa ein. Deshalb wird seit einigen Jahren auch dort viel in die Pflege und Betreuung alter Menschen investiert.“ Manche Länder, so Polen, investierten sogar in private Pflegeheime für deutsche Senioren, erzählt Nicole Heidt, Marketingleiterin beim Vermittlungsunternehmen „Sofiapflege“ mit Sitz in Stuttgart. Auch diese Heime brauchen Personal.

Außerdem steigen die Gehälter in der Pflege in Osteuropa langsam an. Der AGVP rechnet damit, dass manche Pflegefachkräfte, die derzeit in Deutschland arbeiten, wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, sollten sich die Rahmenbedingungen weiter verbessern.

In Osteuropa ist Pflege Familiensache.

Noch findet die Pflege in den meisten osteuropäischen Ländern überwiegend innerhalb der Familie statt. Etwas anderes könne sich ein Großteil der Menschen nicht leisten, sagt die Ungarin Anna Mester, die seit Jahrzehnten in deutschen Haushalten als private Betreuungskraft arbeitet und damit ein auskömmliches Gehalt erzielt. In einem ungarischen Pflegeheim hat Mester nie gearbeitet. In drei Jahren will die Anfang Sechzigjährige zurück in ihre Heimat gehen. Sie ist dann am Ende ihres Berufslebens angekommen.

Viele stehen allerdings erst am Anfang. Wenn die Regierungen in Osteuropa nicht verstünden, wie wichtig ein vernünftiges Einkommen für geleistete Arbeit ist – sei es als Arzt, Krankenschwester oder in der Pflege – sieht Otmar Kloiber vom Weltärztebund Probleme auf die Länder zukommen. Derzeit mangelt es Kloiber zufolge vielen Regierungen allerdings an beidem: am Verständnis für die Situation und am Willen sie zu ändern.

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Martina Merten arbeitet als Fachjournalistin für Gesundheitspolitik in Berlin.
Bildnachweis: iStock/Petar Mulaj