Portrait
Kommentar

Der Lernprozess beginnt erst

Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens hinkt Deutschland hinterher, so eine Studie. Um den Anschluss nicht zu verlieren, brauche es mehr politischen Mut, meint Rebecca Beerheide.

Digitale Welten bringen

Veränderungen mit sich, die Beteiligte zu Beginn nicht einschätzen können: Zu spannend, zu faszinierend sind die Möglichkeiten, die sich eröffnen. Parallel dazu wird die Sorge über die Folgen der Veränderungen wahlweise unterschätzt, überschätzt, kleingeredet oder schlichtweg ignoriert. Das haben schon viele Branchen erlebt – und seit einiger Zeit steht dieser Wandel auch dem deutschen Gesundheitswesen bevor.

Aktuell wird Deutschland in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung bescheinigt, dass das hochgelobte deutsche Gesundheitswesen bei der Digitalisierung im europäischen Vergleich am Ende der Bewertungsskala liegt. Zeitgleich präsentieren Start-ups und größere Unternehmen ihre Pläne auf Konferenzen und schillernden Events. Und einige der Neuheiten haben via Selektivvertrag bereits Einzug in die Versorgung gehalten und zeigen, was funktionieren könnte. Und was nicht – denn auch das Scheitern gehört zur Digitalisierung, es ist ein Teil des Lernprozesses.

Viele Gesetze sind auf eine digitalere Welt umzustellen.

Im Gesundheitswesen kennt man schon länger Phasen des Scheiterns und der Verzögerung, sobald es um digitale Neuerungen geht. Über viele Jahre bestehende – auch technische – Probleme bei der eCard oder den Konnektoren sind da nur zwei Beispiele. Das hat eine gewisse Zurückhaltung bei allen Akteuren in der Vergangenheit befördert. Auch deshalb sind mutige Schritte in die digitale Welt seltener anzutreffen.

Auch die Politik ist zögerlich. Sie versteckt beispielsweise die aktuell größte Veränderung im Gesundheitsbereich in einem anderen Gesetz: Die elektronischen Patientenakten stehen bei den Krankenkassen kurz vor dem Start – gesetzgebungstechnisch wird die Verpflichtung, den Versicherten bis 2021 eine Akte zur Verfügung zu stellen, im Terminservice- und Versorgungsgesetz angehängt. Etwas mehr politische Inszenierung dieses Meilensteines hätte man erwarten können.

Bei der Gestaltung der Digitalisierung wird Deutschland seinen eigenen Weg finden müssen, der Blick in die EU-Nachbarländer hilft nicht. Denn eine viel größere Aufgabe wartet: Das für analoge Welten gedachte Fünfte Sozialgesetzbuch – und natürlich auch andere Gesetzeswerke – ist Paragraf für Paragraf auf eine digitalere Welt der Krankenkassen und der medizinische Versorgung umzustellen. Das dauert und braucht viel politischen Mut.

Rebecca Beerheide ist Leiterin der Politischen Redaktion beim Deutschen Ärzteblatt.
Bildnachweis: privat