Interview

„Wir sehen Anzeichen eines Politikwandels“

Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei haben Gesundheitssysteme nach westlichem Muster etabliert. Heute stehen sie vor großen Herausforderungen wie beispielsweise der Unterfinanzierung. Welche Antworten die Regierungen geben, erläutert Anne Spranger.

Frau Spranger, die Gesundheitssysteme Osteuropas haben einen großen Wandel hinter sich. Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen den Systemen in Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei?

Anne Spranger: Alle vier genannten Länder sind von der Organisationsstruktur des sogenannten Semashko-Modells geprägt. Nikolai A. Semashko war der erste Gesundheitsminister der Sowjetunion. Als Semashko-Modelle werden Modelle mit vollständiger staatlicher Lenkung, Finanzierung und Organisation bezeichnet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich die vier Länder in den 1990er Jahren für ein Krankenversicherungssystem entschieden. Dabei sind die organisatorischen Unterschiede allerdings gewaltig und stehen stellvertretend für die Vielfalt an Krankenversicherungssystemen in der Europäischen Union.

Portrait Anne Spranger

Zur Person

Anne Spranger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Dr. Reinhard Busse, Fachgebiet Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und im European Observatory on Health Systems and Policies. Zu ihren Forschungsbereichen gehören der Gesundheitssystemvergleich sowie Zentral- und Osteuropa.

Worin zeigen sich die Unterschiede?

Spranger: Tschechien hat ein der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung sehr ähnliches System aufgebaut, das nur wenige wesentliche Reformen durchlaufen hat. Die Slowakei hingegen hat in den frühen 2000er Jahren Wettbewerbselemente und freie Preisgestaltung in den Krankenversicherungsmarkt eingeführt. Einige Kernpunkte, so beispielsweise ein Netzwerk aus verpflichtenden, staatlich organisierten Krankenhäusern, sind bis heute Anlass zu politischen Diskussionen. Ungarn und Polen wiederum haben sich für ein Single-Payer-Modell mit einer starken Rolle für das Gesundheitsministerium entschieden. In Ungarn sehen wir besonders in den letzten Jahren erneut eine Tendenz zur weiteren Konzentration von Kompetenzen und Institutionen im Ministerium für humane Kapazitäten, das auch für das Gesundheitssystem zuständig ist. Polen hat zunächst 17 relativ autonome Krankenkassen auf regionaler Ebene etabliert, die dann aber zusammengelegt wurden.

Welche dieser Länder haben den Wandel gut bewältigt oder sind zumindest auf dem Wege dahin?

Spranger: Den Wandel zu Krankenversicherungssystemen haben alle vier Länder bereits in den 1990er Jahren vollzogen, zuletzt Polen 1999. Sie haben sich durch weitere Reformen organisatorisch voneinander entfernt. Wir sehen aber auch eine Divergenz von verschiedenen Indikatoren, die den Einfluss des Gesundheitssystems auf die Bevölkerungsgesundheit messen. Schon auf der Ebene der Lebenserwartung ergibt sich eine Lücke von mehr als zwei Jahren zwischen Tschechien und der Slowakei. Bei der Kindersterblichkeit unter einem Jahr ist Tschechien 2017 mit 2,8 deutlicher Gewinner und die Slowakei das Schlusslicht. Bei einigen Indikatoren, die auch die qualitative Versorgung mit einbeziehen, schneidet Polen durchschnittlich besser ab als zum Beispiel Ungarn.

Vor welchen Herausforderungen stehen die vier Länder heute?

Spranger: Insgesamt stellt sich die Frage nach der allokativen Effizienz der Gesundheitssysteme. Ungarn verwendet rund 30 Prozent seiner Mittel auf die stationäre Versorgung von Patientinnen und Patienten, fast zehn Prozentpunkte mehr als im Nachbarland Tschechien. Dazu kommen noch fast 29 Prozent für die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln. Alle vier Länder stehen zudem vor der Aufgabe, ihr öffentliches Gesundheitssystem auf neue Herausforderungen einzustellen. Dazu gehören vor allem die weiterhin hohen Sterblichkeitsraten an Herz-Kreislauf-Krankheiten. Auch wurde während der letzten Jahre besonders in diesem Bereich eingespart, und es ist abzusehen, dass wesentlich weniger Nachwuchs zur Verfügung steht. Die bessere Koordination zwischen verschiedenen Sektoren ist eine andere Aufgabe; alle vier Länder bemühen sich um die Einführung eines elektronischen Datenaustausches – mit unterschiedlichem Erfolg.

Inwiefern kann die Europäische Union dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung in Osteuropa zu verbessern?

Spranger: Die Europäische Union hat in den letzten Jahren bereits mehrfach Empfehlungen ausgesprochen. In den länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters 2017 zum Beispiel wurden einige der oben genannten Herausforderungen ausgeführt. Ein weiterer Punkt ist die schwierige Finanzierungsgrundlage der Gesundheitssysteme. Die Europäische Union bemängelt auch die viel zu knappen Kapazitäten für die Langzeitpflege: So verwendete die Slowakei 2015 nur 0,33 Prozent der Gesundheitsausgaben für diesen Bereich. Zwar gibt es dazu parallele Systeme unter den Sozialministerien, was durchaus Koordinationsprobleme mit sich bringt. Allerdings ist dies auch zusammengenommen zu wenig für die Bevölkerungen in den vier Ländern. Ein weniger technisches Instrument der Europäischen Kommission, aus dem sich Empfehlungen ableiten lassen, ist die Initiative „Gesundheitszustand in der EU“, die auch eine Analyse der Gesundheitssysteme vornimmt und 2017 erstmals publiziert wurde.

Die Länderregierungen sind sich der Unterfinanzierung wohl bewusst.

Viele Fachkräfte aus osteuropäischen Ländern suchen ihr Glück im Westen Europas. Was heißt das für die Herkunftsländer?

Spranger: Dies ist in der Tat eines der größten Probleme der vier Länder, auch wenn man die Migration nicht isoliert betrachten sollte. Vielmehr kommen sich negativ beeinflussende Faktoren zusammen, die sich jetzt schon im Zugang zum Gesundheitssystem bemerkbar machen. Die vier Länder haben sich deutlich bemüht, der Primärversorgung einen höheren Stellenwert einzuräumen, finden aber kaum noch junge Hausärztinnen und Hausärzte. Dazu kommen die im EU-weiten Vergleich immer noch niedrigen Einkommen, die deutliche Ballung in den Großstädten, insbesondere in den Hauptstädten Prag und Bratislava, sowie komplizierte Ausbildungsordnungen und Statuten. Deshalb wird das Berufsbild Pflege zum Beispiel als kaum noch attraktiv angesehen. Ein Hauptteil der derzeit stattfindenden Gesundheitsversorgung tragen Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenschwestern, die in den nächsten zehn bis 15 Jahren in den Ruhestand gehen. Dazu kommt aber auch ein Mangel an Strategien zur Aus- und Fortbildung von Fachkräften. Bisher gibt es nur vereinzelte Initiativen zur Nachbesetzung von Arztpraxen zum Beispiel.

Welche Chancen haben die Gesundheitssysteme Osteuropas, die Unterfinanzierung in den Griff zu bekommen?

Spranger: Die Länderregierungen sind sich der Unterfinanzierung wohl bewusst. Ein Hinweis auf fehlende Mittel sind zum Beispiel die regelmäßig auflaufenden Schulden von Krankenhäusern in den vier Ländern. Aber wir sehen bereits Anzeichen eines Politikwandels, zum Beispiel in Polen. Allerdings haben die Länder unterschiedliche Antworten auf das Problem der Unterfinanzierung. Polen und Ungarn setzen vermehrt auf private Gesundheitsausgaben – in Ungarn sind mittlerweile mit die höchsten privaten Gesundheitsausgaben in der Europäischen Union zu verzeichnen. Tschechien hingegen bezahlt über sein Finanzministerium den Beitrag zur Krankenversicherung für fast 57 Prozent seiner Bevölkerung und hat diesen Beitrag in der Vergangenheit auch immer wieder erhöht.

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Änne Töpfer stellte die Fragen. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: TU Berlin