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Chronische Expertitis

Kein Tag ohne eine brandaktuelle Studie. 24 Stunden am Tag kreisen Experten für alles und jeden um unser Wohlergehen. Wir leiden längst unter chronischer Expertitis. Wie wäre es deshalb mit einer Entschlackungskur in Bad EbM? Rezeptfreie Anmerkungen von Thomas Rottschäfer.

Gesundheit zusammen!

„Eine neue Studie sagt …“ – Kennt man, oder? Kein Tag ohne brandaktuelle Studie vom Institut Dings oder von der Universität Bums. Irgendein Experte, irgendeine Expertin hat immer war ganz Wichtiges erforscht.

Leider benehmen sich unsere Experten wie Helikoptereltern. Von morgens bis abends kreisen ihre Zeigefinger über uns. Sie warnen, mahnen und raten auf allen Kanälen, meinen es natürlich gut und wissen alles besser. Vor allem in Gesundheitsdingen sind wir 24 Stunden täglich in Expertise gebettet.

ToRo zum Hören:

Wie wir schlafen, was wir essen, wie viel wir trinken,

wie wir sitzen, stehen, liegen, joggen: Für alles gibt es Langzeit-, Kurzzeit-, Längsschnitt-, Querschnitt- oder doppelblinde Kohortenstudien. Und weil Wissenschaft unbestechlich ist, gibt es zu jeder Expertise über kurz oder lang eine Gegenstudie. Jahrelang hat uns aus dem Eierbecher frech das pure Böse angegrinst. Inzwischen wissen wir, dass es auch gut gelauntes Cholesterin gibt.Wer vor zehn Jahren schon sein Testament gemacht hat, weil er zwanzig Tassen Koffein am Tag wegschlürft, der wird nach neueren Studien noch seine Erben überleben.

Vor einigen Wochen ist eine Studie über Psychologiestudien erschienen. 200 Wissenschaftler haben in 100 Laboren weltweit 28 wichtige Studien wiederholt. Gerade mal die Hälfte ergab ein ähnliches Ergebnis wie das Original, einige sogar das genaue Gegenteil. Leider stärkt die chronische Expertitis bei immer mehr Menschen natürliche Abwehrkräfte gegen erprobtes Wissen. Dafür sind die munteren Impfgegner nur ein Beispiel.

Da hilft nur eine radikale Expertise-Entschlackung.

Am besten in Bad EbM. Dort setzt man auf evidenzbasierte Medizin. Klingt komplizierter als Ohrenschmalz-Forschung. Ist es auch. Denn die Vertreter der evidenzbasierten Medizin wuseln sich durch alle weltweit verfügbaren Studien, die es zu einer Behandlungsmethode oder zu einem Medikament gibt. Sie trennen sozusagen die Adelsexperten, die ihr Wissen aus drei Besuchen beim Friseur beziehen, von den Wissenschaftlern, die ihre Aufgabe und Verantwortung ernst nehmen.

Kein leichter Job in Zeiten von Social Media, Fake-News und Filterblasen. Gefragt sind halt Ohrenschmalz-Experten, die tausend Seiten Studie in fünf Sekunden auf den Punkt bringen. Länger können wir uns ja eh nicht mehr konzentrieren. Hallo? Hallo! Hört mir noch jemand zu?

Deshalb überlegen die EbM-Experten gerade, wie man schwere wissenschaftliche Kost mund- und mediengerecht aufbereiten kann. So, dass am Ende sogar jemand wie US-Präsident Trump mehr als die Überschrift liest … Aber warum immer gleich das Unmögliche denken.

Gute Besserung!

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist.
Bildnachweis: privat