Portrait
Vorstand gefragt!

„An erster Stelle steht der Schutz der Versicherten“

Die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland ist Falschabrechnern und Betrügern im Gesundheitswesen erfolgreich auf der Spur. Um Fehlverhalten noch besser bekämpfen zu können, will Vorstandschefin Dr. Martina Niemeyer (52) künftig auch digitale Analyseinstrumente einsetzen.

G+G: Frau Dr. Niemeyer, in den Jahren 2016 und 2017 hat die AOK Rheinland-Pfalz mit 2,8 Millionen Euro die höchste Schadenssumme seit mehr als zehn Jahren aufgedeckt. Warum nehmen die Tricksereien in Medizin und Pflege immer mehr zu?

Dr. Martina Niemeyer: Um es vorab klar zu betonen: Die Arbeit der Gesundheitspartner in Rheinland-Pfalz und dem Saarland ist sehr gut. Dennoch stellen wir fest, dass substantielle Verdachtshinweise zu Betrugsfällen insgesamt zunehmen. Spätestens seit Inkrafttreten der gesetzlichen Grundlagen im Jahre 2004, die zur Einrichtung der Fehlverhaltensbekämpfungsstellen im Gesundheitswesen führten, befassen sich die meisten Krankenkassen noch fokussierter mit der Bekämpfung von Fehlverhalten. Außerdem hat sich nicht nur auf Seiten der Krankenkassen selbst, sondern auch bei den Strafermittlungsbehörden, sprich den Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften einiges getan. So zum Beispiel die steigende Spezialisierung bei der Aufdeckung von Betrugs- sowie Korruptionsfällen im Gesundheitswesen. Zugleich wurden Aufklärung und Prävention stetig intensiviert. Für ein hohes öffentliches Interesse und zur Sensibilisierung aller Betroffenen führte zudem die bundesweit zunehmende Berichterstattung in den Medien. Dadurch wurden insbesondere potentielle Taten effektiv unterbunden – bekannt auch als „Schutzmanneffekt“.

G+G: Wo wird besonders häufig betrogen?

Niemeyer: Eine berechtigte Frage, die einer differenzierten Antwort bedarf. Auch wenn der Schadensschwerpunkt bei der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland und auch insgesamt in der gesetzlichen Krankenversicherung jüngst im Bereich der Pflege lag, so muss aus Erfahrungswerten der letzten Jahre der Schluss gezogen werden, dass zum einen sich Schadensschwerpunkte regelmäßig verändern und zum anderen die Schäden sich grundsätzlich auf alle möglichen Leistungsbereiche verteilen. Letztendlich ist der jeweilige Schadensschwerpunkt in einem einzelnen Berichtszeitraum auch immer von den vorangegangenen Ermittlungsmöglichkeiten und -bemühungen sowie von aktuellen Ermittlungserfolgen beeinflusst. Es darf also nicht voreilig die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es sich bei einzelnen Leistungserbringern, um die Gruppe mit der vermeintlich höchsten kriminellen Energie handelt. Das wäre ein Trugschluss.

G+G: Jenseits des finanziellen Schadens: Warum ist die AOK so engagiert hinter Betrügern hinterher?

Niemeyer: An erster Stelle steht der Schutz der Versicherten. So gilt unser besonderes Augenmerk Fällen, in denen neben dem Abrechnungsbetrug zusätzlich die Patientensicherheit gefährdet sein könnte – so zum Beispiel bei Abrechnungen von nicht qualifikationsgerecht erbrachten Leistungen. Zudem sehen wir uns der Versichertengemeinschaft im hohen Maße verantwortlich. Um es klar zu sagen: Wir nehmen unsere gesetzliche Aufgabe zur Fehlverhaltensbekämpfung ausdrücklich sehr ernst. Denn letztlich geht es um das Geld der Beitragszahler, das nicht mehr für die Versorgung kranker und pflegebedürftiger Menschen zur Verfügung steht. 
Oder um es in einem Satz zusammenzufassen: Bei unserem Engagement gegen Abrechnungsbetrug und Korruption geht es uns ausdrücklich nicht um die Kriminalisierung bestimmter Personen- beziehungsweise Berufsgruppen, sondern um die konsequente Interessenvertretung aller ehrlichen Beitragszahler und Leistungserbringer

G+G: Macht das komplizierte Abrechnungssystem im Gesundheitswesen es den Falschabrechnern und Schwindlern leicht und wie ließe sich am besten gegensteuern?

Niemeyer: Eindeutig ja! Es muss ein Mehr an Transparenz in den Beziehungen zwischen allen Gesundheitspartnern geschaffen werden. Transparente Vorgänge sind das beste Präventionsmittel, um Fehlverhalten im Gesundheitswesen zu vermeiden. Wichtig ist auch der Austausch der Krankenkassen miteinander. Daher haben sich in Rheinland-Pfalz und dem Saarland bereits im Jahr 2010 die Krankenkassen in einer Arbeitsgruppe zusammengeschlossen, um dort, wo es geht, koordiniert und somit noch effektiver Abrechnungsbetrug zu bekämpfen.

G+G: Was könnte die Politik im Einzelnen tun, um schwarzen Schafen schneller auf die Schliche zu kommen?

Niemeyer: Die Politik muss sich fragen, wie können wir besser werden. Sie hat das Thema auf dem Schirm und bereits viele sinnvolle Verbesserungen auf den Weg gebracht. So wurden beispielsweise im Zuge der Pflegestärkungsgesetze die Möglichkeiten für Krankenkassen ausgeweitet. Das allein reicht aber natürlich nicht – wir wünschen uns eindeutig mehr: Als Beispiele sind hier insbesondere die Einrichtung von flächendeckenden Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Straftaten im Gesundheitswesen und der Ausbau des Hinweisgeberschutzes zu nennen. Dies könnte die wichtige Arbeit bei Staatsanwaltschaften, Gerichten, Polizeidienststellen und Fehlverhaltensbekämpfungsstellen vereinfachen und zugleich priorisieren.

G+G: Braucht es noch mehr Kontrolle von Seiten der Krankenkassen?

Niemeyer: Die Digitalisierung ist der Schlüssel: Durch die fortschreitenden digitalen Prozesse kann insbesondere bei erfolgreich aufgedeckten Fällen von Abrechnungsbetrug und Korruption das betreffende Tatmuster immer häufiger bestimmten Auffälligkeiten im Datenbestand einer Krankenkasse zugeordnet werden. Von daher braucht es vor allen Dingen mehr digitale Professionalität, um diese Aufgreifkriterien im Sinne frühestmöglicher Entdeckung weiterer Fälle und damit für eine verbesserte Schadensvermeidung nutzbar zu machen. Im zielgerichteten Einsatz modernster Analysesoftware bis hin zu Data Mining Tools sehe ich eine große Chance!

Hans-Bernhard Henkel-Hoving führte das Interview.
Bildnachweis: AOK Rheinland-Pfalz/Saarland