Interview

„Inklusion verändert uns alle positiv“

Arztpraxen ohne Rampe machen ihr das Leben unnötig schwer, sagt Sandra Roth. Die Mutter einer schwer mehrfach behinderten Tochter wünscht sich eine Gesellschaft, die für alle offen ist. Dazu gehört für sie eine Normalität im Umgang miteinander.

Frau Roth, in Ihrem Buch berichten Sie von der schwierigen Suche nach einer geeigneten Schule für Ihre Tochter. Wie gefällt es Lotta heute in der Schule?

Sandra Roth: Lotta ist ein richtiger Fan. Sie ist mittlerweile neun Jahre alt und geht in die dritte Klasse. Wenn der Wecker morgens klingelt, fängt sie an zu lachen und freut sich, dass es wieder in die Schule geht. Sie mag sogar Hausaufgaben – sie ist eben ein Streber, wie ihr Bruder sagt.

Portrait Sandra Roth

Zur Person

Sandra Roth erzählt in ihren Büchern „Lotta Wundertüte“ und „Lotta Schultüte“ vom Leben mit ihrer behinderten Tochter und ihrer Suche nach einer inklusiven Gesellschaft. Roth arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Köln.

Was bedeutet für Sie Inklusion?

Roth: Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch – unabhängig von Hintergrund oder Behinderung – dabei sein kann. Nicht der Einzelne muss die Fähigkeiten dafür mitbringen, sondern eine Gesellschaft schafft die geeigneten Voraussetzungen. Dazu gehören tieferhängende Bankautomaten für Rollstuhlfahrer und Informationsmaterialien in leichter Sprache. Ganz konkret heißt Inklusion, dass es bei einer Kinderführung im Zoo auch Materialien zum Anfassen gibt. So kann Lotta, die nicht sehen kann, einen Elefantenzahn erfühlen, und das machen dann auch die Kinder ohne Behinderung gerne. Inklusion kann alle bereichern.

Inwiefern unterscheidet sich Inklusion in Deutschland von anderen Ländern?

Roth: In Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein sehr ausdifferenziertes Förderschulsystem entwickelt. Andere Länder, wie beispielsweise Italien oder die USA haben bereits in den siebziger Jahren umfassend mit dem gemeinsamen Unterricht begonnen. Dort kann man erleben, wie Inklusion uns alle positiv verändern kann. Wenn sich Menschen mit und ohne Behinderung bereits in der Schule oder im Museum begegnen, wird das Alltag, Normalität. Inklusion betrifft unser gesamtes Miteinander.

Ich wünsche mir, dass die Leute das Kind sehen und nicht den Rollstuhl.

Die Behinderung meiner Tochter ist nichts, was mich nachts wach hält. Aber eine fehlende Rampe beim Arzt macht mir unser Leben unnötig schwer. Das Problem ist nicht die Behinderung, sondern der gesellschaftliche Umgang damit.

Förderschule versus inklusive Schule: Wo sehen Sie Chancen, wo Grenzen der beiden Modelle?

Roth: Wir haben uns nach langer Suche für eine Förderschule entschieden, weil sie unter den Schulen, die wir gesehen haben, am meisten gezielte Förderung bietet. Unsere Tochter ist dort sehr glücklich. Gleichzeitig benötigen wir als Gesellschaft etwas anderes. Schulische Inklusion bedeutet nicht einfach, Kinder mit und ohne Behinderung in einen Raum zu setzen. Viele Lehrer fühlen sich alleingelassen mit der Herausforderung, so unterschiedliche Schüler zu unterrichten. Für erfolgreiche Inklusion brauchen wir politische Rahmenbedingungen: zum Beispiel Doppelbesetzung, barrierefreie Schulen, verpflichtende Weiterbildung. Und gleichzeitig brauchen wir die Haltung dazu, den Mut, sich auf Kinder wie Lotta einzulassen.

Was wünschen Sie sich von Ihren Mitmenschen im Umgang mit Kindern wie Lotta?

Roth: Ich wünsche mir, dass die Leute das Kind sehen und nicht den Rollstuhl. Meine Tochter ist in erster Linie einfach ein Kind, erst danach blond oder behindert. Die Welt soll sehen, wie lustig, charmant und schadenfroh Lotta ist. Sie braucht keine Sonderrolle, man kann sie auch mal anmeckern. Ich wünsche mir, dass die Menschen ihr so begegnen, wie ihrem Bruder – mit Selbstverständlichkeit.

Tina Stähler stellte die Fragen. Sie ist Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: Anké Hunscha