Interview

„Faktenbasierte Entscheidung treffen“

Um sich für oder gegen die Krebsfrüherkennung entscheiden zu können, brauchen Menschen ausgewogene, evidenzbasierte Informationen, sagt Public Health-Expertin Prof. Dr. Marie-Luise Dierks. Diese sollten auch in Form von Checklisten oder Videos bereitstehen.

Frau Professorin Dierks, was wollen Menschen über die Krebsfrüherkennung wissen?

Marie-Luise Dierks: Die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich. In einer Umfrage unter Frauen zu ihrem Informationsbedarf über die Mammographie beispielsweise gaben mehr als zwei Drittel an, dass sie sich eine klare Aussage dazu wünschen, ob die Untersuchung etwas nützt oder nicht. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten würden sich zwar auch gerne alle bekannten Zahlen zu Nutzen und Risiken ausführlich erläutern lassen. Aber fast genauso viele Frauen waren der Meinung, dass zu ausführliche Informationen nur verwirren könnten.

Portrait Marie-Luise Dierks

Zur Person

Prof. Dr. Marie-Luise Dierks leitet den Arbeitsschwerpunkt „Patientenorientierung und Gesundheitsbildung“ und die erste deutsche Patientenuniversität an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie ist Mitautorin des WIdO-Versorgungs-Reports „Früherkennung“.

Die Medien greifen das Thema Krebsfrüherkennung immer wieder auf. Gibt es trotzdem ein Informationsdefizit?

Dierks: Ja. Menschen, die zur Früherkennung gehen oder gehen möchten, werden nicht umfassend genug über Nutzen und mögliche Nachteile aufgeklärt. Studien haben gezeigt, dass viele Menschen den Nutzen der Untersuchungen häufig weit überschätzen und kaum etwas über die möglichen Risiken, wie Fehl- oder Überdiagnosen, wissen. Sie brauchen deshalb ausgewogene Informationen zum Thema. Ziel sollte sein, dass jede Person, die dies möchte, anhand von Entscheidungshilfen und/oder Arztgesprächen in der Lage ist, eine faktenbasierte Entscheidung für oder gegen die Früherkennung zu treffen.

Wie können Ärzte die Patienten zur Früherkennung beraten?

Dierks: Ärztinnen und Ärzte sind nach wie vor für die meisten Menschen eine sehr wichtige und glaubwürdige Informationsinstanz. Deshalb sollten sie auch eine wichtige Rolle bei der Aufklärung über Nutzen und Risiken der Krebsfrüherkennung einnehmen. Allerdings hat sich gezeigt, dass Ärzte selbst durchaus Schwierigkeiten haben, komplexe Aussagen zur Studienlage zu verstehen und zu kommunizieren.

Es fällt vielen Menschen schwer, die Verlässlichkeit der Informationsquellen einzuschätzen.

Hier sind die medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland gefordert, Ärztinnen und Ärzte mit entsprechenden Materialien zu unterstützen. Ein Beispiel dafür ist etwa die Praxisempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin zum PSA-Test, einer Blutuntersuchung zur Früherkennung von Prostatakrebs.

Schriftliche Informationen erreichen nur einen Bruchteil der Zielgruppe. Welche anderen Medien könnten zu informierten Entscheidungen beitragen?

Dierks: Inzwischen liegen Entscheidungshilfen auch in Form von Infografiken, Checklisten oder Videos vor. Da die sozialen Medien heute in der Kommunikation eine zentrale Rolle spielen, könnten hier mehr als bisher kurze und leicht verständliche Erklärfilme veröffentlicht werden.

Wo sind gute Informationen über die Krebsfrüherkennung zu finden?

Dierks: Im Internet gibt es beispielsweise vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, aber auch bei Krankenkassen oder Krebsgesellschaften, gut aufbereitete Informationen. Allerdings sind sie nicht immer leicht zu finden. Auch fällt es vielen Menschen schwer, die Verlässlichkeit der Quellen einzuschätzen. Aus Nutzersicht wäre es wünschenswert, verständliche, evidenzbasierte Informationen unter einem gemeinsamen Label – etwa Entscheidungshilfen – zu veröffentlichen und dies in einem Nationalen Informationsportal.

Otmar Müller stellte die Fragen. Er ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: MHH/privat