Patienten bekommen selbst bei leichten Infekten oft gefährliche Antibiotika.
Medikamente

Zu laxer Umgang mit Antibiotika

Schädigungen der Hauptschlagader, Depressionen, Angstzustände, Sehnenrisse bis hin zu Todesfällen: Die Liste der Nebenwirkungen von Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone ist lang. Doch die Präparate werden noch immer häufig verordnet. Von Thorsten Severin

Fast fünf Prozent

der mehr als 72 Millionen gesetzlich Versicherten haben 2018 ein Fluorchinolon-Antibiotikum vom Arzt verschrieben bekommen. Eigentlich zählen diese Präparate zu den sogenannten Reserve-Antibiotika, die erst dann angewendet werden sollen, wenn alle anderen Alternativen versagt haben und es um die Bekämpfung lebensbedrohlicher Krankheiten geht. Bei leichten Erkrankungen wie einfachen Atemwegsinfekten sollten sie dagegen nicht zum Einsatz kommen.

Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat erstmals die zusätzlichen Risiken der Fluorchinolone im Vergleich zu anderen Antibiotika auf der Grundlage von Studienergebnissen hochgerechnet: Für die schätzungsweise 3,3 Millionen Patienten, die in Deutschland im Jahr 2018 mit Fluorchinolonen behandelt wurden, ist demnach davon auszugehen, dass bei einer konservativen Schätzung mehr als 40.000 von ihnen zusätzlich von Nebenwirkungen wie einer Schädigung des Nervensystems, der Hauptschlagader oder einem Sehnenriss betroffen waren und sich 140 zusätzliche Todesfälle ereigneten.

„Diese Zahlen sind besonders alarmierend, weil für viele Erkrankungen gut wirksame und risikoärmere Antibiotika zur Verfügung stehen“, sagt der stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder.

Nur noch fünf Präparate im Handel.

Nach Berechnungen des WIdO haben 20,4 Millionen GKV-Versicherte im Jahr 2018 mindestens einmal von ihrem Arzt ein Antibiotikum verschrieben bekommen, also mehr als jeder vierte gesetzlich Versicherte. Von den insgesamt 310 Millionen verordneten Tagesdosen entfielen 8,2 Prozent (25,6 Millionen Tagesdosen) auf die Fluorchinolone. Führend bei diesen Mitteln ist der Wirkstoff Ciprofloxacin mit fast zwei Dritteln der Verordnungen (64 Prozent). Von den einst 16 Präparaten der Fluorchinolone wurden elf meist wegen Komplikationen oder Unverträglichkeiten vom Markt genommen.

Risiken seit Jahren bekannt.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat inzwischen reagiert. Vor Kurzem teilte die Behörde mit, dass Ärzte die Fluorchinolone wegen schwerer Nebenwirkungen nur noch in Einzelfällen verschreiben sollen.

„Diese Warnung kommt sehr spät, denn die Nebenwirkungen sind seit mehr als zehn Jahren bekannt“, sagt Schröder. Viele Patienten seien jahrelang zusätzlichen Risiken ausgesetzt worden. So habe die amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) schon 2008 über schwerwiegende Nebenwirkungen bei Fluorchinolonen berichtet.

Die hohe Zahl der Verordnungen lässt nach Ansicht Schröders darauf schließen, dass diese Antibiotika häufig nicht als Mittel der Reserve und nicht ausschließlich bei schwerwiegenden Infektionen zum Einsatz kommen. Zukünftig müssten Patienten intensiv über die Gefahren und Alternativen dieser Arzneien aufgeklärt werden und im Schadensfall gezielt Unterstützung bekommen. Außerdem sollten Warnhinweise direkt in den digitalen Systemen der Arztpraxen auftauchen. Als ersten Schritt wünscht sich der WIdO-Experte, dass die verordnungsauslösende Diagnose vom Arzt auf dem jeweiligen Rezeptblatt dokumentiert wird.

Weitere Informationen über Fluorchinolone beim WIdO

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
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