Von links: Rainer Striebel, Susanna Karawanskij, Hans-Peter Perschke und Prof. Dr. Ferdinand Gerlach
Die Personen
G+G-Gespräch

„Die Kraft liegt in den Regionen“

Zu wenig Haus- und Fachärzte, zu viele Krankenhausbetten, eine alternde Bevölkerung: In abgelegenen Gegenden steht die Gesundheitsversorgung vor großen Herausforderungen. Wie sie sich bewältigen lassen, diskutierten Brandenburgs Sozialministerin Susanna Karawanskij, der Gesundheitsweise Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Bürgermeister Hans-Peter Perschke und AOK PLUS-Chef Rainer Striebel.

Frau Ministerin Karawanskij, was verbinden Sie mit dem Leben auf dem Land?

Susanna Karawanskij: Ruhe, Entschleunigung, Natur. Aber alles hat Vor- und Nachteile: Das ruhige Landleben ist eben auch mit längeren Wegen verbunden. Die Stadt ist erlebnisreich und manchmal ein bisschen lärmig.

Herr Professor Gerlach, was gehört für Sie zum Landleben?

Ferdinand Gerlach: Saubere Luft, hoher Erholungswert, niedrige Mieten, geringe Kriminalität. Wir versuchen den Medizinstudierenden in Frankfurt zu vermitteln, dass das Landleben eine Menge Vorteile hat. In der politischen Diskussion stehen allerdings oft die Nachteile im Vordergrund: So fehlen zum Teil schnelle Internet- und Verkehrsverbindungen sowie Arbeitsplätze für qualifizierte Menschen. Die gibt es in der Stadt. Wir sollten das Beste aus beiden Welten kombinieren.

Rainer Striebel: Das habe ich für mich realisiert: Ich lebe auf dem Dorf und arbeite in der Stadt. Die Stadtgrenze ist allerdings nur einen knappen Kilometer weit weg. Ich bin also kein typischer Landbewohner, der große Entfernungen zu überwinden hat. Aber ich liebe das ländliche Leben. Bei offenem Fenster kann ich abends die Igel schmatzen hören.

Herr Perschke, Sie leben ebenfalls auf dem Dorf. Was heißt das für Sie?

Hans-Peter Perschke: Landschaft und Weite. Die großen Räume geben uns eine gewisse Freiheit im Denken. Wir diskutieren die Themen aus und können relativ stark Einfluss darauf nehmen, was in unserem Ort passiert. Der Gestaltungswille ist da. Traditionen treffen auf die Moderne. Das ist eine spannende Auseinandersetzung, die man in der Stadt so nicht hat. Das Leben auf dem Lande ist echt cool.

Wir sind hier offenbar eine Runde von Landleben-Fans. Mal schauen, ob das so bleibt, wenn wir uns auf die Fachebene begeben. Herr Striebel: Vor welchen Herausforderungen steht die AOK PLUS, wenn es um die Gesundheitsversorgung von Menschen in abgelegenen Regionen in Sachsen und Thüringen geht?

Striebel: Viele unserer 3,3 Millionen Versicherten leben im ländlichen Raum. Als Krankenversicherer müssen wir uns deshalb fragen, wie wir gemeinsam mit Politik und Leistungserbringern eine gute gesundheitliche Versorgung im ländlichen Raum erhalten. In manchen Regionen ist es eine große Herausforderung, neue Ärzte anzusiedeln. Außerdem wird es in der ambulanten wie in der stationären Versorgung immer schwieriger, Pflegekräfte zu finden. Hinzu kommt der demografische Wandel: Die Bevölkerungszahl nimmt ab, das Durchschnittsalter steigt. Damit verändert sich das Krankheitsaufkommen.

Nur elf Prozent der Ärzte werden Allgemeinmediziner. Für die flächendeckende Grundversorgung brauchen wir aber diese Generalisten.

Professor Ferdinand Gerlach

Herr Perschke, Sie sind Bürgermeister im thüringischen Schlöben. Was ist den rund 1.000 Bürgerinnen und Bürgern dort wichtiger: eine gut erreichbare Arztpraxis oder ein schneller Internetanschluss? Oder etwas ganz anderes?

Perschke: Schnelles Internet ist bei uns kein Thema, das haben wir seit 2012. Der Weg zum Hausarzt ist auch kein Problem, selbst ohne Auto: Wir haben seit drei Jahren einen Bürgerbus, demnächst sogar mit Elektroantrieb. Einen Hausarzt erreichen die meisten Schlöbener also noch ganz gut. Schwieriger ist es mit den Fachärzten. Ich suche selber gerade einen Augenarzt und habe bis dato keinen gefunden. Und das geht meinem Nachbarn auch so. Noch mehr bewegt die Menschen im Dorf, ob und wie ihre Kinder die passende Schule erreichen und wo die Einwohnerinnen und Einwohner sich treffen können, wenn die Kneipen für immer schließen.

In Schlöben ist der Ärztemangel demnach zweitrangig. Herr Professor Gerlach, wie sieht es andernorts aus?

Gerlach: Ich kann keinen generellen Ärztemangel erkennen. In Deutschland arbeiten so viele Ärztinnen und Ärzte wie nie zuvor, fast 400.000. Bei der Arztdichte belegen wir laut OECD international Platz 5. Auch bei den Arzt-Patient-Kontakten gehören wir mit etwa 20 pro Einwohner und Jahr zu den Weltmeistern. Und wir haben zu viele Kliniken, in denen zu viel operiert wird. Da laufen Hamsterräder, in denen Ärzte und Pflegekräfte verschlissen werden. Die meisten Ärzte arbeiten dort, wo sie am wenigsten benötigt werden: in gut versorgten, wohlhabenden Stadtvierteln der Ballungsgebiete. Auch in Schlöben liegt die Uniklinik quasi vor der Tür: im 14 Kilometer entfernten Jena. Aber beispielsweise in Südbrandenburg fehlen Ärzte. Wir haben also eine regionale Fehlverteilung. Außerdem besteht eine Fehlverteilung nach Disziplinen. Nur elf Prozent der Ärzte werden aktuell Allgemeinmediziner. Diese Generalisten brauchen wir aber für die flächendeckende Grundversorgung. Ebenso wie grundversorgende Fachärzte, etwa konservativ behandelnde Augenärzte, Kinderärzte oder Psychiater. Wir sollten gezielt in den ländlichen Raum investieren, in die Aus- und Weiterbildung in Mangel-Fächern und in die Arbeitsbedingungen der Ärztinnen und Ärzte.

Die Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigungen soll die ambulante Versorgung überall sicherstellen. Hat sie versagt?

Gerlach: Die Bedarfsplanung ist nicht scharf genug gestellt: Sie sorgt nicht dafür, dass in überversorgten Innenstädten, wo zum Beispiel mehr Kardiologen und Orthopäden praktizieren als wir benötigen, ein effektiver Abbau stattfindet. Ein Teil der Lösung wäre, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen, so wie es der Gesetzgeber auch vorgesehen hat, in überversorgten Gebieten Praxissitze aufkaufen, entschädigen und streichen.

Frau Karawanskij, Brandenburg bietet Studierenden ein Stipendium, wenn sie sich
verpflichten, auf dem Land zu arbeiten. Welche Rolle können solche Förderprogramme spielen, um die medizinische Versorgung zu sichern?

Karawanskij: Wenn die Steuerung im Vorfeld nicht gelingt, können wir als Landesregierung mit solchen Ansätzen korrigierend eingreifen. Das Landärztestipendium von 1.000 Euro monatlich für Studierende, die sich verpflichten, anschließend mindestens fünf Jahre auf dem Land zu arbeiten, bietet einen finanziellen Anreiz. Wir bemühen uns außerdem um die Weiterbildung in der Allgemeinmedizin. Das ist ein Versuch, mittelfristig tatsächlich Ärztinnen und Ärzte aufs Land zu holen. Allerdings haben wir es mit einer Generation zu tun, die wegen der Work-Life-Balance lieber angestellt arbeitet als sich niederzulassen. Wir werden deshalb die bislang sehr starren Sektoren des Gesundheitssystems stärker miteinander verschränken und mehr an Kooperationsmodelle denken müssen. Damit können wir eine gute Versorgung in ländlichen Regionen sicherstellen. Dazu läuft in Brandenburg ein großes Projekt: das ambulant-stationäre Zentrum in Templin. Ein Krankenhaus, das in der Gegend kaum eine Zukunft hätte, arbeitet mit ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten in der Region zusammen und wird zu einem Ankerpunkt der Gesundheitsversorgung.

Wir werden die bislang sehr starren Sektoren des Gesundheitssystems stärker miteinander verschränken und mehr an Kooperationsmodelle denken müssen.

Susanna Karawanskij

Herr Striebel, ersetzen solche neuen Versorgungsmodelle bald den Landarzt alter Schule?

Striebel: Wir probieren gerade in Niesky aus, was funktioniert und was nicht. Das Lokale Gesundheitszentrum in der Nähe der polnischen Grenze ist entstanden, weil dort im Krankenhaus die Fallzahlen immer weiter zurückgehen werden. Gleichzeitig ist die Ärzteschaft in der Region überaltert. Deshalb entwickeln wir das kleine Akutkrankenhaus zu einem Gesundheitszentrum weiter. Zunächst einmal müssen wir die Berührungsängste zwischen Krankenhaus und ambulant tätigen Ärzten abbauen. Dann gilt es auch, Regelungen und Finanzierungsmodelle anzupassen. Das geht nicht von heute auf morgen.

Sind ambulant-stationäre Zentren wie in Templin und Niesky Modelle für die Regelversorgung?

Gerlach: Es sind derzeit noch einzelne Projekte. Aber Templin hat bundesweit Bedeutung als Pionierprojekt, das genau in die richtige Richtung geht: ambulant-stationäre Gesundheitszentren auf dem Land hat der Sachverständigenrat Gesundheit schon wiederholt empfohlen. So etwas können wir unseren Studierenden und jungen Ärzten schmackhaft machen, weil es das erfüllt, was sie sich als Lebens- und Arbeitsmodell wünschen. Solche Gesundheitszentren haben eine Vielzahl von Vorteilen, nicht nur für die Beschäftigten, auch für die Patienten. Dort bekommen sie unter einem Dach eine wesentlich komplexere Medizin. Neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten lassen sich oft nicht mehr in den Strukturen des letzten Jahrhunderts umsetzen. Gut wäre zudem, wenn die ländlichen Gesundheitszentren beispielsweise über Telekonsile direkt mit Unikliniken verbunden wären.

Herr Perschke, wünschen Sie sich Zentren wie in Niesky oder Templin auch für Ihre Region?

Perschke: Der Wunsch ist da, wir haben im Osten immer noch die Polikliniken in Erinnerung und fragen uns: Warum macht man so etwas nicht, das müssten wir doch gemeinsam schaffen? Aber wenn ich als Lokalpolitiker mit Klinik- und Ärztevertretern ins Gespräch komme, spüre ich eine große Konkurrenz und wenig Kooperationswillen. Jeder giert nach Geld für Investitionen. Wer die beste Lobby und den stärksten Abgeordneten hat, kriegt die meiste Kohle. Außerdem ist es für einen Landrat ohne fachliche Begleitung schwierig, Entscheidungen über Krankenhäuser oder Polikliniken zu treffen.

Hängt es von einzelnen Landräten ab, ob so ein Zentrum wie in Niesky oder Templin entstehen kann?

Perschke: Das hängt vor allen Dingen am Gesundheitssystem. Ich bleibe mal bei Thüringen. Im Koalitionsvertrag steht, dass alle Krankenhäuser am Leben bleiben sollen. Das ist ein hehres politisches Ziel – sachlich in keiner Weise zu begründen. Und das macht es am Ende so schwierig.

Wenn eine Klinikschließung droht, befürchten viele Bürger eine schlechtere Versorgung. Warum lässt sich nicht vermitteln, dass sie mit einem Gesundheitszentrum besser bedient wären? Liegt das an der Komplexität des Gesundheitssystems?

Karawanskij: Die Versorgung sollte so gut laufen, dass sich Patientinnen und Patienten keine Gedanken darüber machen müssen. Ich habe sehr gute kooperative Projekte kennengelernt, nicht nur in Templin. In Hennigsdorf beispielsweise habe ich mir ein Projekt der Notfallversorgung angeschaut, in dem Rettungsdienste und Kliniken aus Brandenburg und Berlin kooperieren. Die Zusammenarbeit soll Fehlzuweisungen von Herzinfarktpatienten verhindern. Die Partner nutzen moderne Kommunikationstechnik, damit das richtige Team für die Behandlung in der Klinik ist, wenn der Herzinfarktpatient eintrifft. Von solchen Projekten profitiert die Fläche.

Ist es richtig, an ganz vielen Stellen der Gesundheitsversorgung gleichzeitig anzusetzen, weil es keinen Königsweg gibt?

Striebel: Wir haben viele Informationen, auch durch die Arbeit des Sachverständigenrates, aber die Frage bleibt: Wie schaffen wir es, die Akteure vor Ort auf einer vertrauensvollen Grundlage zusammenzubringen? Wir haben erkannt, wo das Problem liegt. Jetzt müssen wir gemeinsam Lösungen organisieren. Die probieren wir in vielen kleinen Projekten aus. Jede Region hat ihre Eigenheiten. Gesundheitsversorgung ist deshalb ein lokales Thema, das man nicht zentralistisch angehen kann.

Gerlach: Wenn es mit Sinn und Verstand passiert und man sich über das Ziel und die Mittel im Klaren ist, würde ich einen Wettbewerb von Lösungen befürworten. Allerdings muss der Rahmen so gesteckt sein, dass wir die sinnvollen Ziele auch erreichen können. Wir wollen einen Vertragswettbewerb, wir wollen keine Planwirtschaft und zentralistische Entscheidungen. Aber auf Landes- und Bundesebene muss ein Korridor beschrieben werden, in dem die Versorgung stattfindet.

Auf dem Land treffen Traditionen auf die Moderne. Das ist eine spannende Auseinandersetzung, die man so in der Stadt nicht hat.

Hans-Peter Perschke

Perschke: Ich sehe das ein bisschen radikaler. Es reicht nicht, nur an den Symptomen herumzudoktern. Ich würde das Gesamtsystem ändern wollen. Gesundheit darf kein Geschäftsmodell sein. Ich bin zwar auch kein Freund von Planwirtschaft, aber wesentliche Dinge der Daseinsvorsorge sollten nicht privatwirtschaftlich organisiert werden.

Karawanskij: Der wirtschaftliche Gedanke in der Gesundheitsversorgung stört mich auch. Trotzdem ist mein Plädoyer, an den verschiedenen Stellschrauben für eine bessere Versorgung zu drehen. Wir leben in einem föderalen Staat, in dem sich die Partner annähern müssen, auch wenn sie nicht die gleiche Vision teilen. Ich glaube, dass das gut gelingt. Aber wir brauchen Kontrollmechanismen und müssen gegebenenfalls nachsteuern.

Kommen wir noch auf zwei, drei Stellschrauben zu sprechen. Welche Bedeutung hat beispielsweise die Medizinerausbildung für die Versorgung auf dem Land?

Gerlach: Das Institut für Allgemeinmedizin in Frankfurt ermöglicht Studierenden, in verschiedenen Landarztpraxen zu arbeiten. Das ist ein sehr wirkungsvolles Konzept. Ich würde mir wünschen, dass wir bundesweit Schwerpunkt-Curricula, sogenannte Landarzt-Tracks einrichten. Nach dem Studium geht es darum, die Weiterbildung in der Allgemeinmedizin attraktiv zu machen. Auch nichtärztliche Versorgungsassistentinnen können die ländliche Versorgung verbessern: Speziell qualifizierte Mitarbeiterinnen aus dem Praxisteam übernehmen beispielsweise Routine-Hausbesuche. Gegebenenfalls übermitteln sie Messwerte wie Blutdruck, EKG oder Blutzucker direkt in die Praxis oder stellen eine Videoverbindung zum Arzt her.

Striebel: Das unterstützt die AOK PLUS gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung in Thüringen mit dem Projekt TeleDoc. Wenn auf einen Hausarzt immer mehr Patienten kommen, müssen wir seine Möglichkeiten erweitern. Eine qualifizierte Arzthelferin kann im Auftrag des Arztes bestimmte Tätigkeiten übernehmen. Sie hat einen sogenannten Telerucksack dabei, der beispielsweise Geräte für bildgebende Verfahren enthält. An TeleDoc beteiligen sich rund 40 Ärztinnen und Ärzte. Auch die Versicherten sind zufrieden mit dem Angebot.

Karawanskij: In Brandenburg haben wir das AGnES-Modell in die Regelversorgung übernommen. Dabei steht eine speziell geschulte Praxismitarbeiterin chronisch kranken oder in der Mobilität eingeschränkten Patienten als Fallmanagerin zur Seite. Damit erreichen wir 50 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger des Landes. Auch die nichtärztlichen Praxisassistentinnen, die den Arzt im Praxismanagement unterstützen, haben große Verbreitung gefunden: 2015 waren sie in 182 Praxen in Brandenburg tätig, aktuell in mehr als 408 Praxen.

Striebel: Wir müssen aber über solche guten Ansätze hinaus noch mehr erreichen und einen sinnvollen Versorgungswettbewerb initiieren. Allein mit Direktiven vom Bundesgesundheitsministerium kommen wir nicht weiter. Wir brauchen zwar bundespolitische Leitplanken, aber die Kraft liegt bei den Akteuren in den Regionen. In Sachsen und Thüringen haben wir gemeinsam mit Ämtern, Krankenhäusern, der Politik und auch anderen Krankenkassen eine hervorragende Chance, in den Versorgungswettbewerb einzusteigen. Im Ringen um gute Lösungen müssen wir unsere tradierten Rollen verlassen und passende Angebote für die Menschen auf dem Land entwickeln. Wir haben momentan das Geld für kluge Investitionen. Nun brauchen wir auch die Freiheit, gemeinsam mit der Landespolitik, mit dem Landrat vor Ort Lösungen zu erarbeiten, die uns weiterbringen.

Jede Region hat ihre Eigenheiten. Gesundheitsversorgung ist deshalb ein lokales Thema, das man nicht zentralistisch angehen kann.

Rainer Striebel

Die Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse hat ihre Ergebnisse vorgelegt und der Bundesgesundheitsminister hat fleißig Gesetze erlassen. Was bringt die Bundespolitik für die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum?

Perschke: Der Bericht der Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse liest sich wie ein Parteiprogramm. Ich sehe das eher skeptisch. Ich bin ein Freund von regionaler Kraft. Es gibt den Slogan: global denken, lokal handeln. Darin liegt die Stärke: die regionalen Akteure zusammenzubringen. Die Bundespolitik muss nur dafür sorgen, dass öffentliche Güter wie die Gesundheit und Pflege nicht weiter privatisiert werden.

Gerlach: Aber es gibt auch lokale Egoismen. Jeder denkt zuerst an sich. Damit sind übergreifende Lösungen, über Gemeinde- und Landkreisgrenzen hinweg kaum denkbar. Und es gibt keine Sensibilität für Überversorgung. Hessen beispielsweise leistet sich 26 Rettungsleitstellen. Jeder Landkreis hat eine eigene.

Striebel: Das kann ich bestätigen: Wir haben in Sachsen 15 Jahre darum gekämpft, von 20 auf fünf Rettungsleitstellen zu kommen. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass wir härtere Struktur- und Qualitätsvorgaben brauchen. Da wünsche ich mir mehr Klarheit, beispielsweise was die Krankenhauslandschaft betrifft. Es ist nicht akzeptabel, mit welchen Leistungen sich manche Häuser über Wasser halten. Wenn wir diesbezüglich mehr Transparenz hätten, wäre die strukturelle Weiterentwicklung, zum Vorteil der Bevölkerung, leichter. Die gewaltigen Herausforderungen, vor denen wir in der Gesundheitsversorgung auf dem Land stehen, bewältigen wir nur, wenn wir uns aufmachen und Verständnis füreinander entwickeln. Das gelingt besser auf regionaler Ebene. Nichtstun ist jedenfalls keine Lösung, wir müssen uns kümmern.

Karawanskij: Um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Fläche zu gewährleisten, müssen wir die Stärken stärken und Schwächen minimieren. Gute Kooperationen etwa sollten Unterstützung erhalten. Wir haben heute über Modellprojekte gesprochen, die Wege aufzeigen. Auch in der Pflege gibt es solche Ansätze, die stark sind und Mut machen. Wir sollten mit diesem Mut weitergehen und die guten Ansätze ausbauen. Dafür brauchen wir die Krankenkassen, die Ärzteschaft und die Krankenhäuser, aber auch verlässliche Gesetzgeber. Wir brauchen Planungssicherheit, Transparenz und Steuerungsoptionen. Das muss alles zusammenwirken.

Gerlach: Sie fordern, die Stärken zu stärken und die Schwächen zu minimieren. Ich will das noch mit einem anderen Zungenschlag fortführen: Die Versorgung muss bedarfsgerecht sein. Wir alle müssen ein essenzielles Interesse daran haben, Über-, Unter- und Fehlversorgung zu begrenzen. Das ist auch eine Leitidee für alle hier diskutierten Herausforderungen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Karola Schulte moderierte das Gespräch gemeinsam mit Änne Töpfer.
Andrea Katheder ist freie Fotografin in Berlin.