G+G-Studienreise

Keine Angst vorm Sorry

England gilt weltweit als einer der Vorreiter in Sachen Patientensicherheit. Doch hat sich die gute Fehlerkultur auf der Insel nicht von selbst entwickelt. Was die Engländer dafür in den vergangenen zwei Jahrzehnten getan haben, erfuhren die Teilnehmer der G+G-Studienreise in London. Von Karola Schulte

Lorraine Schwanberg (Foto oben) arbeitete als Intensiv-Krankenschwester in einer irischen Klinik, als abends kurz vor Ende ihrer Schicht besorgte Eltern mit ihrer kleinen Tochter die Notaufnahme erreichten: Schwanberg machte wegen des langsamen Herzschlags ein EKG, stellte die Zweijährige einem Arzt vor, im Laufe der Nacht untersuchten weitere Ärzte das Mädchen. Als die Krankenschwester am nächsten Tag wieder zur Arbeit erschien, war das Kind an einer Herzmuskelentzündung gestorben. Obwohl sie selbst alles richtig gemacht hatte, verfolgte der Vorfall sie: „Ich habe mich immer wieder damit beschäftigt, warum dieses Kind sterben musste und wie wir als Krankenhaus mit der Untersuchung seines Todes umgegangen sind.“ Sie beschloss daraufhin, ihr weiteres berufliches Leben der Patientensicherheit zu widmen. Sie machte einen Master in Jura und leitet heute die Abteilung Patient Safety und Risk Management im King’s College Hospital auf dem Denmark Hill Campus, der gut 20 Autominuten von der Tower Bridge im Herzen Londons liegt.

Patientensicherheit ist Chefsache.

Die Klinik gehört zum King’s College Hospital NHS Foundation Trust, dem weitere Häuser mit insgesamt über 1.300 Betten angehören, davon über 140 Intensivbetten. Sie bilden die Anlaufstelle für mehr als eine Million Menschen im Südosten von London und Kent. Spezialisten von Traumatologen über Hämatologen bis zu Neurochirurgen versorgen pro Jahr eine Viertelmillion Notfälle. Zusätzlich behandeln und versorgen die Ärzte und Pfleger mehr als eine Million Menschen ambulant. Insgesamt gibt es über 200 Trusts des Gesundheitsdienstes National Health Service NHS (siehe Kasten: So funktioniert der NHS) in England; Foundation Trusts sind dabei spezielle organisatorische Zusammenschlüsse von Einrichtungen mit relativ großem Handlungsspielraum.

Das King’s College Hospital ist ein riesiges Akutkrankenhaus in einer Gegend von London, die wegen des sozialen Umfelds als zunehmend schwierig gilt: Es gibt sicher einfachere Arbeitsplätze, nicht nur für Ärzte und Pfleger, sondern auch für eine Patientensicherheitsbeauftragte. Trotzdem schätzt Schwanberg ihren Arbeitsplatz sehr, denn das Thema Patientensicherheit ist hier Chefsache. Die Expertin für Patientensicherheit, die einen Teil ihrer Kindheit im westfälischen Münster verbrachte, arbeitet eng mit den ärztlichen Direktoren, der Pflegedirektion und der Geschäftsführung zusammen. „Ich habe direkten Zugang zu allen wichtigen Leuten. Das ist Teil der Kultur hier.“

Die gesamte Organisation lernt.

Vom offenen Umgang mit Zwischenfällen als Erfolgsfaktor für Patientensicherheit hören die Teilnehmer der dreitägigen Reise, die „Gesundheit und Gesellschaft“ in Kooperation mit dem Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) organisierte, auch bei den weiteren Stationen immer wieder. Doch ist diese Kultur nur ein Erfolgsfaktor von vielen. Als ebenso wichtig nennen die Gesprächspartner aus Wissenschaft, Praxis und Behörden Faktoren wie diese: Gesetze, die zum Berichten schwerwiegender Ereignisse und zur Offenheit gegenüber Betroffenen verpflichten, systematisches Auswerten und Veröffentlichen von Ereignissen, das konsequente Lernen daraus, transparenter Umgang mit Daten, Qualitätskontrollen, Digitalisierung und strukturierte Fortbildung von Ärzten.

Kultur und Kontrollen – verhalten sich beide nicht zueinander wie Äpfel und Birnen? Die Engländer sehen darin keinen Widerspruch. Denn für die gute Sicherheitskultur, so erklären sie, braucht es mehr als guten Willen: Führung, klare Strukturen, Regeln und Gesetze seien unerlässlich. Genauso gehöre der Wille dazu, nicht auf einzelne Mitarbeiter wegen eines unerwünschten Ereignisses mit dem Finger zu zeigen, sondern bereit zu sein, als Organisation aus Vorfällen lernen zu wollen.

Das Ergebnis dieser Haltung, so erzählt Schwanberg, sei, dass die Mitarbeiter jeden Monat rund 3.000 Vorfälle berichten, pro Jahr etwa 35.000. An oberster Stelle stehen dabei Ereignisse, die für den Sicherheitsdienst relevant sind. Darunter fallen beispielsweise Übergriffe von Patienten auf Personal, gefolgt von unerwünschten Ereignissen bei der Aufnahme, Verlegung oder Entlassung. An dritter Stelle stehen Vorfälle bei der Medikation.

Pflicht zur Meldung schwerwiegender Fälle.

Als relevant für die Patientensicherheit gilt laut NHS-Definition ein „nicht beabsichtigtes oder unerwartetes Ereignis, das für einen oder mehrere Patienten zu Schaden führte oder zu Schaden hätte führen können.“ Eine Pflicht zur Meldung besteht seit 2010 bei schwerwiegenden Ereignissen, alle anderen Meldungen sind freiwillig. Als schwerwiegend gelten Vorkommnisse mit vorübergehendem oder permanentem Schaden oder tödlichem Ausgang (moderate, severe und death). Als Faustregel für alle Einrichtungen des National Health Service gilt: Lieber zu viel als zu wenig melden. Je mehr Berichte vorliegen, desto besser lässt sich lernen – und zwar fürs System. Beim National Reporting and Learning System (NRLS) gehen jedes Jahr etwa zwei Millionen Berichte ein, davon 10.000, die Ereignisse mit Todesfolge oder permanentem Schaden beschreiben.

In Großbritannien gibt es keine gesetzliche Krankenversicherung, die Gesundheitsausgaben werden im Wesentlichen über allgemeine Steuergelder und Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Fast alle Leistungen des nationalen Gesundheitsdienstes NHS sind für Patienten kostenlos. Zu unterscheiden sind im komplexen Aufbau des Systems vor allem die Bereiche Commissioning Care und Providing Care: Beim einen geht es um die Freigabe des Budgets durch die Regierung. Bei der „Providing Care“ geht es um die Organisation der Leistungen. Die medizinische Grundversorgung findet vor allem in Hausarzt-, Zahnartzpraxen, bei Optikern und in Apotheken statt. Die sekundäre und tertiäre Versorgung findet innerhalb des NHS in so genannten Foundation Trusts statt, das sind halbautonome Organisationen mit gewissem Spielraum bei Finanzen und Management.

Um die Schwere von Ereignissen und die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung einschätzen zu können, gilt in den Krankenhäusern ein Farbsystem. Bei Grün ist niemand zu Schaden gekommen: Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass dieses Ereignis noch einmal auftritt. Gelb steht für geringen Schaden oder einen Beinah-Schaden, Orange für mittelschweren Schaden oder kritische Ereignisse, Rot steht für schwerwiegende Schäden, Todesfälle, ernsthafte kritische Ereignisse und sogenannte Never Events. Bei Never Events handelt es sich um vermeidbare, schwerwiegende Ereignisse wie beispielsweise Seitenverwechslungen bei Operationen oder Stürze aus unge­sicherten Fenstern – Ereignisse also, die jederzeit wieder passieren könnten. Die Behörde NHS Improvement aktualisiert die Liste der Never Events stetig; derzeit umfasst sie 15.

Damit die systematische Auswertung und das Lernen aus Ereignissen gelingen, werden die Daten aus den Häusern online direkt ins NRLS eingespeist; bei schweren ist dies verpflichtend, bei leichteren freiwillig. In diesem landesweiten System gehen jedes Jahr rund zwei Millionen Berichte ein; im elektronischen Archiv liegen dort bereits Daten zu weit mehr als 20 Millionen Fällen, die Patientensicherheits-Experten für Analysen neuer Fälle und für das Vergleichen immer wieder heranziehen. Die Zahlen der Häuser werden regelmäßig veröffentlicht; in sogenannten Cluster-Gruppen sind Vergleiche zwischen Häusern ähnlicher Größe möglich.

Porträt von Michael Surkitt-Parr, NHS-Experte

„Patientensicherheit ist kein Add-on“

Auf Michael Surkitt-Parrs Agenda steht die Patientensicherheit seit Jahrzehnten ganz oben. Der frühere Chef der Patient Safety bei NHS Improvement begutachtet bis heute in einem Spezialistenteam jeden Monat hunderte schwerer Zwischenfälle. Welche Erfahrungen er dabei gemacht hat.

Zum Vergleich: Beim bedeutendsten Meldesystem in Deutschland, dem CIRSmedical.de, gingen in den vergangenen zehn Jahren kaum mehr als 6.000 Meldungen ein – freiwillig, denn ein verpflichtendes System gibt es hierzulande nicht. Und somit auch keinen Überblick, zu welchen unerwünschten Ereignissen es wo kommt. Dabei ist laut „Weißbuch“ des Aktionsbündnisses Patientensicherheit davon auszugehen, dass ein bis zwei Millionen Patienten jedes Jahr ein unerwünschtes Ereignis in deutschen Krankenhäusern erleben und unzureichende Patientensicherheit mindestens 20.000 Todesfälle pro Jahr nach sich zieht.

Kommunikationswege müssen klar sein.

Für seine internen Berichte nutzt das King’s Hospital die im Land weit verbreitete Software Datix, mit der jeder vom Pförtner bis zum Chefarzt mit wenigen Klicks einen Vorfall melden kann: Was ist wann wo passiert? Die allermeisten Nutzer geben in dem Online-Formular ihren Namen für Nachfragen preis, nur etwa sieben Prozent möchten anonym bleiben.
 
Je schwerwiegender das berichtete Ereignis ist, desto mehr ranghohe Verantwortliche aus den Bereichen Patientensicherheit, Ärzte, Pflege, Management, Qualitätssicherung und juristischer Abteilung erfahren innerhalb des King’s Hospitals und des gesamten Trusts, zu dem das Haus gehört, unmittelbar und automatisch per Mail davon. Schwerwiegende Ereignisse müssen nicht nur ins NRLS, sondern binnen 24 Stunden auch ins Stragetic Executive Information System (STEIS) des NHS eingespeist werden. Das Ziel: Alle Verantwortlichen – sowohl in der Organisation als auch beim NHS – sollen schnellstmöglich entscheiden können, ob sich daraus hausintern und landesweit eine Konsequenz zum Handeln ergibt.
 
Allein im King’s Hospital gibt es jeden Monat mehr als 100 als rot und orange eingestufte Fälle. Fälle also, bei denen es zu einem vermeidbaren unerwünschten Ereignis mit mittelschweren Schaden, einem bedeutsamen Beinahe-Ereignis, einem großen Schaden, einem Todesfall, einem Never Event oder einem ernsthaften Beinahe-Ereignis kam. „Jeder Fall muss untersucht werden und zieht mindestens einen Aktionsplan nach sich“, sagt Patient-Safety-Chefin Schwanberg.

Video-Interview: „Kleine Veränderungen – große Wirkung“

Hannah Behrendt ist Senior Advisor beim Behavioural Insights Team (BIT). Das 2010 von der Regierung ins Leben gerufene BIT arbeitet heute unter anderem mit Politik, Behörden und Verbänden zusammen. Der Ansatz des mittlerweile weltweit arbeitenden Unternehmens ist es, durch kleine Veränderungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse Verhaltensänderungen zu bewirken, um so Probleme zu lösen („Nudging“). So empfahl das BIT beispielsweise dem NHS, die Dokumentationsunterlagen in Kliniken anders zu gestalten, um Medikationsfehler zu vermeiden.

Weitere Informationen über das BIT

Zu den Kollegen, mit denen Schwanberg dafür im engen Austausch steht, zählt Professor William Bernal. Der Leberspezialist ist zugleich Corporate Medical Director des Hauses und verantwortlich für Outcome-Analysen. Als Vorsitzender des Ausschusses, der die Mortalitätsraten im Blick hat, wertet er die monatlichen Todesfallstatistiken aus, fahndet nach Unregelmäßigkeiten und leitet bei Bedarf eine Untersuchung ein. „Mit verschiedenen Tools können wir die elektronischen Patientenakten sehr schnell durchsuchen, um Ursachen zu ergründen“, sagt er. Jedes Krankenhaus muss seine Todesfallstatistiken veröffentlichen, ebenso die vermeidbaren Todesfälle. NHS Digital macht die Zahlen zur Patientensicherheit vergleichbar, jeder kann sie im Internet nachlesen.

Spezialisten durchforsten Millionen Datensätze.

Damit nicht nur innerhalb der betroffenen Häuser, sondern landesweit in allen Häusern die richtigen Schlüsse aus schwerwiegenden Ereignissen gezogen werden, gibt es das Patient Safety Team des NHS. Über die Meldepflicht schwerer Vorkommnisse landen beim Patientensicherheits-Experten Michael Surkitt-Parr und seinen Kollegen jede Woche 200 bis 300 Berichte auf dem Tisch, bei denen es zu schwerem Schaden oder zum Tod gekommen ist. „Das Ziel ist es, neue oder noch unterschätzte Themen oder Probleme zu identifizieren“, sagt Surkitt-Parr, der früher Leiter Patient Safety bei NHS Improvement war und im Ruhestand weiter im Patient Safety Team unweit der Waterloo-Station arbeitet. Dabei können die Experten auf eine Datenbank aus über 20 Millionen Datensätzen zurückgreifen. So identifizieren sie die Relevanz des Problems. Ein Expertenkreis aus Wissenschaftlern, Behörden- und Patientenvertretern diskutiert anschließend Ergebnis und Konsequenzen.

Je nach Schwere und Bedeutung verständigen die Experten relevante Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser über das zentrale Informationssystem CAS: Stufe eins ist eine Sicherheitswarnung, um auf ein neues Problem aufmerksam zu machen. Die Häuser müssen daraufhin selbst einen Aktionsplan erarbeiten. Mit Stufe zwei machen die Experten auf ein bekanntes Problem aufmerksam und fordern dazu auf, Leitlinien und Regeln nachhaltig zu implementieren. Die höchste Stufe ist der „directive alert“: Kommt diese Nachricht, müssen die Einrichtungen binnen einer gesetzten Frist bestimmte Maßnahmen umsetzen und dies nachweisen. Auf diese Weise kann ein Vorfall im King’s Hospital dazu führen, dass ein landesweiter Aktionsplan für alle NHS-Häuser greift. Im Fokus steht bei der Untersuchung von Ereignissen, ihre Ursachen zu ergründen, sie offenzulegen und als Organisation daraus zu lernen. Auch andere Organisationen wie die Aufsichtsbehörde für Medikamente und Medizinprodukte (MHRA) nutzen CAS, um ihre Sicherheitswarnungen zu versenden.

Porträt von Vivien Nathalie Krebs, Studentin des Bereichs Evidenzbasierte Pflege in Halle-Wittenberg

„Direkter Bezug zu meiner Arbeit im Krankenhaus“

Unterstützen und vernetzen: Unter diesem Motto hat die G+G erstmals einen Studierenden-Platz gesponsert. Nathalie Vivien Krebs, die in Halle-Wittenberg Evidenzbasierte Pflege studiert, entschied das Bewerbungsverfahren für sich. Was die 21-Jährige von der dreitägigen Reise nach London mitgenommen hat.

Infos über traditionelle und neue Kanäle.

Wie Vorkommnisse innerhalb der Häuser und Trusts aufgearbeitet werden, zeigt ein Beispiel: Über eine falsch gelegte Magensonde gelangte bei einer Patientin im Kings’ Hospital Nahrung in die Lunge einer Frau. Die 80-Jährige starb daraufhin. In einem Bericht inklusive Bildern fassen die Patient-Safety-Experten zusammen: Was ist vorgefallen? Welche Maßnahmen sind ergriffen worden? Erfahrungen und Probleme thematisieren sie auf verschiedensten Kanälen: bei Veranstaltungen, an Schwarzen Brettern, über soziale Medien. Im SafetyNet finden sich Infos wie monatliche Auswertungen der häufigsten Problemquellen. Führungskräfte sind aufgerufen, sie in Übergaben und Teambesprechungen zu verbreiten.

Ängste, Scham oder Überforderung stehen einem offenen und verantwortungsbewussten Umgang mit unerwünschten Ereignissen oftmals im Weg. Um für die Kultur der Offenheit zu sensibilisieren, durchläuft im King’s Hospital jeder neue Mitarbeiter ein eintägiges Training. Doch geht es dabei nicht nur um den Umgang mit Emotionen und Gesprächsführung mit Patienten, sondern auch um Vorschriften und „The Duty of Candour“. Dabei handelt es sich um ein seit 2014 geltendes Gesetz, das zu Offenheit und Transparenz gegenüber Patienten verpflichtet: Wenn etwas falsch gelaufen ist, das körperlichen oder psychischen Schaden angerichtet hat oder noch anrichten könnte, muss der NHS-Mitarbeiter das Gespräch mit dem Betroffenen suchen, sich persönlich entschuldigen und über die Untersuchung informieren.

„Kultur ist der Schlüssel. Lebt die Chefetage sie nicht vor, funktioniert es nicht.“

Nigel Acheson, Care Quality Commission (CQC)

Während in Deutschland gut sechs Jahre nach der Verabschiedung des Patientenrechtegesetzes über kleinste Nachbesserungen diskutiert wird, um die Rechte der Patienten zu stärken, gilt in England die Pflicht zur völligen Offenheit (siehe Beitrag „Die Mauer des Schweigens durchbrechen“, G+G 10/2019). Entsprechend groß ist das Erstaunen bei den G+G-Reisenden, kaum ein anderes Thema löst so viele Nachfragen aus wie „The Duty of Candour“: „Was bedeutet das für gerichtliche Auseinandersetzungen? Was für Haftungsfragen?“ In England, so erklärt Schwanberg, bedeute Offenheitund Bedauern gegenüber Patienten nicht automatisch ein Schuldeingeständnis. Finanzielle Haftung in Rechtsstreitigkeiten übernimmt der Trust.

Versäumnisse öffentlich machen.

Neben dem Berichtssystem und gesetzlichen Verpflichtungen spielen in England Kontrollen und Vorgaben durch die Care Quality Commission (CQC) und das General Medical Council (GMC) ebenfalls Schlüsselrollen beim Thema Patientensicherheit. Die regierungsunabhängige CQC ist der Regulierer für sämtliche Gesundheits- und Pflege­dienste in England und berichtet direkt an das Parlament. Die 3.500 Mitarbeiter und fast ebenso viele Inspektoren kontrollieren und bewerten NHS-Einrichtungen von Kliniken bis zu Pflegeheimen. „Bei unseren Besuchen ist Patientensicherheit eines von fünf Schlüsselthemen“, sagt Nigel Acheson, Vize-Chef für den Bereich Krankenhäuser. Die Inspektoren prüfen, wie die Häuser mit Ereignissen umgehen. Wie setzen sie Erkenntnisse um? „Man spürt sofort, wie die Kultur ist. Sie ist der Schlüssel. Lebt die Chefetage sie nicht vor, funktioniert es nicht“, sagt Acheson. Grobe Versäumnisse innerhalb eines Trusts werden in monatlichen Berichten nicht nur öffentlich gemacht, sondern die CQC kann den Trust im äußersten Fall für 150 Tage übernehmen.

Bei den Ärzten selbst setzt der regierungsunabhängige General Medical Council (GMC) an, der unter anderem die Ausbildungsstandards festlegt. Jeder Arzt muss dort registriert sein und seine Lizenz regelmäßig verlängern. Die Ärzte müssen mit dem GMC einen Entwicklungsplan abstimmen, umsetzen und nachweisen, dass sie up to date sind. Einmal im Jahr brauchen sie das Okay ihres persönlichen Betreuers. Für die Beurteilung werden auch Patienten-Feedback und medizinische Zwischenfälle überprüft. Alle fünf Jahre entscheidet der GMC über die Verlängerung der Lizenz. „Wir wollen Ärzte nicht bestrafen, sondern Risiken minimieren“, sagt Steve Worrall, Leiter Geschäftsentwicklung beim GMC.

Trotz Erfolgen bleiben viele Baustellen.

Das Thema Patientensicherheit von vielen Seiten gleichzeitig anzugehen, hat in England viel bewirkt: Bei einem Vergleich des Commonwealth Fund der elf wohlhabendsten Ländern der Welt schnitt der NHS 2017 unter anderem in den Bereichen „sichere Pflege und Patientenbeteiligung“ am besten ab. Gleichzeitig offenbarte die Untersuchung, wo es weiterhin viel zu tun gibt: In der Kategorie „Health Care Outcomes“ landete der NHS nur auf Platz zehn, wenngleich besser als in den Jahren zuvor. Zudem sorgen die Engländer regelmäßig international für Negativ-Schlagzeilen zu Themen wie langen Wartezeiten bei Operationen. Finanzierungsdebatten, demografischer Wandel, unbesetzte Stellen in Pflege und Ärzteschaft, mangelnde Kommunikation zwischen Krankenhäusern und Ärzten sowie zu wenig Patientenbeteiligung bereiten dasselbe Kopfzerbrechen wie hierzulande.

Entsprechend selbstkritisch bleiben Schwanberg, Surkitt-Parr, Worrall und ihre Kollegen. Es habe lange gedauert, beim heutigen Stand anzukommen – und es bleibe noch viel zu tun, sagt John Woodhouse vom Royal College of Physicians, das unter anderem Standards entwickelt. Die Frage, wo Deutschland sinnvollerweise ansetzen solle, beantwortet er den G+G-Reisenden wie aus der Pistole geschossen: „Überall gleichzeitig, denn sonst werden Sie nie fertig!“ Um das hinzubekommen, wäre hierzulande wohl ein Bekenntnis auf höchster politischer Ebene nötig. Die Weltgesundheitsorganisation machte es unlängst vor: Sie erklärte das Thema Patientensicherheit in diesem Jahr zu einem ihrer Topthemen.

Karola Schulte ist Chefredakteurin der G+G.
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