Porträt
Kommentar

Pflege-Zeugnis

Im Oktober ist das neue Qualitäts- und Prüfsystem für die stationäre Pflege gestartet. Die Pflegenoten haben damit allmählich ausgedient. Viel zu spät, findet Andreas Mihm.

Noten sind Fanfaren des Wettbewerbs.

Sie zeigen, wie der Benotete im Vergleich zu anderen abschneidet. Noten sind wichtig, selbst in Grundschulen, wo sie zuweilen als zu frühe Eingewöhnung an die harten Regeln der Wettbewerbsgesellschaft in Verruf geraten sind. Denn nach der Bewertung sieht der Benotete seine Position im Lern- und Lebensumfeld intuitiv besser und kann entscheiden, ob er sich auf dem Lorbeer ausruhen oder sich mehr anstrengen will. Nach einheitlichen Maßstäben vergebene Zeugnisse sind auch für Außenstehende wichtig, vermitteln sie doch wichtige Anhaltpunkte für eine realistische Einschätzung ihres Gegenübers.

Und weil das so ist, war es fatal, dass erst vor gut zehn Jahren ein einheitliches Bewertungssystem für Pflegeheime eingeführt worden ist. Umso schlimmer, dass es noch einmal an die zehn Jahre gedauert hat, das als schlecht erkannte System der Pflegenoten so zu verändern, damit Pflegepatienten und Angehörige nicht weiterhin systematisch in die Irre geführt werden. Genau das war beim bisherigen Verfahren der Fall, in dem der weit überwiegende Teil der Häuser „sehr gut“ abschloss. Doch wenn alle eine „eins“ bekommen, werden Unterschiede verwischt.

Nivellierung geht immer auf Kosten der Qualität.

Nivellierung geht immer auf Kosten der Qualität, Transparenz soll damit verhindert werden. Transparenz aber ist nötig, um sich ein Bild zu verschaffen, das der Wahrheit und Wirklichkeit entspricht. Wo sonst, wenn nicht in einer vom Gesetzgeber organisierten sozialen Pflegeversicherung, müssen sich Angehörige darauf verlassen können, dass die pflegerische Versorgung in einem Heim, wo „gut“ draufsteht, auch „gut“ ist.

Pflege ist und bleibt eine individuelle Angelegenheit. Absolute Maßstäbe zur Beurteilung ihrer Qualität zu setzen, fällt sogar der Pflegewissenschaft schwer. Unschärfen in der Beurteilung bleiben deshalb unvermeidlich, sie müssen ausgehalten werden. Durchschnittszahlen als „Benchmark“ zur Beurteilung der jeweiligen Leistung heranzuziehen ist nicht falsch.

Genauer hinsehen müssen dafür künftig nicht nur die Prüfer des Medizinischen Dienstes, sondern die Angehörigen und Pflegepatienten selbst und sei es nur in die aufgefächerten Beurteilungskriterien der Heime. Es ist wie in der Schule: der Zeugnisdurchschnitt allein reicht für eine individuelle Beurteilung am Ende nicht aus.

Andreas Mihm ist Wirtschaftskorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
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