Patientensicherheit

Nichtwissen tut (nicht) weh

Menschen geraten immer wieder an ihre Wissensgrenzen – doch gerade im Arbeitsalltag von Ärzten und Pflegekräften kann dies lebensentscheidend sein. Umso wichtiger ist der richtige Umgang mit dem eigenen und dem Nichtwissen anderer. Wie man diesem heiklen Thema positiv begegnen kann, erläutern Prof. Dr. Maximiliane Wilkesmann und Dr. Stephanie Steden.

Sie möchte, dass andere aus ihrem Fehler lernen: Eine Ärztin im Ruhestand hatte vor 17 Jahren einen Patienten offensichtlich falsch behandelt und berichtet darüber in einem Critical Incident Reporting System (CIRS AINS Fall-Nr: 4729). In diesem Meldesystem können Ärzte und Pflegekräfte entstandene beziehungsweise Beinahe-Fehler für Kollegen dokumentieren. CIRS dient also als eine Art Lernplattform. Anscheinend ging dieser Ärztin das Geschehene auch Jahre danach nicht aus dem Kopf. Was war passiert? Ein Patient kam mit Halsschmerzen in die Krankenhaus-Ambulanz für Innere Medizin. Das verordnete Antibiotikum brachte keine Besserung und der Patient wurde am selben Tag erneut einbestellt. Auf dem Weg ins Krankenhaus brach der Patient aufgrund von Luftnot zusammen und starb einige Tage später. Mit dem heutigen Wissen vermutet die Ärztin, dass der Patient möglicherweise einen eitrigen Abszess im Hals hatte. Dieser hätte chirurgisch und nicht mit einem Antibiotikum behandelt werden müssen. In einem anderen Fall, der im CIRS (CIRS AINS Fall-Nr: 88484) dokumentiert ist, übersahen Mitarbeiter einer Klinik aus Personalmangel und dem daraus resultierenden Zeitdruck eine Allergie gegen ein Narkosemittel. Zum Glück hat der Patient im geschilderten Fall nicht auf den Einsatz des falschen Medikaments reagiert.

Umgang mit Nichtwissen erfragt.

In unserer Gesellschaft genießen Mediziner und Pflegekräfte großes Ansehen und Vertrauen – doch müssen sie immer wieder Entscheidungen treffen, die auf unvollständigem Wissen beruhen. Dies kann zum Beispiel daraus resultieren, dass ein Arzt die Vorerkrankungen seines Patienten nicht kennt. Welche Strategien Ärzte und Pflegekräfte im Umgang mit Nichtwissen entwickeln, zeigen die Ergebnisse von vier aufeinander aufbauenden Studien, die von 2011 bis 2016 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der TU Dortmund gefördert wurden. Maximiliane Wilkesmann und ihr Team führten dazu 81 Interviews sowie mehrere bundesweite Befragungen von insgesamt 3.190 Medizinern und Pflegekräften im stationären und ambulanten Bereich durch. Im Ergebnis zeigt sich, dass Nichtwissen keinesfalls rein negativ gesehen wird. Vielmehr wird deutlich, dass ein gewisser Grad an Nichtwissen durchaus förderlich sein kann, indem vorhandene Wissenslücken geschlossen werden. Unterstützend wirken etwa eine positive Fehler- und Lernkultur und ein ausreichender Zugang zu Wissensressourcen (zum Beispiel Fachzeitschriften, digitalen Medien).

Nichtwissen ist nicht gleich Nichtwissen.

Die beiden zu Beginn erwähnten Praxisfälle verdeutlichen, dass ein schlechter Umgang mit Nichtwissen fatale Folgen haben kann. Jedoch unterscheiden sich die beiden Fälle in ihren Ursachen. Im ersten Fall macht die Ärztin ihr persönliches Nichtwissen für die Fehlbehandlung verantwortlich, wohingegen im zweiten Fall die Organisation Ursache für die Fehlbehandlung ist. Hier kommt aus Zeitdruck und Personalmangel vorhandenes Wissen im Team nicht zur Anwendung.

Grafik Sicherheit gewinnen: Vom Novizen zum Experten

Berufsanfänger in Medizin und Pflege haben Wissenslücken. Wenn sie diese wahrnehmen, können sie Entscheidungen beispielsweise durch Rücksprache mit erfahrenen Kollegen absichern. Mit der Dauer der Berufstätigkeit wächst das bekannte Wissen und überwiegt schließlich im Vergleich zum unbekannten Nichtwissen. Mit steigender Berufserfahrung treffen die Experten Entscheidungen mit souveräner Gelassenheit.

Quelle: Steden und Wilkesmann, 2019

Nichtwissen ist also nicht gleich Nichtwissen. Generell lässt sich zwischen vier Dimensionen des Nichtwissens unterscheiden:

Bekanntes Wissen ist Wissen, das ein Mensch hat, das er aber in einer konkreten Situation nicht anwendet. Dazu zählen  Fehler, bei denen Menschen vorhandenes Wissen ignorieren. Bekanntes Wissen kann aber auch in Form eines Tabus auftreten, weil es etwa ein ungeschriebenes Gesetz gibt, das es unerfahrenen Ärzten oder Pflegekräften nicht erlaubt, erfahrenen Kräften fachlich zu widersprechen.

Bei bekanntem Nichtwissen weiß jemand, dass er bestimmte Kenntnisse nicht hat. Dieses Nichtwissen kann zum einen das eigene Fachgebiet betreffen, weil spezielle Pflege- und medizinische Behandlungsformen im Moment nicht bekannt sind. Um diese Lücken zu schließen, können Ärzte oder Pflegekräfte beispielsweise nachlesen oder Kollegen um Rat fragen. Zum anderen dienen Berufs- und Fachgrenzen dazu, dass einzelne Experten im Sinne der Arbeitsteilung nicht alles wissen müssen. Dies schlägt sich in Organisationen in entsprechenden Spezialisierungen nieder, wie beispielsweise Chirurgie gegenüber Innerer Medizin oder Pflege gegenüber Medizin. Die dominante Strategie im Umgang mit bekanntem Nichtwissen besteht hier in der Delegation von Aufgaben in andere Fachgebiete.

Unbekanntes Wissen meint Wissen, von dem jemand nicht weiß, dass er es hat. Dieses Wissen zeigt sich in intuitiven Handlungen, ist unter Umständen von außen beobachtbar und kann durch gezieltes Hinterfragen aufgedeckt werden.

Unbekanntes Nichtwissen dagegen ist Nichtwissen, von dem jemand in einer Situation nicht weiß, dass er es nicht hat. Dieses Nichtwissen kann ebenfalls unter Umständen von außen beobachtet und hinterfragt werden, indem Kollegen jemanden auf Erkenntnisse aufmerksam machen, die ihm bislang unbekannt waren. Hierzu zählt die Umsetzung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis und somit das Verlernen von überholtem Wissen. Ein solcher Vorgang nimmt jedoch meist eine große Zeitspanne in Anspruch. Weitaus häufiger erkennen Menschen – wie im eingangs erwähnten Fall der Ärztin im Ruhestand – diese Art des unbekannten Nichtwissens durch neue Erfahrungen erst im Nachhinein und können daraus nachträglich lernen.

Nichtwissen kann zu Unsicherheit führen.

Nichtwissen ist also mehr als fehlendes Wissen. Dennoch wird Nichtwissen oftmals als negativ empfunden. Nichtwissen vollständig zu beseitigen, bedeutet nicht immer, eine Entscheidungsfindung zu vereinfachen. Denn umfassendes Wissen birgt das Risiko psychosozialer Belastungen etwa in Form von ethischen und moralischen Bedenken. Insofern kann der vermeintlich wünschenswerte Zustand des vollständigen Wissens nicht nur hilfreich sein, sondern es Ärzten wie Patienten schwerer machen, über eine bestimmte Therapie zu entscheiden. Gerade im medizinischen und pflegerischen Kontext stellt sich die Frage, ob Nichtwissen automatisch zu Unsicherheit führt. In der Tat kann es Menschen verunsichern, wenn sie ihr eigenes Nichtwissen wahrnehmen. So geht es möglicherweise unerfahrenen Nachwuchskräften.

Viele der befragten Ärzte und Pflegekräfte waren dankbar, über Nichtwissen offen sprechen zu dürfen.

Je nach persönlichem Erfahrungsschatz und Wissensstand nehmen beispielsweise Ärzte Unsicherheit unterschiedlich wahr. Hier lassen sich verschiedene Stufen unterscheiden (siehe Grafik „Sicherheit gewinnen: Vom Novizen zum Experten“). Als sogenannte Novizen sichern unerfahrene Ärzte ihre Entscheidungen ab, da sie eine berechtige Unsicherheit empfinden. In der darauffolgenden Phase der unberechtigten Sicherheit überschätzen sie sich leicht. Deshalb ist es wichtig, dass ihnen erfahrene Kollegen ihre Grenzen aufzeigen. Der Expertenstatus führt dazu, dass Ärzte einerseits viel wissen und andererseits ihre Wissenslücken sehr genau kennen. Letztere werden häufig überschätzt und führen zu einer unberechtigten Unsicherheit. Auf der obersten Stufe empfinden Ärzte eine berechtigte Sicherheit. Sie treffen ihre Entscheidungen souverän. Es ist jedoch nahezu unmöglich, diese meisterhafte Leistung ganz zu erreichen. Das Zusammenspiel von Nichtwissen und Unsicherheit am Beispiel der ärztlichen Erfahrungsstufen ist sicherlich auch auf andere Berufe übertragbar.

Positive Fehlerkultur etablieren.

Im Krankenhaus tragen hierarchisch aufgebaute Strukturen von Assistenz-, Fach-, Ober- bis hin zu Chefärzten dazu bei, die aus Nichtwissen folgende Unsicherheit abzufedern. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist eine positive Lern- und Fehlerkultur (siehe Beitrag „Keine Angst vorm Sorry“). Dies steht allerdings einer traditionellen Krankenhauskultur entgegen, in der häufig Schuldzuweisungen an der Tagesordnung sind und Fehler eher verleugnet werden. Eine positive Fehlerkultur hingegen könnte zu – möglicherweise nachträglichen – Lernprozessen im Fall von zuvor unbekanntem Wissen führen. Unterstützend können Meldesysteme wie CIRS wirken, in denen die Beschäftigten bekanntes Wissen über (Beinahe-)Fehler dokumentieren und Kollegen im Sinne von unbekanntem Nichtwissen zugänglich machen. Dies setzt voraus, dass solche Systeme auch mit Inhalt gefüllt und tatsächlich genutzt werden. Laut den befragten Krankenhausärzten ist CIRS zwar zu knapp 83 Prozent in den Abteilungen vorhanden. Allerdings gaben nur knapp 35 Prozent an, vorhandene Einträge zu lesen. Nur 19 Prozent nehmen selbst Einträge in CIRS vor. Im Bereich der Pflege scheint CIRS bereits besser akzeptiert und genutzt zu werden: 77 Prozent der Pflegekräfte gaben an, Einträge zu lesen und knapp 49 Prozent nehmen selbst Einträge vor.

Niedergelassene Ärzte nutzen Literatur.

Der Weg eines Arztes aus der Klinik in den niedergelassenen Bereich erfolgt in der Regel frühestens nach der fachärztlichen Ausbildung. Häufig verlassen gestandene Oberärzte das Krankenhaus in Richtung Selbstständigkeit. Die Sicherheit, die sie durch das Krankenhaus-Team haben, müssen sie bei einer Niederlassung durch andere Strategien ausgleichen. Hier zeigt sich in den Befragungen, dass niedergelassene Ärzte sehr viel mehr als ihre Kollegen im Krankenhaus Wissenslücken durch deutsch- und englischsprachige Fachliteratur überwinden (siehe Grafik „Wie Ärzte und Pflegekräfte Wissenslücken schließen“).

Digitale Technologien für alle interessant.

Auch die neuen Medien spielen bei der Überwindung von bekanntem Nichtwissen eine immer größere Rolle. Assistenzärzte nutzen sie anders als Chef- und Oberärzte: Knapp 64 Prozent der Assistenzärzte greifen auf Google zurück. Dagegen tun dies auf der Chefarztebene nur 46 Prozent. Chef- und Oberärzte greifen eher auf klassische Ressourcen wie deutsch- und englischsprachige Fachliteratur zurück.

Grafik Wie Ärzte und Pflegende ihre Wissenslücken schließen über Apps, Google, Wikipedia etc.

Fachliteratur schlägt Google: Fast 100 Prozent der niedergelassenen Ärzte und mehr als 80 Prozent der Pflegekräfte gaben in Befragungen an, Wissenslücken mit deutschsprachiger Fachliteratur zu schließen. Bei Google schauen hingegen rund 60 Prozent von ihnen nach.

Quelle: Wilkesmann, Steden und Bassyiouny, 2019

Die Ergebnisse der oben genannten Studien lassen nicht darauf schließen, dass die Nutzung digitaler Technologien vom Alter abhängt. Knapp 60 Prozent der Chef-, Ober-, Fach- und Assistenzärzte sprechen sich demnach für die Nutzung von Smartphones und Tablets im Arbeitsalltag aus. Sie erwarten von diesen Technologien einen Mehrwert insbesondere für ihre Visiten und Narkoseprotokolle. Zudem könnte die digitale Erfassung von Daten das Problem der schlechten Lesbarkeit von Handschriften lösen. Immerhin 42 Prozent der Befragten auf der Chefarztebene, 47 Prozent auf der Oberarztebene, 51 Prozent auf der Facharztebene und sogar 58 Prozent auf der Assistenzarztebene stimmten der Aussage „Es kommt vor, dass ich handschriftliche Einträge von Kollegen oder Kolleginnen nicht entziffern kann“ mit „oft“ oder „sehr oft“ zu.

Zeitdruck gefährdet guten Umgang mit Nichtwissen.

Um die Ressourcen zur Beseitigung von Wissenslücken auch nutzen zu können, bedarf es entsprechender zeitlicher Freiräume. Die bundesweite Befragung von Medizinern und Pflegekräften hat einmal mehr gezeigt, dass der Arbeitsalltag in Kliniken und Praxen häufig von Zeitdruck und Stress geprägt ist. Demnach fühlen sich fast 64 Prozent der befragten Pflegekräfte oft oder sehr oft gestresst. Ähnlich geht es der Hälfte der befragten niedergelassenen Ärzte. In allen befragten Gruppen gaben mehr als die Hälfte an, oft oder sehr oft unter Zeitdruck zu stehen. An der Spitze stehen hier die befragten Narkoseärzte mit 72 Prozent und die Pflegekräfte mit knapp 69 Prozent. Ursächlich hierfür ist neben der Ökonomisierung im Bereich der Medizin und Pflege auch der anhaltende Fachkräftemangel anzuführen. Unter solchen Arbeitsbedingungen wird der positive Umgang mit Nichtwissen erschwert. So lässt sich resümieren, dass nicht nur individuelle Unzulänglichkeiten –  wie im ersten Fall –  den positiven Umgang mit Nichtwissen gefährden, sondern Ursachen auch im politischen und organisationalen Umfeld – wie im zweiten Fall – zu suchen sind.

  • CIRSmedical.de: Berichts- und Lernsystem der deutschen Ärzteschaft für kritische Ereignisse in der Medizin
  • CIRSforte.de: Berichts- und Lernsysteme in der ambulanten Versorgung
  • Aktionsbündnis Patientensicherheit
  • Maximiliane Wilkesmann, Stephanie Steden: Nichtwissen stört mich (nicht). Zum Umgang mit Nichtwissen in Medizin und Pflege. Springer Verlag, 2019.

Insgesamt reagierten die befragten Ärzte und Pflegekräfte auf das Forschungsfeld und das Thema Nichtwissen positiv. Wenngleich fehlendes Wissen durchaus als negativ empfunden wird, war und ist das Interesse, darüber zu sprechen, relativ groß. Alle Ärzte und Pflegekräfte berichteten über konkrete Fälle, in denen sie mit dem eigenen Nichtwissen oder dem Nichtwissen anderer konfrontiert waren. Eine Vielzahl der Interviewten war geradezu dankbar, darüber offen sprechen zu dürfen. Diese Bereitschaft zur Offenheit sollte sich dafür nutzen lassen, eine positive Fehlerkultur zu etablieren und Fehlermeldesysteme künftig besser im Klinikalltag zu verankern.

Interview
„Chance zum Lernen erkannt“

Die Sicherheitskultur ist eine Führungsaufgabe und muss gelebt werden, sagt Dr. Günther Jonitz im Interview mit Änne Töpfer. Der Präsident der Berliner Ärztekammer konstatiert beim Lernen aus Fehlern einen Paradigmenwechsel – sieht aber noch Widerstände psychologischer und rechtlicher Natur.

Herr Dr. Jonitz, wie sollten Ärztinnen und Ärzte mit Wissenslücken und Unsicherheit in Entscheidungen umgehen, damit sie Patienten nicht gefährden?

Günther Jonitz: Nur derjenige ist ein guter Arzt, der seine Grenzen kennt. Deshalb braucht es neben der richtigen ärztlichen Haltung Zeit und Kapazitäten für kontinuierliche ärztliche Bildung. Diese fehlt derzeit genauso wie beispielsweise digitale Informationssysteme, die dem Arzt helfen, den Überblick über eine stetig komplexer werdende Medizin zu behalten. Gegenüber dem Patienten ist es richtig zu sagen, was man – noch – nicht weiß und wie das weitere Vorgehen ist.

Dr. Günther Jonitz ist Präsident der Ärztekammer Berlin und Mitgründer des Aktionsbündnisses Patientensicherheit.

Sie setzen sich seit vielen Jahren für eine positive Lern- und Fehlerkultur im medizinischen Bereich ein. Wie weit ist Deutschland heute diesbezüglich?  

Jonitz: Auf der nationalen Ebene ist der Paradigmenwechsel 2008 erfolgt. Mit der Broschüre „Aus Fehlern lernen“ des Aktionsbündnisses Patientensicherheit und der darauf folgenden Welle in den Medien bis hin zur Boulevardpresse hat ein Umdenken bei allen Institutionen stattgefunden. Niemand verschließt sich ernsthaft, wenn ein schwerwiegender Fehler passiert ist. Patientensicherheit wird dort als Chance zum Lernen erkannt. Auf der Ebene der unmittelbaren Versorgung stößt dies noch auf zahlreiche Widerstände. Diese sind beispielsweise psychologischer, aber auch rechtlicher Natur. Hier muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden.

An welchen Ländern und Modellen könnte sich Deutschland im Bemühen um eine positive Fehlerkultur orientieren?

Jonitz: Ich kenne kein Land, in dem der gewünschte oder erhoffte offene Umgang mit Fehlern und Beinahe-Fehlern ideal wäre. In Deutschland setzen sich zahlreiche ärztliche oder pflegerische Organisationen sehr engagiert und freiwillig mit diesem Thema auseinander. Aus der Theorie lernen kann man allerdings beispielsweise von Großbritannien, den USA, Kanada und den Niederlanden. Und in Irland, in Süd-Korea und Japan wird routinemäßig die Sicherheitskultur im Krankenhaus evaluiert und daraus Konsequenzen gezogen.

Inwiefern tragen Fehlermeldesysteme dazu bei, die Patientensicherheit zu erhöhen?

Jonitz: Wir haben sie in Fehlerlernsysteme umgetauft, weil es eben nicht darum geht, etwas zu melden, sondern aus den gemeldeten Fehlern zu lernen. Das setzt eine positive Fehler- beziehungsweise Sicherheitskultur voraus. Dies ist Führungsaufgabe und muss gelebt werden. Dann sind solche Systeme die ideale Grundlage, um aus Fehlern oder besser Beinahe-Fehlern zu lernen, nicht alle Fehler selbst zu machen und sich kontinuierlich damit zu befassen, welche Fehler und Risiken wie vermieden werden können. Das Netzwerk CIRS Berlin ist inzwischen über zehn Jahre aktiv.

Woran liegt es, wenn Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte Fehlerlernsysteme nicht ausreichend nutzen?

Jonitz: Zwei Hauptgründe: Erstens, wenn den gemeldeten Ereignissen nicht mit dem nötigen Nachdruck nachgegangen wird und, zweitens, wenn die wichtigste Ursache für riskante Versorgung – der Personalmangel – zwar bekannt ist, jedoch nicht genug dagegen unternommen wird.

Das Interview führte Änne Töpfer.

Maximiliane Wilkesmann ist außerplanmäßige Professorin am Institut für Soziologie an der Technischen Universität Dortmund.
Stephanie Steden ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Technischen Universität Dortmund.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: ÄKB/K.Friedrich