Welche Therapie ist die beste für mich? Viele Patienten wollen heute stärker in medizinische Entscheidungen einbezogen werden.
Kommunikation

Patienten reden ein Wörtchen mit

Wenn Ärzte und Patienten gemeinsam Entscheidungen treffen, verbessern sich Diagnostik und Therapie. Die AOK Bremen/Bremerhaven hat das Shared Decision Making deshalb gemeinsam mit weiteren Partnern in den Hausarztvertrag aufgenommen. Von Jörn Hons

Kaum hat man die Arztpraxis verlassen,

fallen einem all die Fragen ein, die man seinem Doktor stellen wollte. Zu spät. Welche Tabletten muss ich jetzt eigentlich wann nehmen und wie gehe ich mit den beschriebenen Nebenwirkungen um? Und welche der drei Therapiemöglichkeiten ist die beste und was passiert, wenn ich lieber noch abwarten würde?

Patientenalltag in Deutschland. Viele Menschen fühlen sich im Gespräch mit ihrem Arzt nicht richtig gehört, nicht richtig gesehen, nicht richtig ernst genommen – nicht zuletzt auch durch die Hektik im Praxisbetrieb. Doch in Bremen und Bremerhaven soll sich das jetzt ändern: Im kleinsten Bundesland setzt die AOK Bremen/Bremerhaven zusammen mit weiteren Partnern das Programm „Shared Decision Making“ (SDM, englisch für „Gemeinsame Entscheidungsfindung“) um. Hausärzte und Patienten sollen dabei lernen, besser miteinander zu sprechen und gemeinsam auf Augenhöhe über die passende Therapie entscheiden. Unter dem Namen „Share to care“ ist das Modell ein neuer Bestandteil des Hausarztvertrages in Bremen – und verpflichtet damit rund 450 Hausärzte, es anzuwenden.

Experten für die eigenen Wünsche.

Entwickelt wurde das Programm im Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Kiel. Dort erproben Klinikärzte das Kommunikationsmodell seit gut zwei Jahren – finanziert mit Mitteln des Innovationsfonds. Der Psychologe Professor Dr. Friedemann Geiger leitet das Programm. Er hält die gemeinsame Entscheidungsfindung immer dann für angebracht, wenn sich mehrere Behandlungsmöglichkeiten gleich gut begründen lassen. „Einerseits muss der Arzt dabei verständlich über die Vor- und Nachteile der Optionen informieren“, sagt Geiger, „dafür ist er der Experte“. Anderseits müsse der Patient beitragen, welche Wünsche und Befürchtungen er habe. „Das kann man als Arzt nicht voraussehen – dafür ist der Patient der Experte.“

Ärzte fragen zu wenig.

Das Programm für eine gemeinsame Entscheidungsfindung besteht aus vier Modulen: einem Training für Ärzte, der Information und Aktivierung der Patienten, den Online-Entscheidungshilfen und der Ausbildung von Praxis-Mitarbeitern zu sogenannten Decision-Coaches (Entscheidungstrainern). Share to care stellt dafür eine internetbasierte Plattform bereit, über die die Kommunikation mit den Ärzten datenschutzkonform und datensicher abgewickelt wird.

Die beteiligten Mediziner können auf der Internet-Plattform zum Beispiel Onlinetrainings absolvieren und mit einem Wissenstest abschließen. Ein zentrales Element ist aber auch das Training der Mediziner im Arzt-Patienten-Gespräch, das per Video aufgezeichnet werden kann. Experten des Uniklini­kums Kiel schauen sich diese Gespräche der Ärzte mit Musterpatienten an und geben ihnen anschließend Tipps, was sie beim nächsten Mal besser machen können. Denn laut Projektleiter Geiger berichten Patienten immer wieder über Defizite beim Austausch mit ihrem Arzt: „Viele Patienten sagen, dass ihr Arzt viel zu wenig fragt – und dass er sie im Gespräch häufig nicht ernst nimmt oder gar übergeht“, so Geiger. Mithilfe von Shared Decision Making wolle man die Mediziner dazu bringen, sich intensiver mit den Patienten auseinanderzusetzen und damit Diagnostik und Therapie zu verbessern sowie die Therapietreue zu erhöhen. Vor allem chronisch Kranke sollen von dem Programm profitieren.

Informationen im Gespräch sortieren.

Privatdozent Dr. Mark Lüdde hat schon Erfahrungen mit dem Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung gesammelt. Der Bremerhavener Kardiologe hat als Oberarzt am Uniklinikum Kiel gearbeitet. „Was sich auf jeden Fall geändert hat, war die Reaktion der Patienten, mit denen ich zu tun hatte: Sie waren deutlich entschlossener und besser informiert, den vereinbarten Behandlungsweg auch zu gehen“, betont er (siehe Interview). Wichtig für seine Patienten sei vor allem gewesen, sich die eigenen Fragen zu Hause aufzuschreiben.

Patienten wollen heute deutlich stärker einbezogen werden als früher. Fast jede Krankheit lasse sich zwar umfassend im Internet recherchieren, mehr Orientierung biete das aber nicht automatisch, sondern erst im Gespräch mit dem Mediziner, betont Friedemann Geiger. Er stellt aber auch klar: „Shared Decision Making ist kein Zwang, sondern ein Angebot an die Patienten.“ Dafür müssten alle hinzulernen und umdenken: Ärzte, medizinisches Personal und Patienten. Patienten sollen in erster Linie lernen, im Gespräch mit dem Arzt drei wichtige Fragen zu stellen: Welche Möglichkeiten habe ich (inklusive Abwarten und Beobachten)? Was sind die Vorteile und die Nachteile jeder dieser Behandlungsmöglichkeiten? Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Vorteile und Nachteile bei mir auftreten?

Patientenzufriedenheit steigt.

Damit diese Fragen bei den unterschiedlichen Krankheiten im entscheidenden Moment präsent sind, werden sie online, aber auch als Broschüren, Handkarten und Videos zur Verfügung gestellt. Insgesamt arbeiten die Kieler Forscher derzeit an 80 Krankheitsbildern. Der Schirmherr des Kieler Projekts, Arzt und Fernsehmoderator Dr. Eckart von Hirschhausen, erläutert viele Entscheidungshilfen im Video oder auf der Webseite. Einige Beispiele: Patienten mit Adipositas werden verschiedene Behandlungsmöglichkeiten vorgestellt – also Lebensstiländerung, Magenband, Magenbypass und Magenoperation. Für Patienten mit schubförmiger Multipler Sklerose werden vier medikamentöse Basistherapien verglichen. Patienten mit asymptomatischer Karotisstenose, einer Herzerkrankung, werden über Vor- und Nachteile einer medikamentösen Weiterbehandlung, über Stents und einen operativen Eingriff informiert.

Laut SDM-Experte Geiger zeigen wissenschaftliche Studien, dass sich die Patientenzufriedenheit mit solchen Informationen und den Trainings der Ärzte deutlich verbessert. „Einzigartig in Bremen ist, dass wir Shared Decision Making in einem ganzen Bundesland einführen. Und wir sind optimistisch, dass wir dieses Modell auf den Rest der Republik übertragen können.“ Die Jury des MSD Gesundheitspreises 2019 hat das Programm „Share to care“ bereits überzeugt: Sie bedachte es jüngst mit dem Sonderpreis „Community Medicine“.

Porträt von Mark Lüdde

Interview: „Die Aufklärung ist besser“

PD Dr. Mark Lüdde ist Herzspezialist in einer kardiologischen Gemeinschaftspraxis in Bremerhaven. Zuvor hat er das Programm „Shared Decision Making“ am Uniklinikum in Kiel angewendet.

Herr Dr. Lüdde, was verändert sich durch Shared Decision Making im Gespräch mit dem Patienten?

Dr. Mark Lüdde: Die Qualität der Gespräche hat sich für mich dramatisch verbessert. Ich habe lange in der kardiologischen Notfallambulanz gearbeitet, und selbst unter diesen Bedingungen habe ich gelernt, mich im Gespräch besser zu strukturieren. Ich hatte zu Beginn Befürchtungen, dass das Training eine weitere Arbeitsbelastung ist. Aber dem war nicht so. Hilfreich war zum Beispiel, sich im Trainingsvideo selbst als Arzt in Aktion zu sehen. Gucke ich den Patienten dabei an? Oder: Wie strukturiere ich das Gespräch? Seitdem fasse ich immer alle Behandlungsmöglichkeiten, die ich mit den Patienten bespreche, am Ende des Gesprächs noch einmal kurz zusammen.

Ist das nicht sehr zeitaufwendig?

Lüdde: Natürlich kostet das Zeit. Aber ich wende das Shared Decision Making nicht bei jedem Patienten an, sondern vor allem bei jenen, bei denen eine wichtige Therapieentscheidung ansteht. Das Programm zwingt uns ja dazu, über wirklich alle Therapieentscheidungen aufzuklären – und auch Nichtstun kann eine gute Entscheidung des Patienten sein. Wir Ärzte neigen dazu, uns zu früh auf eine bestimmte Behandlung festzulegen, die wir wollen. Es ist aber besser, der Patient liegt auf dem OP-Tisch, weil er es selbst will – und nicht, weil wir ihn dort hingeredet haben.

Und wie kommt das bei den Patienten an?

Lüdde: Sehr gut. Die Aufklärung ist besser, weil uns das Shared Decision Making darin trainiert, so mit Patienten zu sprechen, dass sie die Entscheidung verstehen. Das bedeutet, den medizinischen Wortschatz einzuschränken und verständlich zu sprechen. Dann bekommen wir meist sofort eine Rückmeldung. Ich hatte zum Beispiel einen Patienten, der einen Herzschrittmacher bekommen sollte. Der OP-Termin in einer anderen Klinik war bereits reserviert, aber er wollte eine zweite Meinung hören. Nach dem Gespräch sagte er: Das Gespräch war so gut, jetzt lasse ich auch den Eingriff bei Ihnen machen. Das hat mich dann auch von dem Projekt überzeugt.

Das Interview führte Jörn Hons.

Jörn Hons ist Pressesprecher der AOK Bremen/Bremerhaven.
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