Porträt
Vorstand gefragt!

„Zentralismus ist der falsche Weg“

Ob Großstadt, Kleinstadt oder auf dem Land – die AOK setzt bei der Gesundheitsversorgung auf Regionalität. Für Detlef Lamm, den Vorstandsvorsitzenden der AOK Hessen, ist klar: Die Nähe zu den Menschen vor Ort ist bei der AOK Hessen in der DNA verankert.

G+G: Herr Lamm, warum setzen Sie in Zeiten der Globalisierung und der digitalen Vernetzung auf Regionalität?

Detlef Lamm: Die AOK Hessen ist zuallererst eine Krankenversicherung, die auf eine regionale Gesundheitsversorgung setzt und deshalb immer nah bei den Menschen ist. Doch obwohl die Regionalität für uns ein wichtiger Ankerpunkt ist, weil wir vor Ort gestalten wollen, nutzen wir trotzdem alle Möglichkeiten, die uns die vernetzte Welt bietet. Digitalisierung und Regionalität sind für uns keine Gegensätze. Die Digitalisierung gibt uns beispielsweise Instrumente an die Hand, mit denen wir es unseren Kundinnen und Kunden noch leichter machen können, mit uns zu kommunizieren. Außerdem können wir mithilfe digitaler Technik auch in ländlichen Regionen, wo die Wege zum nächsten Arzt oder zur nächsten Klinik manchmal etwas weiter sind, die gesundheitliche Beratung und medizinische Versorgung verbessern. Letztlich ist es egal, ob analog oder digital: Für eine bestmögliche Versorgung unserer Versicherten gestalten wir als Gesundheitskasse die Versorgungsstrukturen hier in unseren Regionen ganz konkret mit.

G+G: Bringt das etwas, obwohl ja immer mehr Menschen aus den ländlichen Regionen wegziehen?

Lamm: Eins vorweg: regional würde ich nicht zwingend gleichsetzen mit ländlich. Regionen können großstädtisch, kleinstädtisch und natürlich auch ländlich sein. Wir fühlen uns für alle diese Regionen verantwortlich. Aber natürlich wissen wir auch, dass wir gerade im ländlichen Bereich besondere Akzente setzen müssen. Ziehen viele Menschen aus den ländlichen Bereichen in städtische Regionen, verändert sich damit auf dem Land auch die Infrastruktur. Kulturelle Vielfalt, öffentlicher Nahverkehr oder die Bildungslandschaft geraten dann in Mitleidenschaft. Solche strukturschwachen Regionen werden dann auch immer uninteressanter für junge Ärzte, um sich dort neu anzusiedeln. Umgekehrt ist die zum Teil eingeschränktere medizinische Versorgung auch einer der Gründe für den Zuzug in städtische Regionen. Hier sehen wir uns als Gesundheitskasse in der Pflicht, unseren Beitrag zu leisten, diesem Trend entgegenzuwirken und die Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen zu verbessern.

G+G: Ist Gesundheit für die Menschen ein so gewichtiger Standortfaktor?

Lamm: Absolut. Verschiedene Studien belegen das und wir haben das jüngst mit unserer Initiative „Stadt. Land. Gesund.“ auch empirisch noch einmal herausgearbeitet: Unter allen Infrastruktureinrichtungen hat die Gesundheitsversorgung für die Menschen den höchsten Stellenwert. Vor allem die hausärztliche Versorgung ist für die Menschen enorm wichtig. Für 95 Prozent der Befragten lag bei einer forsa-Umfrage im Auftrag der AOK die Verfügbarkeit von Hausärzten in der Bedeutung ganz vorne, noch vor den Einkaufsmöglichkeiten oder der Internetanbindung. Was die Umfrage auch zeigte: Zwischen Stadt und Land gibt es bei der Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung große Unterschiede. So sind Einwohnerinnen und Einwohner ländlicher Regionen deutlich unzufriedener mit dem Angebot an Krankenhäusern und Fachärzten. Aber auch in kleineren und mittleren Städten nahmen die Befragten eine Verschlechterung der Versorgung mit Haus- und Fachärzten sowie Krankenhäusern wahr. Das sind Ergebnisse, die wir sehr ernst nehmen müssen.

G+G: Was kann die AOK dazu beitragen, die Versorgung in Hessen besser zu machen?

Lamm: Die AOK hat nicht nur eine relevante Größe als Akteurin im Gesundheitswesen, sondern vor allem auch die nötigen Kompetenzen, die Gesundheitsversorgung vor Ort besser zu gestalten. Wir tun dies in zahlreichen Gremien und Institutionen, etwa gemeinsam mit der Landesregierung oder im Hessenpakt zusätzlich mit anderen Akteuren des hessischen Gesundheitswesens. Soviel ist klar: Eine gute Gesundheitsversorgung lässt sich nur durch Vernetzung mit anderen Akteuren erreichen. Deshalb haben wir mit unseren Partnern zahlreiche Selektivverträge gestaltet, etwa zur Kataraktchirurgie, in den Bereichen Endoprothetik, Adipositas, Schlafapnoe, Neurologie oder auch in der Pflege. Wir unterstützen innovative Projekte wie die Kasseler Stottertherapie oder die Online-Sehschule und sind in der regionalen Selbsthilfeförderung sehr engagiert. Da sind wir als Krankenversicherung in Hessen führend. Neben digitalen Online-Angeboten, Chat-Funktionen, sozialen Medien ist und bleibt für uns die Nähe zum Menschen ein besonderer Faktor. Deswegen sind wir mit 54 Beratungs-Centern in Hessen flächendeckend aktiv. Und unsere 34 Pflegeberaterinnen und -berater besuchen Pflegebedürftige und deren Angehörige auf Wunsch auch zu Hause.

G+G: Wie hoch ist Ihrer Meinung nach die Bedeutung von Regionalität für die AOK?

Lamm: Regionalität und Nähe sind bei der AOK sozusagen in der DNA verankert. Das heißt, wir wollen nah bei den Menschen sein, nah bei ihren Bedürfnissen. Und mit Lösungen aufwarten, die auf die Bedürfnisse vor Ort ganz konkret eingehen. Die AOK-Initiative „Stadt. Land. Gesund.“ ist ein Ausdruck dieser regionalen Verankerung. Wir haben zahlreiche regionale Versorgungsprojekte auf den Weg gebracht, um in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen eine gute medizinische Versorgung sicherzustellen.

G+G: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Schwerpunktsetzung in der aktuellen Gesundheitspolitik?

Lamm: Das ist eine spannende Frage, die man sicherlich auch differenziert betrachten muss. In der pflegerischen Versorgung beispielsweise hat sich in den vergangenen Jahren viel Positives getan. Auch im Bereich der digitalen Versorgung gibt es in der aktuellen Gesetzgebung gute Ansätze, das muss man anerkennen. Aber es gibt auch zahlreiche kritische Punkte. Die Bundesregierung stellt mit ihrer immer stärker zentralistisch ausgerichteten Gesundheitspolitik föderale Strukturen, die Kompetenzen der Krankenkassen auf Länderebene und die Selbstverwaltungsautonomie in Frage. Das ist definitiv der falsche Weg. Unsere vertraglichen und vergütungstechnischen Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort wurden bereits deutlich eingeschränkt. So können wir beispielsweise die Heilmittelpreise nicht mehr auf Landesebene verhandeln – die werden jetzt bundesweit vom GKV-Spitzenverband verhandelt. Auch im Hilfsmittelbereich wurden bestimmte Ausschreibungsmöglichkeiten komplett abgeschafft. Diese Entwicklung betrachte ich mit großer Sorge.

G+G: Was sind für Sie die wesentlichen Planken für die Weiterentwicklung im Gesundheitswesen?

Lamm: Als AOK Hessen stehen wir für ein Gesundheitswesen, in dem alle Bürgerinnen und Bürger eine umfassende Gesundheitsversorgung erhalten – unabhängig von Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Einkommen. Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, mit einer solidarischen Krankenversicherung gut abgesichert zu sein. Um das sicherstellen und dauerhaft finanzieren zu können, müssen wir künftig noch konsequenter Qualitäts- und Effizienzreserven sowie die Chancen der Digitalisierung nutzen. Dafür brauchen wir in der Selbstverwaltung die entsprechenden Freiräume.

Karola Schulte führte das Interview. Sie ist Chefredakteurin der G+G.
Bildnachweis: AOK Hessen