Interview

„Wir haben in der Pflege einen enormen Druck“

Die Finanzierung der Pflege rasch reformieren, eine Landarztquote einführen und die flächendeckende Versorgung sichern – die niedersächsische Sozialministerin Dr. Carola Reimann bezieht Position.

Frau Dr. Reimann, Sie saßen 17 Jahre im Bundestag, bevor Sie in Niedersachsen Ministerin wurden. Wie hat sich Ihre Arbeit verändert und vermissen Sie die Bundespolitik manchmal?

Carola Reimann: Ich bin ja bei der Bundespolitik immer dann dabei, wenn wir über den Bundesrat Gesetzesinitiativen begleiten. Hier geht es mir etwa darum, mich gegen die regelmäßigen Angriffe auf die Selbstverwaltung zu stemmen. Und gleichzeitig habe ich in meinem Ministeramt die Möglichkeit, sehr viel konkreter zu arbeiten, dichter an den Versorgungsfragen und somit an den Menschen zu sein. Man sieht dann auch vor Ort, was funktioniert und was nicht.

Welches ist das vordringlichste Thema in Ihrem Bundesland?

Reimann: Unser zentrales Thema ist die Pflege. Wir haben im Sommer eine Konzertierte Aktion Pflege in Niedersachsen gehabt. Dabei haben wir eine Kooperationsvereinbarung mit allen maßgeblichen Playern geschlossen, inklusive ver.di und den Unternehmensverbänden. Die geplanten Maßnahmen betreffen das betriebliche Gesundheitsmanagement, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, das Thema Bürokratieabbau, neue Versorgungsformen und die Digitalisierung. Und natürlich haben wir auch über Geld geredet. Hier haben wir mit den Kassen vereinbart, dass es eine Refinanzierung der tatsächlichen Personalkosten gibt, auch von Tariflöhnen. Denn wir wollen eine ordentliche Bezahlung. Zudem muss die ambulante Pflege stärker entlastet werden. Sie steht mir zu wenig im Blickpunkt.

Was muss beim Thema Pflege auf Bundesebene geschehen?

Reimann: Ich finde, es muss schnell mit einer Reform der Pflegeversicherung weitergehen, denn wir haben in der Pflege einen enormen Druck. Wenn wir jetzt eine bessere Versorgung und eine bessere Bezahlung der Beschäftigten haben wollen, führt das ohne ein Gegensteuern dazu, dass die Eigenbeteiligung der Versicherten rapide ansteigt. Wir brauchen daher eine Fixierung des Eigenanteils. Zur Finanzierung muss es einen Steuerzuschuss, etwa für versicherungsfremde Leistungen, geben. Die Pflegeversicherung ist der einzige Sozialversicherungsbereich, wo wir keinen Anteil an Steuern mit drin haben. Zudem müssen die soziale und die private Pflegeversicherung zu einer gemeinsamen Versicherung zusammengeführt werden. Das ist das, was man früher Pflegebürgerversicherung nannte. Das alles kann man nicht auf die lange Bank schieben. Das müssen wir nächstes Jahr im Gesetz haben.

Wir brauchen eine gute, klare Vertretung der Beschäftigten in der Pflege.

Für das Ziel, die Sozialabgaben nicht über 40 Prozent steigen zu lassen, wird es dann aber schwierig.

Reimann: Ja, aber diese Änderung ist im Sinne einer älter werdenden Gesellschaft. Wir können das nicht alles auf den Schultern des Einzelnen belassen, sondern hier handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.  

In Niedersachsen gibt es immer wieder Proteste gegen die Pflichtmitgliedschaft in der Pflegekammer. Halten Sie diese für gerechtfertigt?

Reimann: Ich bin der Meinung, wir brauchen eine gute, klare Vertretung der Beschäftigten in der Pflege. Ärzte, Apotheker und andere Gruppen sind bislang sehr viel besser organisiert und sehr viel deutlicher mit ihren Positionen zu hören. Deswegen kam die Idee einer Pflegekammer auf. Und das Wesen einer Kammer ist natürlich, dass sie alle repräsentiert. Die Erhebung des Mitgliedsbeitrages hat allerdings zu Ärger auf Seiten vieler Pflegekräfte geführt. Aus diesem Grund hat die Regierungs­koalition aus SPD und CDU nun entschieden, die Kammer beitragsfrei zu stellen. Diesen Schritt begrüße ich ausdrücklich.

In den ländlichen Regionen fehlen Ärzte. Was sind Niedersachsens Pläne, um dem zu begegnen?

Reimann: Die Sicherstellung liegt ja bei der Kassenärztlichen Vereinigung. Mit dieser haben wir eine strategische Partnerschaft geschlossen. Dort, wo das Land hilfreich sein kann und unter­stützen kann, tun wir das auch. Wir unterstützen als Sozial­ministerium etwa Studierende, die im ländlichen Raum Allgemeinmedizinerin oder -mediziner werden. Wir fördern auch einzelne praktische Phasen, die man im ländlichen Raum in einer Arztpraxis absolviert, noch einmal zu­sätzlich. Und nach dem Studium kommt die Kassenärztliche Vereinigung mit einem ganzen Strauß an Möglichkeiten bei der Niederlassung zu Hilfe – von direkten Zahlungen bis hin zu Umsatzgarantien. Wir haben uns vorgenommen und sind dabei, all diese Maßnahmen zu evaluieren. Wir werden dann nochmal darüber sprechen, ob wir nicht wie in anderen Bundesländern eine Landarztquote einführen, bei der die Zulassung zum Studium an die Zusage geknüpft wird, später in einer ländlichen Region tätig zu sein.

Entlastung wird es auch geben durch die Delegation von Leistungen.

Ihr Koalitionspartner CDU spielt dabei bislang nicht mit …

Reimann: Ich bin Befürworterin einer Landarztquote, denn ich halte sie für eine zusätzliche Möglichkeit, junge Leute aufs Land zu holen. Wir schauen jetzt, ob sich durch die bisherigen umfangreichen Maßnahmen etwas verbessert hat oder ob nicht die Landarztquote ein zusätzlicher Baustein sein sollte. Auch die CDU sieht, wie schwierig es teilweise ist, Praxen im ländlichen Raum nachzubesetzen.

Können Medizinische Versorgungszentren eine Lösung sein?

Reimann: Ich glaube, es wird darauf hinauslaufen, dass es mehr  Gemeinschaftspraxen oder Medizinische Versorgungszentren gibt. Die Ärzte wollen stärker im Team arbeiten mit Vertretungs- und Teilzeitmöglichkeiten, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Entlastung wird es auch geben durch die Delegation von Leistungen. Viele Ärzte haben ja schon Assistentinnen und Assistenten zur Unterstützung mit in der Praxis. In Niedersachsen haben wir unlängst ein Projekt in Gifhorn gestartet, wo eine Arztpraxis mit einem Pflegedienst eng kooperiert, um chronische Patienten – unterstützt durch Telemedizin – gut zu versorgen.

Besteht aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass es in Zukunft Regionen ganz ohne medizinische Versorgung gibt?

Reimann: Wir arbeiten alle dafür, dass es soweit nicht kommt. Deswegen verstehe ich auch nicht, mit welcher Rigorosität Wissenschaftler oft die Zahl der Krankenhäuser infrage stellen. Bei allen notwendigen Kooperationen und Zusammenschlüssen ist ein flächendeckendes Netz in diesem Bereich so etwas wie das Rückgrat der Versorgung. Und wenn die Patienten älter werden und nicht mehr in die eigenen Autos steigen sollen, dann wird man auch noch mal stärker über Mobilität nachdenken müssen und wie Patienten dann zu ihrer Versorgung kommen.

Durch rollende Arztpraxen?

Reimann: Das glaube ich eher nicht. Wir haben das vor einigen Jahren hier ja mal ausprobiert. Auf jeden Fall ist dies immer die zweitbeste Lösung. Überzeugender finde ich Konzepte, wie es sie mal in Brandenburg gab: Morgens werden mit einem Bus die Schüler gefahren, zwischendurch Patienten zum Arzt gebracht und dann wieder die Schüler nach Hause gefahren. Über solche Mobilitätskonzepte muss man noch stärker nachdenken.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: Werner Krüper