Leben ohne Schläuche: Durch ein besonderes Versorgungsangebot der AOK sollen Patienten von Beatmungsgeräten loskommen.
Versorgungsmanagement

Wieder selbst atmen können

Verschiedene Erkrankungen können dazu führen, dass Patienten maschinell beatmet werden müssen. Um sie nach einem stationären Aufenthalt davon zu entwöhnen, gehen fünf Kliniken in Hessen zusammen mit der AOK neue Wege. Von Norbert Staudt

Nach einer schweren Lungenentzündung

war Heinz Bertram monatelang auf künstliche Beatmung angewiesen. Dank einer ausgefeilten Therapie sieht er nun Licht am Ende des Tunnels: „Nach drei Monaten geht es mir wieder erstaunlich gut, was ich noch im August nie für möglich gehalten hätte“, erzählt der Busfahrer. „Ich kann wieder frei atmen, sogar rausgehen, am Leben teilnehmen.“ Bertram wurde im „Therapiezentrum für außerklinische Beatmung“ (TAB) am Krankenhaus Hofheim intensiv betreut. Das Therapiezentrum hat im Juli 2019 im Rahmen eines neuen Versorgungsvertrags mit der AOK Hessen seinen Betrieb aufgenommen. Der Vertrag, der erste seiner Art in Deutschland, wurde darüber hinaus mit Kliniken in Greifenstein, Bad Wildungen, Bad Arolsen und Immenhausen geschlossen.

Unter ständiger Beobachtung.

Bei der invasiven Beatmung führt eine Trachealkanüle vom Hals direkt in die Luftröhre. Die Patientinnen und Patienten sind extrem geschwächt, können weder eigenständig schlucken noch Sekret abhusten. Dieses wird von einer Pflegefachkraft abgesaugt, die sie ständig beobachtet. Das TAB-Konzept zielt auf eine Stabilisierung der Betroffenen mit dem Ziel, sie von den Maschinen zu entwöhnen („Weaning“) und so vor einer lebenslangen Beatmung zu bewahren. Zu diesem Zweck erfolgt im TAB eine permanente Betreuung durch erfahrene Pflegekräfte – im Einzelfall bis zu sechs Monate. Zudem erhalten die Betroffenen Physio-, Atmungs- und Ergotherapie sowie Logopädie.

Mehr Zeit zum Entwöhnen.

Die Zahl beatmeter Personen, die rund um die Uhr von Pflegefachkräften betreut werden müssen, ist von 2012 bis 2016 um 170 Prozent gestiegen. Schnell wurde deutlich, dass beatmete Patientinnen und Patienten nach Hause entlassen wurden, bei denen durchaus ein Potenzial für eine Beatmungsentwöhnung bestanden hätte. Ein wesentliches Problem: Die bestehenden Versorgungskapazitäten reichten nicht aus, um die medizinisch möglichen Entwöhnungen umsetzen zu können. Tatsächlich wird mehr Zeit benötigt, um jenseits des klinischen Alltags mit der Therapie zu beginnen – in wohnlicher Atmosphäre und sehr individuell. Um diese Zeit und die Rahmenbedingungen geben zu können, wurde mit dem TAB ein neuer zusätzlicher Versorgungsbaustein etabliert. Laut Jörg Blau, verantwortlicher Arzt im TAB Hofheim, hat die Beatmungsmedizin in den vergangenen Jahren rasante Fortschritte gemacht. „Wir können den meisten Patienten helfen, wieder selbst zu schlucken und die Trachealkanüle, über die Sekrete abgesaugt werden, damit diese nicht in die Lunge gelangen, hinter sich zu lassen.“

Erste Patienten ohne Kanüle nach Hause.

Unter den Versicherten der AOK Hessen gibt es jährlich 120 bis 150 neue Beatmungsfälle. „Da diese Menschen mit ihrer Erkrankung im Durchschnitt noch mehrere Jahre leben, bringt eine erfolgreiche Dekanülierung nicht nur eine signifikante Erhöhung der Lebensqualität, sondern ebenso eine Kosteneinsparung mit sich“, erläutert Dr. Isabella Erb-Herrmann, Bevollmächtigte des Vorstandes für Gesundheitspartnermanagement. „Die Aufwendungen für intensivpflichtige Patientinnen und Patienten belaufen sich auf insgesamt 50 Millionen Euro jährlich für die AOK Hessen.“ Von den ersten in ein TAB aufgenommenen Patientinnen und Patienten konnten bereits einige ohne Trachealkanüle entlassen werden. Zu Hause muss die Therapie nicht sofort enden: Wenn notwendig, kann eine bis zu einjährige intensive Nachbetreuung durch das Weaning-Team erfolgen.

Norbert Staudt ist zuständig für die Politische Öffentlichkeitsarbeit in der Hauptabteilung Unternehmenspolitik/-kommunikation der AOK Hessen.
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