Digitalisierung

Datenschatz für die Versorgung von morgen

Krankenkassen-Abrechnungen, Krebsregister oder Klinik-Qualitätsberichte – solche Datensammlungen können wertvolle Informationen über den Stand und die Zukunft der Gesundheitsversorgung liefern. Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jonas Schreyögg plädiert an den Gesetzgeber, Wissenschaftlern den Zugang zu diesen Daten zu erleichtern.

Der öffentliche Diskurs zu Digitalisierung und Big Data im Gesundheitswesen ist von starker Ambivalenz geprägt: Einerseits bestehen hohe Erwartungen an Verfahren der künstlichen Intelligenz, andererseits sehen viele Menschen Risiken darin, Daten in großem Umfang zu sammeln und zu nutzen. Insgesamt hinkt Deutschland anderen europäischen Staaten beim Aufbau und Zugang zu Forschungsdaten hinterher (OECD 2015). Ein guter Zugang zu Forschungsdaten ist jedoch essenziell für die Innovationsfähigkeit des Wissenschaftsstandorts Deutschland und die evidenzbasierte Weiterentwicklung des Gesundheitssystems.

Deutschland hat eine hervorragende Datenbasis.

Bereits jetzt generiert das Gesundheitssystem große Datenmengen. Dazu gehören vor allem Struktur- und Abrechnungsdaten aus allen Sektoren, die sich beispielsweise aus den Abrechnungen von Kliniken und Arztpraxen mit den Krankenkassen ergeben. Diese sogenannten Routinedaten dokumentieren die behandelten Krankheiten, die erbrachten Leistungen und die Kosten. Sie liegen bei verschiedenen Trägern und Dienstleistern in unterschiedlichen Konfigurationen vor. Die Qualität der Struktur- und Abrechnungsdaten, beispielsweise die Qualität der Kodierung der Krankheiten und Behandlungen im stationären Sektor, ist im Vergleich mit anderen Industriestaaten in Deutschland als sehr gut einzustufen.

Kaum ein Land weist eine so hervorragende Datenbasis auf. Allerdings lassen sich diese Struktur- und Abrechnungsdaten bisher für die meisten Forschungsfragen nicht nutzen, weil sie nicht mit allen relevanten Informationen zusammengeführt sind. Außerdem stehen Forschende vor administrativen Hürden, wenn sie die Daten für ihre Analysen nutzen wollen. Diese Schwierigkeiten im Zugang sind meist nicht auf Datenschutzgesetze zurückzuführen (Schreyögg 2017).

Hürden bei der Nutzung.

In den letzten Jahren stellten Kliniken und Kassen die stationären Abrechnungsdaten sowie die Kassendaten prinzipiell als Individualdatensatz pseudonymisiert zur Verfügung. Alle Daten zu einem Fall beziehungsweise einer Person liegen also unter Verschlüsselung des Namens gebündelt vor. Die stationären Abrechnungsdaten stehen seit einigen Jahren als fallpauschalenbezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik) im Forschungsdatenzentrum Bund zur Verfügung. Diese Daten generiert das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) im Rahmen der DRG-Kalkulation. Die Kostendaten der Krankenhäuser sind für wissenschaftliche Zwecke bisher nicht geöffnet und werden auch nicht an das Statistische Bundesamt übermittelt.

Nach den gesetzlichen Vorgaben erhobene ambulante und stationäre Abrechnungsdaten sowie Daten aus anderen Sektoren standen auch bisher beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) für Forschungszwecke zur Verfügung. Diese Daten erfasst das Bundesversicherungsamt (BVA) für den morbiditätsorientieren Risikostrukturausgleich und übermittelt sie an das DIMDI. Bei beiden Datensätzen ergeben sich für die Forschung Probleme bezüglich des Umfangs der bereitgestellten Informationen sowie dem Prozedere der operativen Datennutzung.

Viele Fragen lassen sich derzeit nicht bearbeiten.

Im Rahmen der DRG-Statistik werden alle Informationen zur Abrechnung der Krankenhäuser an das Statistische Bundesamt übermittelt. Allerdings sind bereits bei der Datenaufbereitung bestimmte Voraussetzungen nicht gegeben, um die Daten für einen Großteil der Fragestellungen in der Forschung sinnvoll nutzen zu können.

Erstens darf der öffentlich verfügbare und offiziell vom InEK zertifizierte Grouper – eine jährlich aktualisierte Software, die die Krankenhäuser zur Eingabe von Fällen und Ermittlung der Fallpauschalen nutzen – nicht zum Datensatz zugespielt werden. Das führt dazu, dass die Daten nicht über die Jahre vergleichbar sind. Dadurch lassen sich viele Fragestellungen, die Impulse für die Weiterentwicklung der stationären Vergütung liefern könnten, nicht bearbeiten. Eine weitere große Hürde für die Forschung ist, dass sie nur wenige Variablen aus externen Quellen, wie beispielsweise aus den Klinik-Qualitätsberichten, hinzufügen kann. Zudem müssen die Variablen aus öffentlichen Informationen stammen. Befragungen von Krankenhäusern zu institutionellen Gegebenheiten können nur unter sehr restriktiven Bedingungen zum Datensatz hinzugespielt werden (Schreyögg 2017; Milstein & Schreyögg 2020).

Digitale-Versorgung-Gesetz soll Probleme beheben.

Im beim DIMDI verfügbaren Datensatz fehlen bestimmte Informationen, die nicht von den Krankenkassen an das BVA gemeldet werden. Dies sind zum einen Kennziffern für die stationären und ambulanten Leistungserbringer. Wissenschaftler können mit diesen Daten daher keine auf die Leistungsbringer bezogenen Analysen vornehmen. Grundlegende Fragen zur Versorgungsqualität, wie beispielsweise Unterschiede zwischen Krankenhausträgern bei der poststationären Sterblichkeit oder der Wiedereinweisung von Patienten, lassen sich so nicht beantworten. Das im Dezember 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) soll diese Probleme beheben. Es sieht vor, dass die Krankenkassen die Daten künftig direkt abfragen und zusammenführen.

Bei beiden Datenquellen stellt sich zudem das Problem, dass der Nutzer nicht mit dem Volldatensatz arbeiten darf, das heißt, ihn nicht sehen darf. Komplexe Rechen-Modelle sind so nicht möglich oder extrem zeitaufwändig. Dies steht aktuellen Anforderungen an die Forschung entgegen. Es reicht heute nicht mehr, ein arithmetisches Mittel zu berechnen. Erwartet werden komplexe Vorhersagen. Dafür untersuchen Wissenschaftler mehrere statistische Variablen zugleich, stellen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge her und setzen zunehmend auch Algorithmen (Rechenvorgänge nach einem bestimmten Schema) ein, so beispielsweise beim Maschinellen Lernen.

Neues Forschungsdatenzentrum in Planung.

Das DVG und die noch folgende Rechtsverordnung sollen die kontrollierte Ferndatenverarbeitung ablösen. Ein neu zu schaffendes Forschungsdatenzentrum beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) soll Nutzern künftig die Arbeit mit dem Volldatensatz ermöglichen. Das DVG sieht auch die Möglichkeit eines Zugriffs auf den Volldatensatz über eine gesicherte Verbindung vom eigenen Arbeitsplatz aus vor. Insofern schaffen die Regelungen im DVG – vorbehaltlich der Umsetzung – deutliche Verbesserungen in der Forschungsdatennutzung.

Es bleiben jedoch zahlreiche weitergehende Fragen ungelöst. Unklar bleibt unter anderem, ob die Kassendaten zukünftig als Panel genutzt werden können, zum Beispiel zum Vergleich der poststationären Mortalität von Krankenhausträgern über Jahre hinweg. Eine wesentliche Frage ist zudem, ob in dem neu zu schaffenden Forschungsdatenzentrum auch Registerdaten oder Daten aus der elektronischen Patientenakte mit Kassendaten verknüpft werden dürfen. Eine Verknüpfung von Kassendaten mit anderen Informationen ist zwar mit Einschränkungen bereits möglich. Sie zu beantragen und umzusetzen, ist jedoch administrativ so aufwendig und langwierig, dass viele Forschende davor zurückschrecken.

Möglichkeiten der elektronischen Patientenakte noch offen.

Bei Nutzung von Registern und der elektronischen Patientenakte jeweils als einzelne Datenquelle oder in Kombination mit Struktur- und Abrechnungsdaten kommen weitere Schwierigkeiten hinzu. Zwar sammeln Krankenhäuser und andere Institutionen auch in Deutschland Daten in verschiedenen krankheits-, produkt- oder prozedurenbezogenen Registern. Diese umfassen allerdings oft nur einen kleinen Ausschnitt der relevanten Population (beispielsweise in einer Region). Der Zugang ist häufig unklar und intransparent. Nationale Register mit einer hohen Abdeckung von Patientengruppen, wie in Großbritannien oder den nordischen Staaten, existieren hierzulande kaum.

Ein verbesserter Zugang zu Forschungsdaten macht Deutschland als Wissenschafts- und Innovationsstandort attraktiver.

Bisher ist auch unklar, inwieweit sich die geplante elektronische Patientenakte für Forschungszwecke nutzen lässt. Bei der derzeit geplanten doppelten Opt-In-Lösung, die neben der Zustimmung zum Anlegen einer elektronischen Patientenakte eine Zustimmung des Patienten zur Nutzung der Daten für die Forschung vorsieht, sind erhebliche Lücken im Forschungsdatensatz zu erwarten. Sofern nur ein Teil der Bevölkerung der Nutzung explizit zustimmt, dürfte ein Selektionseffekt entstehen, der die Forschungsmöglichkeiten deutlich einschränken kann.

Bundesministerium fördert Medizininformatik-Initiative.

Zu den bereits genannten Datenbeständen kommen die Bestände der Medizininformatik-Initiative. Sie schafft nach eigenen Angaben die Voraussetzungen dafür, dass Forschung und Versorgung näher zusammenrücken. Derzeit arbeiten laut Website nahezu alle Universitätskliniken Deutschlands gemeinsam mit Forschungseinrichtungen, Unternehmen, Krankenkassen und Patientenvertretern daran, die Rahmenbedingungen zu entwickeln, damit Erkenntnisse aus der Forschung den Patienten erreichen können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung investiert zunächst bis 2021 rund 160 Millionen Euro in das Förderprogramm. Die Medizininformatik-Initiative liefert für bestimmte Fragestellungen, auch in Kombination mit den oben genannten Datenbeständen, wichtige Informationen. Jedoch ist hier ebenfalls unklar, wie diese Datenbestände zukünftig nutzbar und verknüpfbar sein sollen.

Insgesamt ist der Status Quo des Zugangs und der Nutzungsmöglichkeiten von Forschungsdaten im Gesundheitswesen – trotz der vom DVG vorgesehenen Verbesserungen – unbefriedigend. Es besteht ein deutlicher Handlungsbedarf, um zu anderen Staaten, wie beispielsweise Großbritannien und den nordischen Staaten, aufzuschließen. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) weist regelmäßig in seinen Gutachten auf diese Problematik hin (SVR 2015, SVR 2018).

Den Nutzen bekannter machen.

Die Diskussionen über das DVG haben gezeigt, dass der Wert eines verbesserten Zugangs zu Forschungsdaten im Gesundheitswesen vor allem auch in Kombination von Struktur- und Abrechnungsdaten, Daten der elektronischen Patientenakte und von Registerdaten, außerhalb der Forschungsgemeinschaft nicht ausreichend bekannt ist. Dabei kann zwischen verschiedenen Anwendungsbereichen unterschieden werden (siehe Grafik „Daten für die Versorgungsforschung – wer welchen Nutzen davon hat“).
 
So helfen Datenanalysen beispielsweise bei Gesetzesänderungen. Bereits bei der Konzeption von Reformen ist es wichtig, deren Wirkung anhand von realen Daten abschätzen zu können. Auch nach politischen Interventionen, wie etwa der Einführung von Terminservicestellen oder Pflegepersonaluntergrenzen, erwarten Politik und Verbände häufig wissenschaftlich fundierte Hinweise zur Wirkung dieser Reformen, um zu einem späteren Zeitpunkt nachsteuern zu können. Oftmals wird eine Evaluation sogar gesetzlich verankert. Die Erprobung von Politikinterventionen durch randomisierte Experimente ist zwar generell wünschenswert, aber im politischen Geschäft oft nicht realistisch. Daher muss die Forschung auf routinemäßig erfasste Daten zurückgreifen. Ein guter Forschungsdatenzugang kann die wissenschaftliche Grundlage für politische Interventionen deutlich verbessern und hilft, sie effektiver auszurichten. Beispielweise hätte die Zusammenführung von Abrechnungsdaten und Daten aus der elektronischen Patientenakte ein hohes Potenzial zur Evaluation der hausarztzentrierten Versorgung.

Informationen für die Versorgungsplanung.

Von einem besseren Datenzugang profitieren aber vor allem Studien mit nicht-interventionellem Design, also ohne einen konkreten Eingriff oder eine gesetzliche Änderung zu untersuchen. Darunter fallen querschnittliche Analysen aus Epidemiologie, Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie, aber auch Klassifikationsmodelle unter anderem mit Maschinellem Lernen.

  • Ricarda Milstein, Jonas Schreyögg: Empirische Evidenz zu den Wirkungen der Einführung des G-DRG Systems. In: Klauber, J.; Geraedts, M.; Friedrich, J. et al. (Hrsg.): Krankenhausreport 2020. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg.
  • OECD: Health Data Governance, Health Policy Studies. OECD, Paris, 2015.
  • Jonas Schreyögg: Big Data: Datenbestände für Wissenschaft und Patienteninformation effektiver nutzen. Bertelsmann Stiftung (Blog: Der digitale Patient), 2017.
  • Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten. Hogrefe Verlag, Göttingen, 2015.
  • Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Hogrefe Verlag, Göttingen, 2018.
  • Bundesgesetzblatt Teil I, 2019, Nr. 49: Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG)

Die daraus resultierenden Informationen zu Versorgungsbedarf und -unterschieden lassen sich zum einen für die Planung von Gesundheitsleistungen nutzen (zum Beispiel Krankenhausplanung und ambulante Bedarfsplanung). Beispielsweise kann für die Planung der Versorgung von Krebspatienten die zusätzliche Information über Stadien der Erkrankung aus der elektronischen Patientenakte oder Registern wichtig sein. Zum anderen werden die Informationen aus diesen Analysen für die Entwicklung oder Veränderung von Gesundheitsleistungen benötigt. Beispielsweise kann es für einen Anbieter einer digitalen Gesundheitsanwendung für Menschen mit Diabetes wichtig sein zu wissen, wie hoch der Anteil der Patienten mit einem bestimmten Langzeitblutzuckerwert ist. Die Daten eröffnen aber auch neue Möglichkeiten für die Anwendung von Maschinellem Lernen zur Unterstützung ärztlicher Entscheidungen, unter anderem bei der Weiterentwicklung von Triage-Systemen, die Notfallpatienten nach dem Schweregrad ihrer Verletzung oder Erkrankung einteilen. Für letzteres wäre eine Kombination aus Abrechnungsdaten und Daten aus der elektronischen Patientenakte wichtig.

Gesundheitsberichte für die Bevölkerung.

Die genannten Datenbestände lassen sich zudem für deskriptive Analysen zur Information der Bevölkerung über das deutsche Gesundheitssystem und seine Prozesse nutzen. Fachjournalisten bemängeln oft zu Recht, dass die öffentlich verfügbaren Informationen über das deutsche Gesundheitssystem, auch im internationalen Vergleich, zu grob sind. Die Nachfrage der Bürgerinnen und Bürger nach differenzierten Informationen über regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung, Unterschiede zwischen Organisationen des Gesundheitswesens und deren Akteuren steigt. Diesem Streben nach mehr Transparenz der Strukturen und des Behandlungsgeschehens kann sowohl durch eine Kombination von Abrechnungsdaten und der elektronischen Patientenakte, aber auch durch einen Aufbau von nationalen Registern und deren Nutzung entsprochen werden.

Nutzenbewertung von Arzneimitteln ergänzen.

Auch in der Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten können die genannten Datenbestände eine Rolle spielen. Zweifellos sollte in diesem Bereich nach Möglichkeit eine randomisierte klinische Studie (RCT) als Standard gelten. Allerdings lassen manche Umstände keine RCT zu, zum Beispiel weil der Ethik-Beirat dieser nicht zustimmt. Zudem hat sich in den letzten Jahrzehnten der Versorgungsforschung gezeigt, dass die Effektivität von Interventionen zwischen den Laborbedingungen eines RCT und dem Einsatz in der Regelversorgung differieren kann. Daher können Studien, beispielsweise auf Basis der Kombination von Abrechnungsdaten und Daten der elektronischen Patientenakte, wichtige Informationen für die Nutzenbewertung, aber auch über die Wirkung der Einführung einer Intervention in der Regelversorgung über viele Jahre liefern.

Standort Deutschland stärken.

Ein guter Zugang zu Forschungsdaten beeinflusst überdies Spitzenwissenschaftler in Klinik und Versorgungsforschung bei der Standortwahl. Nicht selten haben ausländische Wissenschaftler Vorbehalte gegen den Standort Deutschland, da sie in internationalen Projekten erfahren haben, wie restriktiv der Datenzugang hierzulande gestaltet ist. Spitzenforscher im Gesundheitswesen geben aber wichtige Impulse für einen Wissenschafts- und Innovations­standort Deutschland, da sie mit ihren Studien oftmals den Weg zu vielversprechenden neuen Interventionen ebnen, internationale Forschungsgelder an sich ziehen oder auch Start-up-Unternehmen gründen.

Verschiedene Datenbestände kombinieren.

Die im DVG enthaltenen Regelungen zur Verbesserung des Zugangs zu Kassendaten und zur Schaffung eines Forschungsdatenzentrums sind wegweisend. Vorbehaltlich einer konsequenten Umsetzung kann dieser Zugang künftig wohl auch die Bereitstellung der DRG-Statistik ersetzen. Allerdings sind viele Fragestellungen nicht allein durch Kassendaten zu beantworten. Die Nutzung einer Kombination aus Kassendaten, elektronischer Patientenakte und/oder Registerdaten sowie den Daten der Medizininformatik-Initiative weist in verschiedenen Anwendungsfeldern ein hohes Potenzial für einen gesellschaftlichen Mehrwert auf. Die Risiken aus Sicht des Datenschutzes sind dabei nicht höher einzuschätzen als bei der seit 2004 möglichen Nutzung von Kassendaten gemäß Paragraf 303 Sozialgesetzbuch V. Risiken existieren immer und sie sollten auch nicht verschwiegen werden. Andere Staaten, wie beispielsweise die USA, zeigen jedoch, dass strafrechtliche Konsequenzen einen Missbrauch von Forschungsdaten effektiv verhindern können.
 
Ermutigt durch die langjährigen Erfahrungen anderer Staaten sollten auch hierzulande weitere Schritte ergriffen werden, um im geplanten Forschungsdatenzentrum sukzessive eine Infrastruktur aufzubauen, die der Wissenschaft einen bürokratiearmen und datenschutzsicheren Zugang zu Gesundheitsdaten ermöglicht. Perspektivisch wäre es wünschenswert, dass Forschende dort die Nutzung von Daten beantragen können, die mehrere Datenbestände verlinkt, zum Beispiel Abrechnungsdaten und elektronische Patientenakte. Diese neu zu schaffende Forschungsdaten-Infrastruktur könnte auch die Datenbestände der Medizininformatik-Initiative und andere Datenbestände aus öffentlich geförderten Projekten integrieren. Damit könnte Deutschland im Daten-Zugang international sogar eine Spitzenposition einnehmen.

Bedenkenträger überzeugen.

Auf diesem Weg bedarf es jedoch noch zahlreicher Zwischenschritte. Zunächst sollte dabei geklärt werden, wie und in welchem Umfang sich die Daten aus der elektronischen Patientenakte nutzen lassen. Um den höchstmöglichen Nutzen zu erzielen, sollten die dort gesammelten Informationen grundsätzlich für Forschungszwecke zugänglich sein, analog zu Routinedaten. Dies ist auch aus Gründen der Solidarität, gerade mit Blick auf hochpreisige Therapeutika geboten. In diesem Kontext stellt sich eine ähnliche Frage wie bei Impfquoten: Erst durch hohe Teilnahme entsteht ein substanzieller Nutzen für die Gesellschaft, da ansonsten Selektion und Stichprobengröße erhebliche Probleme bereiten werden.

Auch bei der Entwicklung von Registern besteht, wie oben erwähnt, dringender Handlungsbedarf. Sie sollten staatlich finanziert, qualitätsgesichert und deutschlandweit ausgebaut werden. Zunächst sollte ein Überblick aufzeigen, welche Register in welchen Bereichen existieren. Auf dieser Basis ließen sich Best-Practice-Beispiele für verschiedene Bereiche ermitteln und jeweils in ein nationales Register überführen.

Eine breite Forschungsdaten-Infrastruktur mit einem bürokratiearmen Zugang hätte nicht nur das Potenzial, den Wissenschafts- und Innovationsstandort Deutschland deutlich nach vorne zu bringen, sondern weist auch einen hohen potenziellen gesellschaftlichen Nutzen auf. Es ist Aufgabe von Wissenschaft und Politik, die Bedenkenträger davon zu überzeugen.

Interview
„Mit Daten die Versorgung verbessern“

Das Gesundheitssystem in Deutschland braucht eine verbesserte Datengrundlage. Was dafür von Nöten ist und worauf es zu achten gilt, erläutert Jürgen Klauber im Interview mit der G+G-Redaktion.

Wie bewerten Sie den aktuellen Zugang zu Versorgungsdaten für die Forschung im Gesundheitswesen?

Jürgen Klauber: Der Zugang ist nicht befriedigend. Die universitäre Forschung hat wiederholt angemahnt, den Datenumfang und den Zugang zu verbessern. Auch der Sachverständigenrat hat immer wieder darauf hingewiesen. Deutschland hinkt hinter dem Vereinigten Königreich oder Frankreich hinterher, von den Skandinaviern ganz zu schweigen. Für eine innovative, zeitgemäße Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems brauchen wir eine verbesserte Datengrundlage. Hier wird das Digitale-Versorgung-Gesetz aber eine deutliche Verbesserung bringen.

Jürgen Klauber ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).

Was wird sich ändern?

Klauber: Allein was die Abrechnungsdaten betrifft, wird das neu vorgesehene Forschungsdatenzentrum anonymisierte Längsschnitt-Daten aller gesetzlich Versicherten für die Forschung vorhalten. Auch dürfte der praktische Zugriff auf die Daten, den die Versorgungsforscher bisher als deutliche Barriere kritisiert haben, wesentlich einfacher werden. Ich kann sagen: Für einen solchen verbesserten Zugang haben wir uns klar eingesetzt. Denn die verstärkte Nutzung dieser Daten bietet enorme Chancen für viele Bereiche der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Dies gilt für die Forschung zum Alltagsnutzen von Therapien gleichermaßen wie für die Beurteilung der Versorgungsqualität. Eingriffe ins Gesundheitssystem können zukünftig leichter durch die Forschungs-Community analysiert und bewertet werden.

Worauf gilt es jetzt zu achten?  

Klauber: Gesundheitsdaten gehören zu den sensibelsten Daten überhaupt. Niemand möchte seine Diagnosen im Internet wiederfinden. Der Datenschutz muss darum höchste Priorität haben. Auch die Debatte um die Beteiligung der Versicherten bei der Verwendung dieser Daten, zum Beispiel wer soll für welche Zwecke auswerten dürfen, scheint mir noch nicht ausreichend geführt. In der Bevölkerung bestehen große Vorbehalte gegenüber einer gegebenenfalls kommerziellen Nutzung der Daten. Letztlich muss die Balance zwischen den berechtigten Interessen der Allgemeinheit an belastbaren Daten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und dem berechtigten Schutzbedürfnis für den Einzelnen austariert werden.

Jonas Schreyögg ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Management im Gesundheitswesen an der Universität Hamburg
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: AOK-Mediendienst