Interprofessionalität

Gesundheit ist Teamarbeit

Wenn die Gesundheitsberufe zusammenarbeiten, erhöht sich die Versorgungsqualität. Zugleich tragen interprofessionelle Bildung und kooperative Praxis zur Emanzipation der Pflege bei und helfen, Nachwuchskräfte zu gewinnen, meinen Prof. Dr. Michael Ewers und Doreen Herinek.

Mangelnde Nutzerorientierung, fragmentierte Angebotsstrukturen, Überspezialisierung sowie unzureichende Kommunikation, Zusammenarbeit und Abstimmung untereinander bergen in hochgradig arbeitsteilig angelegten Gesundheitssystemen erhebliche Risiken. Die Auswirkungen von daraus resultierenden Qualitäts- und Sicherheitsmängeln bekommen vor allem Patientinnen und Patienten zu spüren. Hingegen entsprechen auf Kooperation und Koordination angelegte Versorgungsmodelle dem Bedarf der Bevölkerung, verbessern die individuellen und gesellschaftlichen Ergebnisse und erhöhen die Effizienz des Systems. Dennoch können sie sich kaum durchsetzen. So haben Nachwuchsorganisationen mehrerer Gesundheitsberufe in einer öffentlichen Stellungnahme konstatiert: „Abgesehen von einigen wenigen Fachbereichen (…) existieren in Deutschland zurzeit kaum tragfähige Konzepte und Strukturen, welche die interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheitswesen verbessern oder eine gemeinsame Arbeit an den Zielen der Patientin oder des Patienten auszurichten versuchen.“ (BAG Junge Pflege et al. 2018, S. 2)

Kompetenzen aller Berufe wahrnehmen.

Als Antwort auf Probleme mit der Versorgungsqualität und der Patientensicherheit fordern Experten mehr Interprofessionalität und darauf abzielende Rahmenbedingungen. Zugleich besteht die Erwartung, dass eine bessere berufsübergreifende Zusammenarbeit die traditionelle Vorrangstellung von Ärztinnen und Ärzten gegenüber anderen Gesundheitsberufen ablöst sowie hierarchische und unproduktive Formen der Zusammenarbeit überwinden kann.

Video: Nadine-Michèle Szepan zu Interprofessionalität

Die unterschiedlichen Perspektiven und Kompetenzen aller Berufe sollen wahrgenommen, gewürdigt und in interprofessionellen Teams gleichberechtigt für die gemeinsame Problemlösung genutzt werden. Das ist nicht zuletzt für Pflegefachpersonen von Bedeutung, denn vielfach gelten sie noch immer als nachgeordnete Assistenzkräfte anderer Berufsgruppen – insbesondere von Ärztinnen und Ärzten. Ihre spezifischen Beiträge und Zugänge zur Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsversorgung werden unterschätzt oder nicht berücksichtigt. Dies ist oft auf Unkenntnis der Kompetenzen der jeweils anderen Berufsgruppen oder auf fehlende Begegnungsmöglichkeiten bereits während der Ausbildung zurückzuführen. Dem soll das interprofessionelle Lernen entgegenwirken.

So durchlaufen beispielsweise in von der Robert Bosch-Stiftung geförderten Projekten Auszubildende beziehungsweise Studierende aus Medizin, Pflege und Therapieberufen gemeinsame Praxisphasen in der Klinik (siehe Kasten „Interprofessionalität in der Ausbildung“). Schließlich bietet Interprofessionalität aber auch Chancen in der Fachkräftesicherung – so die Position der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im 2010 veröffentlichten Rahmenwerk zur Förderung von politischen Aktivitäten zum Thema Interprofessionelle Bildung und Kooperative Praxis. Darin beleuchtet sie den Stand der interprofessionenellen Zusammenarbeit, identifiziert Erfolgsfaktoren und gibt Handlungsempfehlungen für die lokalen Gesundheitssysteme (siehe Kasten „WHO formuliert Aktionsrahmen“).

Neue Versorgungsmodelle etablieren.

Laut einer Prognose der WHO werden bis 2035 weltweit mehr als 12,9 Millionen Gesundheitsfachkräfte fehlen – ein Großteil davon sind Pflege- und Betreuungspersonen (Campbell et al. 2013). Dies ist einer der Gründe dafür, dass die 72. Weltgesundheitsversammlung in Genf das Jahr 2020 zum Jahr der Pflegefachpersonen und Hebammen erklärt hat.

Sebastian Bode, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitäts­klinikum Freiburg und ärztlicher Projektleiter der IPAPÄD (Interpro­fessionelle Ausbildungsstation in der Pädiatrie)

Interview

„Wir stärken die Attraktivität der Gesundheitsberufe“

Angehende Pflegefachkräfte lernen auf einer interprofessionellen Ausbildungsstation am Uniklinikum Freiburg gemeinsam mit Medizinstudierenden. Was sich dadurch verbessert hat, erklärt Dr. Sebastian Bode im G+G-Interview. Weiterlesen ...

Die Weltgesundheitsorganisation und der Internationale Verband der Pflegefachpersonen zielen mit der Kampagne NursingNow darauf ab, den Status und das Profil von Pflegefachpersonen und Hebammen international zu verbessern. NursingNow will dazu ermutigen, in die Pflege zu investieren und neue Versorgungsmodelle zu etablieren, um die nachhaltigen Entwicklungsziele der internationalen Staatengemeinschaft realisieren sowie jeder und jedem Zugang zu einer qualifizierten Gesundheitsversorgung ermöglichen zu können.

Im von Langlebigkeit und deren Begleiterscheinungen geprägten Europa dürfte die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen in den kommenden Jahren weiter steigen. Zugleich gibt es weniger junge Menschen, die sich für Gesundheitsberufe gewinnen und ausbilden lassen. Laut Statistischem Bundesamt waren nahezu zwölf Prozent der 5,6 Millionen des Gesundheits­personals 2017 bereits 60 Jahre und älter. Nicht nur Hausarztpraxen suchen häufig vergeblich Nachfolger. Die Bundesagentur für Arbeit hat bereits 2015 bundesweit einen Fachkräftemangel im Bereich der Langzeitversorgung/Altenpflege konstatiert, der sich zwischenzeitlich verschärft und auf andere Bereiche der Pflege ausgedehnt hat. Die Bundesregierung geht kurzfristig von einem Bedarf an rund 50.000 zusätzlichen Pflegefachpersonen aus. Andere Gesundheitsberufe wie etwa Hebammen oder Angehörige der Therapieberufe sind ebenfalls bereits von Personalengpässen betroffen.

Arbeitsbedingungen verbessern.

Der globale Mangel an Gesundheitspersonal ist in Deutschland zu einem Risiko für die lokale Gesundheitsversorgung sowie zur gesundheits- und arbeitsmarktpolitischen Herausforderung geworden. Eine verstärkte Anwerbung von ausländischen Fachkräften stößt an ethische Grenzen, denn in vielen Herkunftsländern bestehen ebenfalls Engpässe in der Gesundheitsversorgung. Zudem haben die Fachkräfte – besonders in der Pflege – andernorts häufig Qualifikationen für ein anderes, meist deutlich anspruchsvolleres Aufgaben- und Verantwortungsspektrum erworben.

Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachpersonen und andere Gesundheitsprofessionen aus dem Ausland sind eine flexiblere Rollenverteilung und andere Muster der Aufgaben- und Verantwortungsteilung gewohnt, als in Deutschland üblich. Sollen Enttäuschungen auf Seiten der Migranten vermieden, zugleich die Abwanderung aus den Gesundheitsberufen gestoppt oder gar deutsche Fachkräfte zur Rückkehr in das Gesundheitssystem ermutigt werden, bedarf es einer grundsätzlichen Umsteuerung. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, gilt es die Arbeitsbedingungen der Gesundheitsberufe zu verbessern. Notwendig sind gerechte Entlohnung, faire Vertragsbedingungen und attraktive Konditionen für die Tätigkeit in einem Gesundheitsberuf. Dazu zählen nicht zuletzt neue Formen der Arbeitsorganisation, die mehr Teamarbeit und kooperative Praxis, mehr Gleichberechtigung und Mitbestimmung sowie grundsätzlich mehr Partizipation und Verantwortungsübernahme der verschiedenen Gesundheitsberufe, der Patientinnen und Patienten sowie lokaler Gemeinschaften ermöglichen (APPG 2016). Schließlich sind Faktoren wie die Zugänglichkeit, Akzeptanz, Produktivität und Qualität der verfügbaren Fachkräfte zu modifizieren (Campbell et al. 2013).

Generalistische Expertise fördern.

Die zunehmende Spezialisierung der Gesundheitsberufe führt zu gefährlichen Schnittstellen, Informationsverlusten und Problemen in der Abstimmung der verschiedenen Perspektiven. Dem könnte mit einer gezielten Förderung generalistischer Expertise – etwa in Form der Familienmedizin und Familienpflege – und deren Einbettung in interprofessionelle Teams begegnet werden. Familiengesundheitsteams nutzen einen holistischen und langfristigen Versorgungsansatz für Familien. Da in den Teams mehrere Gesundheitsprofessionen arbeiten, können sie eine umfassende, an den Bedürfnissen der Familienmitglieder ausgerichtete Versorgung gewährleisten.

Seit 2013 fördert die Robert Bosch Stiftung im Programm „Operation Team“ Entwicklung und Umsetzung von interprofessionellen Lerneinheiten für die Gesundheitsberufe. In den beiden ersten Phasen stellte sie Mittel für die Entwicklung, Umsetzung und strukturelle Verankerung interprofessioneller Lehrangebote für die Gesundheitsberufe zur Verfügung. Das Ziel ist, die zukünftigen Fachkräfte bereits in der Ausbildungsphase an die Kooperation in einem berufsübergreifenden Team heranzuführen und die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln. In den letzten Jahren unterstützte das Programm bundesweit 17 regionale Kooperationsprojekte zur Entwicklung interprofessioneller Lehrkonzepte.
 
Seit dem Wintersemester 2018/2019 treibt die Robert Bosch Stiftung in dem Programm den Transfer der interprofessionellen Lehrkonzepte an weiteren Standorten mit Medizinischen Fakultäten voran, um möglichst vielen Studierenden und Auszubildenden interprofessionelle Begegnungen und Lernmöglichkeiten in ihrer Ausbildungszeit zu ermöglichen. Sieben medizinische Fakultäten erhalten aktuell Fördermittel, um die erfolgreich erprobten interprofessionellen Lehrkonzepte in die jeweiligen Einrichtungen zu übertragen.

Quelle: Robert Bosch Stiftung

Auf diese Weise ließe sich auf ein breites Bedarfsspektrum reagieren, die Verständigung der Berufsgruppen untereinander fördern und der Zugang der Bevölkerung zu einer gesundheitlichen Grundversorgung flächendeckend sichern. Die bestehenden Ordnungsmittel (Approbationsordnungen, Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen, Lehrpläne, Curricula und anderes mehr) sollten diesem Ziel entsprechen und die Ausbildung von Generalistinnen und Generalisten für die Gesundheitsversorgung gezielt fördern. Mit der Einführung der generalistischen Pflegeausbildung im Rahmen des Pflegeberufereformgesetzes von 2018 und mit der Förderung der Allgemeinmedizin im Zuge der Reform des Medizinstudiums hat der Gesetzgeber erste Schritte in diese Richtung getan.

Berufsrecht anpassen.

Oft sind die Gesundheitsberufe über die Möglichkeiten der jeweils anderen an der Gesundheitsversorgung beteiligten Fachleute unzureichend orientiert. Anders als in vielen anglo-amerikanischen Ländern gibt es in Deutschland keine positive Definition eines berufsrechtlich abgesicherten Aufgaben- und Verantwortungsrahmens für die einzelnen Berufe. Dies führt in Verbindung mit der ärztlichen Vorrangstellung und der überwiegend am Delegationsprinzip orientierten, hierarchisch geprägten Arbeitsteilung häufig zu undurchsichtigen Vermeidungs- und Umgehungsstrategien, Unsicherheiten und Unzufriedenheit, offenen Konflikten zwischen den Professionen und unzureichender Produktivität und Ergebnisorientierung. Eine berufsrechtliche Anpassung nach internationalen Vorbildern und die Zuweisung eines autonomen Aufgaben- und Verantwortungsrahmen für die einzelnen Berufsgruppen würde die Attraktivität der nichtärztlichen Gesundheitsberufe erhöhen und zur Fachkräftegewinnung beitragen.

Poolkompetenzen entwickeln.

Einige Fachleute gehen davon aus, dass Prozesse der Aufgabenteilung oder Aufgabenübertragung zwischen den verschiedenen Gesundheitsprofessionen sowie teambasierte Versorgungsmodelle es erleichtern, den Bedarf der Bevölkerung, auch angesichts abnehmender Personalressourcen, flächendeckend und umfassend zu decken – besonders in der Primär- und Langzeitversorgung (Flaherty/Bartels 2019, Auerbach et al. 2013).

Die Weltgesundheitsorganisation hat die berufsübergreifende Zusammenarbeit auf ihre Agenda gesetzt und das „WHO Framework for Action on Interprofessional Education and Collaborative Practice“ entwickelt. Der Aktionsrahmen hat folgende Kompetenzen im Blick:
 

  • Zusammenarbeit: fähig sein, sowohl Teams zu leiten als auch Mitglied von Teams zu sein; um die Barrieren der Zusammenarbeit wissen.
  • Rollen und Verantwortlichkeiten: seine eigenen Rollen, Verantwortlichkeiten und Expertisen sowie die der anderen Professionen verstehen.
  • Kommunikation: Mitgliedern des Teams die eigenen Standpunkte kompetent darlegen können; anderen Teammitgliedern aktiv zuhören können.
  • Lernen und kritische Reflexion: die eigene Position innerhalb eines Teams reflektieren; interprofessionelles Lernen auf den Berufsalltag übertragen können.
  • Beziehungen zu Patientinnen und Patienten: kooperative Zusammenarbeit mit Patientinnen und Patienten, ihren Familien, anderen an der Versorgung Beteiligten und der Gemeinde/sozialen Gemeinschaften als Partner des Versorgungsgeschehens.
  • Ethische Praxis: die eigenen und fremden Stereotype verstehen und hinterfragen können; anerkennen, dass Ansichten anderer gleichermaßen gültig und wichtig sind.

Quellen:

 

WHO – World Health Organization (2010): Framework for Action on Interprofessional Education & Collaborative Practice. Geneva CH: WHO.

Reichel, K.; Herinek, D. (2017): Interprofessionelles Lehren und Lernen – Klärung und Orientierung. In: Ewers, M.; Reichel, K. (Hrsg.): Kooperativ Lehren, Lernen und Arbeiten in den Gesundheitsprofessionen: Das Projekt interTUT Working Paper No. 17-01 der Unit Gesundheitswissenschaften und ihre Didaktik. Berlin: Charité – Universitätsmedizin Berlin, 9–25.

Die positive Definition von Aufgaben- und Verantwortungsrahmen für die einzelnen Berufsgruppen darf also nicht nach einer „Gartenzaunmentalität“ erfolgen und zu einer starren Abgrenzung führen. Vielmehr geht es darum, Überschneidungen mitzudenken, gemeinsame Aufgabenfelder zu definieren und Poolkompetenzen auszubilden. Unter Poolkompetenzen werden Tätigkeiten verstanden, die je nach Situation und Anforderung von mehreren Berufsgruppen gleichermaßen ausgeführt werden können (SVR 2007). Beispielsweise könnten künftig bei entsprechender Qualifizierung sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Pflegefachpersonen komplexe Wundversorgungen inklusive der Verlaufsdiagnostik, Planung von Interventionen sowie Umsetzung des Therapieplans eigenverantwortlich wahrnehmen. So ließe sich auch ein flexibler, am Bedarf der lokalen Bevölkerung orientierter Einsatz des Gesundheitspersonals ermöglichen. Die interprofessionelle Bildungsarbeit sollte es den Gesundheitsberufen gestatten, ihre jeweiligen professionellen Rollen auszubilden und zugleich an gemeinsamen Gegenständen grenzüberschreitende Kompetenzen zu erwerben, die sie für eine produktive Zusammenarbeit benötigen (All-Party Parlamentary Group on Global Health 2016).

Verantwortung gemeinsam tragen.

Die Einführung interprofessioneller, teambasierter Modelle der Gesundheitsversorgung könnte es erlauben, auf unterschiedliche Bedürfnisse der Gesundheitsberufe zu reagieren und ihre Berufstätigkeit grundsätzlich attraktiver und flexibler zu gestalten. Das eröffnet Spielräume, um heterogene Lern- und Arbeitserfordernisse sowie Wertorientierungen der verschiedenen Generationen zu berücksichtigen und altersfreundliche Arbeitszeitmodelle einzuführen (Advisory Committee on Interdisciplinary Community-Based Linkages 2019). Die Verantwortung für die Patientenversorgung lastet dann nicht mehr auf den Schultern von Einzelnen, Entscheidungen werden im Team getroffen und die Konsequenzen gemeinschaftlich getragen. Dabei ließen sich digitale Möglichkeiten nutzen, um die Qualität der interprofessionellen Interaktionen zu verbessern, Kommunikationsabbrüche oder Missverständnisse zu vermeiden, die Über-, Unter- oder Fehlversorgung zu reduzieren und dadurch die Patientenzufriedenheit sowie die Ergebnisse für Patienten spürbar zu verbessern.

Das Gesundheitspersonal der Zukunft braucht die Voraussetzungen dafür, in altersgemischten, multiethnischen und multiprofessionellen Arbeitsgruppen tätig zu sein, die auf Partizipation und Integration unterschiedlicher Interessen und Perspektiven angelegt sind. International gibt es viele Initiativen zur Förderung der interprofessionellen Bildungsarbeit und kooperativen Praxis. Interprofessionelle Lehr- und Lernangebote gehören in vielen Ländern zum verbindlichen Standard für die meist ausschließlich an Hochschulen und Universitäten erfolgende Qualifizierung der Gesundheitsprofessionen. In Primär-, Akut- und Langzeitversorgung sind international bereits teambasierte interprofessionelle Formen der Zusammenarbeit etabliert. Dadurch kann der Nachwuchs in den Gesundheitsberufen das Gelernte unmittelbar in der Praxis erleben und umsetzen. Eine gezielte Bildungsarbeit bereitet somit die Fachkräfte von morgen auf eine kooperative Praxis vor und befähigt sie dazu, ausgehend von den lokalen Bedarfslagen gemeinsam optimierte Gesundheitsdienste zu schaffen und verbesserte Ergebnisse zu erzielen. Zudem entstehen – wie im Aktionsrahmen der WHO konstatiert – Brücken zwischen dem Bildungs- und Gesundheitssystem. Das löst Synergien aus, die es ermöglichen, dem Mangel an Gesundheitspersonal innovativ zu begegnen.

Forschung intensivieren.

Zwar fehlt es noch an überzeugenden empirischen Belegen dafür, dass interprofessionelle Bildungsarbeit tatsächlich eine kooperative Praxis fördert und dazu beiträgt, die nutzerseitig erwarteten Ergebnisse zu erreichen (Reeves et al. 2017). Auch empirische Studien zu Auswirkungen der Interprofessionalität auf die Fachkräfte selbst sind rar. Um diese Zusammenhänge nachzuweisen, bedarf es intensiver Forschung. An der Sinnhaftigkeit interprofessioneller Bildungsarbeit und ihrer Relevanz für eine kooperative Praxis sowie den davon erwarteten positiven Effekten besteht aber kein Zweifel.

Auch Deutschland, Österreich und die Schweiz bemühen sich inzwischen um mehr Interprofessionalität im Gesundheitswesen. Erste Praxisinitiativen in der (hochschulischen) Bildungsarbeit und ausgewählten Praxisfeldern laufen bereits, einige Forschungsaktivitäten entfalten sich und öffentliche Diskurse zur Meinungsbildung sind angestoßen. Inwieweit dies dazu beitragen könnte, den in Deutschland bestehenden Fachkräftemangel zu beheben, ist selten Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Hingegen bringt die Regierung in der Schweiz ihre vielfältigen Aktivitäten zur Förderung von interprofessioneller Bildungsarbeit und kooperativer Praxis ausdrücklich mit dem Fachkräftemangel in Verbindung. Um das inländische Potenzial an Arbeitskräften ausschöpfen zu können, stellt der Schweizer Bundesrat im Rahmen seiner Fachkräfteinitiative für das Programm „Interprofessionalität im Gesundheitswesen“ zunächst von 2017 bis 2020 zwölf Millionen Franken zur Verfügung.

Versorgungsprobleme beantworten.

Der Arztmangel auf dem Land, geschlossene Krankenhausstationen aufgrund von fehlendem Pflegepersonal, die vergebliche Suche nach einer Hebamme oder einer Physiotherapeutin, einem ambulanten Pflegedienst oder einem Platz in einem Pflegeheim – diese Phänomene haben komplexe Ursachen. Die Bereitschaft, sich in einem Gesundheitsberuf ausbilden zu lassen und längerfristig darin tätig zu sein, wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Die Förderung interprofessioneller Bildungsarbeit und kooperativer Praxis kann allein nicht ausreichen, um Personalengpässe und Fachkräftemangel in vielen Bereichen des Gesundheitssystems zu beheben. Dennoch ist darin eine innovative Strategie zu sehen, um auch hierzulande drängende Versorgungsprobleme zu beantworten, mehr Qualität und Sicherheit zu gewährleisten, bessere Arbeitsbedingungen und damit ein höheres Maß an Arbeitszufriedenheit zu erzielen und mehr Fachkräfte für das Gesundheitssystem zu gewinnen. Dies setzt voraus, dass einschlägige Förderprogramme und hinreichende Ressourcen bereitstehen. Wichtig sind neben entsprechenden Bildungsangeboten strukturelle Anpassungen und Rahmenbedingungen, die ein produktives Miteinander der verschiedenen Berufsgruppen in kooperativer Praxis ermöglichen. Der Appell der WHO an die Politik, Brücken zwischen dem Bildungs- und Gesundheitssystem zu bauen, Synergieeffekte zwischen beiden herzustellen und zu nutzen, um die interprofessionelle Bildungsarbeit zu fördern und geeignete Bedingungen für eine kooperative Praxis zu schaffen, sollte auch in Deutschland Gehör finden.

Literatur bei den Verfassern

Michael Ewers ist Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Doreen Herinek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
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