Foto von Alexander Jorde, Nina Klein, Jana Aulenkamp und Raphael Kunisch (von links nach rechts) an Brüstung
Die Personen
G+G-Gespräch

„Wir müssen im Gesundheitswesen zusammenstehen“

Sie sind jung und wollen negative Entwicklungen im Gesundheitssystem nicht einfach so hinnehmen: Pflegerinnen und Pfleger sowie Ärztinnen und Ärzte in den ersten Berufsjahren. Was sie sich wünschen, wie sie über interprofessionelle Zusammenarbeit denken und welche Rezepte sie gegen den Fachkräftemangel haben, diskutierten die Ärztin Jana Aulenkamp, der Krankenpfleger Alexander Jorde, der Mediziner Raphael Kunisch und die Kranken­pflegerin Nina Klein.

Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger haben aus unterschiedlichen Gründen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Warum haben Sie trotzdem den Beruf ergriffen?  

Jana Aulenkamp: Als ich angefangen habe zu studieren, fand ich es spannend, Ärztin zu werden, weil mich die Notfallmedizin interessierte. Mit dem Ende des Studiums und dem Praktischen Jahr habe ich gemerkt, dass manche Sachen nicht so laufen, wie sie es sollten. Jetzt nach dem Studium frage ich mich öfter, ob ich zu diesen Bedingungen arbeiten möchte. Ich erlebe bei vielen um mich herum, dass sie sich dieselben Fragen stellen.

Nina Klein: Ich habe nach der Schule in meiner Berufsfindungsphase unter anderem ein dreimonatiges Praktikum in einem Krankenhaus gemacht. Die pflegerische Arbeit hat mich direkt fasziniert. Während der Ausbildung habe ich dann festgestellt, dass der Beruf viele meiner Interessen vereint: für Psychologie, Medizin und die sozialen Interaktionen zwischen Menschen. Allerdings machen die aktuellen Bedingungen es schwer, im Pflegeberuf zufrieden zu arbeiten. Aber es gibt trotz allem immer wieder Momente, die mir Zuversicht geben.

Alexander Jorde: Für mich war das entscheidende Argument, dass ich das Gebilde Krankenhaus sehr interessant und komplex fand. Pflege war für mich der Beruf, der am besten diese Gesamtheit abbildete, weil wir in allen Bereichen im Krankenhaus arbeiten. Wir sind diejenigen, die 24 Stunden sieben Tage die Woche immer bei den Patienten sind und den direkten Kontakt haben. Es ist ein sehr anspruchsvoller Beruf, der viele Professionen vereint.  

Raphael Kunisch: Ich habe mir gedacht, Arzt ist ein toller Job, man kann Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft miteinander kombinieren, man arbeitet nah am Menschen und kann Gutes tun. In der Realität ist da der Beruf mit seiner Arbeitsbelastung, und zudem kippt die Stimmung im Gesundheitswesen: Die Engagierten brennen zunehmend aus, die Resignierten bleiben übrig. Für mich ist dieser Anspruch, es besser und anders zu machen, vorherrschend. Es ist die Aufgabe unserer Generation, Strukturen zu verändern. Wir müssen als Beschäftigte im Gesundheitswesen zusammen­stehen.

„Die Ausbildungen von Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften müssen sich räumlich annähern, damit wir uns auf persönlicher Ebene kennenlernen.“

Jana Aulenkamp

Welche Rolle spielt für Sie die Zusammenarbeit der Professionen?

Klein: Interprofessionelle Zusammenarbeit ist ein zentraler Aspekt für eine qualitativ-hochwertige Versorgung, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Leider gibt es im Alltag wenig Raum dafür, da es weder Zeit noch Geld dafür gibt. Außerdem haben die unterschiedlichen Berufsgruppen oft nicht gelernt, wie sie effektiv zusammen arbeiten und kommunizieren. Die Ausbildung der Pflegenden und Ärztinnen und Ärzte findet oft räumlich getrennt statt – die einen an Unis und die anderen an Pflegeschulen. Das sollten wir annähern.

Kunisch: Den Eindruck, nichts verändern zu können, hatte ich anfangs auch. Und dann war ich im zweiten Jahr plötzlich Stationsarzt. Ich habe dann eingeführt, dass wir Ärzte gemeinsam mit der Pflege morgens eine Übergabe beim Frühstück machen und nicht jeder abgeschottet seinen Kaffee trinkt. Wir haben festgestellt, dass es uns allen Zeit spart, denn auf einmal haben wir Absprachen getroffen und wir hatten ein persönliches Verhältnis zueinander und man hat Rücksicht aufeinander genommen. Ich glaube, man müsste die beiden Ausbildungen miteinander verzahnen.

Aulenkamp: Auch ich finde, dass sich die Ausbildungen räumlich annähern müssen, damit wir uns auf persönlicher Ebene besser kennenlernen. Ich verstehe nicht, warum es nicht schon längst so ist. In Japan, wo ich praktische Erfahrungen sammeln konnte, haben Medizinstudierende und Pflege sogar ihren Abschluss gemeinsam gefeiert. Wenn hierzulande interprofessionelle Ausbildung angeboten wird, ist sie oft noch nicht ausreichend und führt leider manchmal zu negativen Effekten. Es würde helfen, wenn mehr Pflegekräfte an Hochschulen ausgebildet würden. Bereits jetzt gibt es immer mehr interprofessionelle Ausbildungsstationen. Das müsste flächendeckender Standard werden.

Herr Jorde, es ist ja jetzt gut zwei Jahre her, dass Sie in der ARD-Wahlarena die Bundeskanzlerin auf die Probleme in der Gesundheits- und Krankenpflege hingewiesen haben. Frau Merkel hat damals den Zeitraum von zwei Jahren genannt, in dem sich etwas verändern soll. Wie lautet Ihre Bilanz?  

Jorde: Ich habe damals schon entgegnet, dass es aus meiner Sicht nicht realistisch ist, in zwei Jahren grundlegend etwas zu verbessern. Wir müssen aber differenzieren: Bei den Strukturen tut sich schon etwas. Hier wurde ja zum Beispiel beschlossen, dass die Pflegekosten aus dem DRG-System ausgegliedert werden und dass Personaluntergrenzen eingeführt werden. Das sind durchaus Schritte, die richtig sind, aber sie kommen aktuell noch nicht an. Und es ist illusorisch zu glauben, man könnte mit dem Finger schnipsen und sofort verbessert sich die Lage. Selbst wenn man Pflegekräfte aus dem Ausland holt oder die Ausbildungskapazitäten ausweitet, reicht das nicht, um den Versorgungsstandard zu halten. Wir brauchen hier deutlich mehr Radikalität.

Was meinen Sie damit?

Jorde: Wir müssen neben dem strukturellen Weg jetzt ganz akut etwas dafür tun, dass nicht weiter Pflegefachkräfte abwandern. Und wir müssen dafür sorgen, dass Fachkräfte die Arbeitszeit aufstocken oder zurückkommen. Als Notfallmaßnahme muss für einen Überbrückungszeitraum ein Paket geschnürt werden. Dazu muss ein sehr hoher Pflegemindestlohn gehören – von über 20 Euro die Stunde. Es ist aber eigentlich die Aufgabe von Gewerkschaften und nicht der Politik, für gute Löhne zu sorgen. Das Problem ist aber der schlechte Organisationsgrad in der Pflege.

Frau Klein, wie sehen Sie das?  

Klein: Ich kann mich da sehr vielem anschließen. Es werden von der Politik Schritte eingeleitet, wie zum Beispiel die Personaluntergrenzen, welche dann aber nicht bis zum Ende durchdacht sind. Was beispielsweise passiert, wenn diese wie aktuell nur für bestimmte Stationen gelten. So kommt es, dass von anderen Stationen Personal auf diese rübergeschoben wird und somit an anderen, nicht regulierten Stellen, noch größere Löcher im Dienstplan entstehen. Solche Maßnahmen klingen nur auf dem Papier gut, bringen in der Realität jedoch keine flächendeckende Verbesserung.

Jorde: Eigentlich bräuchten wir einen ganz anderen Pflegeschlüssel. Also bei eins zu 13, was ja in einigen Kliniken auch noch nicht mal erfüllt wird, geht es nur darum, gefährliche Pflege zu vermeiden. Das widerspricht dem Grundsatz im Sozialgesetzbuch Fünf, wo festgelegt ist: Jedem Patienten steht das Recht auf eine bedarfsgerechte Versorgung zu. Ich finde auch, dass es wichtig wäre, jetzt diese anderen Personaluntergrenzen nachzuschieben. Sonst gibt es einen Verschiebebahnhof, bei dem die Fachkräfte auf die Stationen geholt werden, auf denen die Untergrenzen gelten. Oder es werden Stationen einfach umbenannt.

„Als Notfallmaßnahme muss gegen den Pflegenotstand ein Paket geschnürt werden. Dazu muss ein sehr hoher Pflegemindestlohn gehören – von über zwanzig Euro die Stunde.“

Alexander Jorde

Was muss passieren, damit Sie – Ärzte und Pfleger – in 20 Jahren noch gerne in Ihrem Job arbeiten? Was wollen Sie bewegen?

Kunisch: Ich denke, wenn wir in zwei Jahrzehnten die Dinge umsetzen konnten, für die wir hier einstehen, dann werden wir es auch in 20 Jahren noch gerne machen. Wir wollen ein System haben, in dem wir glücklich und gut arbeiten und Gutes bewirken können. Wir müssen zudem selber vorbildhaft sein, aber wir müssen genauso politisch aktiv sein. An Skills, wie etwa eine Haltung zu reflektieren, sich mit Themen auseinanderzusetzen und kritischem Denken, fehlt es im Moment noch. Im Studium sind wir Mediziner vor allem damit beschäftigt, unseren Anatomieatlas auswendig zu lernen. Das kann es aber nicht sein.

Aulenkamp: Für mich persönlich ist es wichtig, eigene Projekte anzustoßen und das Gefühl zu haben, dass ich selber was bewegen kann. Allerdings sind Medizinstudierende die Studierenden, die am wenigsten politisch interessiert und engagiert sind. Da ist die Frage, bringt das Studium sie dazu, weil sie einfach keine Zeit haben oder ist es das Gefühl, ohnehin keinen Einfluss zu haben? Ärztinnen und Ärzte sollen führen, aber ich verstehe überhaupt nicht, wie man das von ihnen erwarten soll, wenn sie das nie gelernt haben. So kann man eigentlich keinen Veränderungsprozess initiieren. Deswegen finde ich es so wichtig, dass die Themen Führung und Management ins Medizinstudium reinkommen.   

Klein: Die Gestaltungsspielräume im klinischen Alltag habe ich als sehr beschränkt empfunden. Teilweise durch Vorgesetzte, teilweise einfach durch die fehlende Zeit, durch das Ausgebrannt sein, durch die extrem hohe Arbeitsbelastung. Es muss mehr gesellschaftliche Anerkennung für den Pflegeberuf geben. Ich habe nicht selten das Gefühl bekommen, mich rechtfertigen zu müssen „nur“ Pflegerin geworden zu sein. Niemand möchte sich aber für seinen Beruf, der anspruchsvoll und herausfordernd ist, rechtfertigen müssen. Außerdem sollte es mehr Karrieremöglichkeiten, Fort- und Weiterbildungsangebote sowie Stellen für akademisierte Pflegekräfte geben. Auf jeden Fall muss ein verbindliches Personalbemessungsinstrument eingeführt und Pflege ausreichend finanziert werden. Auch wichtig finde ich für Pflegende ein Mitspracherecht auf politischer Ebene. In wichtigen Entscheidungsgremien wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss, dem GBA, sind von den Gesundheitsberufen nur die Ärztinnen und Ärzte vertreten. Das ist ein Unding.

Sehen Sie das auch so, Herr Jorde?

Jorde: Es ist leider ein sehr arztzentriertes Gesundheitssystem. Aber ich finde schon, dass es eine Menge Gestaltungsmöglichkeiten gibt, vor allem auf politischer Ebene. Pflege muss aber viel aktiver werden. Zum Beispiel in Organisationen, um sich zu vernetzen, um Sachen zu planen, um auf Dinge aufmerksam zu machen. Ganz wichtig finde ich die Pflegekammer, damit die Pflege demokratisch legitimiert Personen in Gremien wie den GBA schicken kann. Und ich frage mich immer wieder, warum man sich nicht einfach mal auf einer Stationseinheit zusammenschließt und Forderungen erhebt mit der Drohung, sonst gehen wir alle. Das kann kein Krankenhaus kompensieren, wenn so ein Team geht. Wir sind die Berufsgruppe, die am wenigsten Angst haben muss. Wir finden sofort überall einen Job.  

Frau Klein, haben Sie ähnlich schlechte Dinge erlebt, wie Herr Jorde sie mal für die Pflege beschrieben hat, etwa dass Menschen stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen?

Klein: Es ist schwierig, in der Pflege zu arbeiten und solche Dinge nicht zu erleben. Ich schließe mich da an: Die Würde der Menschen wird regelmäßig verletzt. Besonders traurig ist, dass diese schlimmen Verhältnisse oft gar nicht mehr als schlimm wahrgenommen werden, weil sie zum Standard geworden sind.

„Die Allgemeinmedizin muss im Studium besser sichtbar werden. Dafür brauchen wir flächendeckend Lehrstühle, was bislang leider nicht der Fall ist.“

Raphael Kunisch

Ist das ein Grund, warum Sie jetzt Gesundheitswissenschaften studieren?

Klein: Das ist sicher ein Grund dafür. Ich wollte gerne wissenschaftliches Arbeiten und Forschen lernen. In meiner Ausbildung hat mir außerdem das Kritisch-Hinterfragen gefehlt.

Jorde: Um den Aspekt davor aufzugreifen: Es ist in der Tat das Problem, dass die Leute die schlimmen Zustände gar nicht mehr erkennen, da sie einfach zu lange unter schlechten Bedingungen gearbeitet haben.  

Aulenkamp: Wir müssen uns die Frage stellen, was für ein Gesundheitssystem wir eigentlich wollen. Mit dem aktuellen DRG-System wird man vieles nicht verändern können. Entweder die Gesellschaft verständigt sich auf dieses paradoxe Minimum an Versorgung und andererseits Überversorgung oder es muss doch einiges grundlegend überarbeitet werden. Es ist genug Geld im System, es ist nur die Frage, wo es hinfließt.

Kunisch: Da sprichst Du einen wichtigen Punkt an. Es hat einen Grund, dass wir Weltmeister bei Herzkathetern sind. Das hat etwas mit der Vergütungsstruktur und nicht mit den Koronargefäßen der Deutschen zu tun. In der Tat: Das Geld ist da. Es wird aber oft fehlgeleitet.  

Frau Aulenkamp, Sie haben gerade Ihre Prüfung bestanden. Können Sie sich vorstellen, nun bald eine Praxis auf dem Land zu übernehmen?

Aulenkamp: Ich komme selber aus einer kleinen Stadt mit 8.000 Einwohnern. Klar kann ich mir vorstellen, später in so einem Umfeld zu arbeiten. Aktuell möchte ich allerdings gerne eine größere Klinik, größere Strukturen, kennenlernen. Und ich habe gerade überhaupt kein Bedürfnis, mich sofort irgendwo niederzulassen.

Es geht dabei offensichtlich immer auch darum: Was finde ich auf dem Land vor – von Schulen, öffentlichem Nahverkehr bis hin zu schnellem Internet …

Aulenkamp: Klar, schon im Studium steht immer die Frage im Raum: Landärztin ja oder nein? Dann kommen natürlich Fragen auf wie: Welche Strukturen finde ich vor? Wie sind die Vernetzungen? Landkreise, die sich politisch gut aufstellen, die Ärztenetze haben, die sich mit den anderen Gesundheitsfachberufen zusammen organisieren, haben in der Regel keine Probleme, Nachwuchs zu finden. Früher haben Haus­ärzte oder Politiker sich nicht vorstellen können, dass Studierende nicht zu ihnen kommen, weil es keinen Bus oder ÖPNV gibt. Da hat sich aber einiges gewandelt. Zum generellen Ärztemangel sollte bedacht werden, dass viele Mediziner gar nicht ärztlich tätig sind, weil sie sich nach einer Elternzeit nicht wieder in den Beruf trauen. Ihnen sollten Unterstützungsangebote gemacht werden.

Was halten Sie von einer Landarztquote bei der Vergabe von Studienplätzen?

Aulenkamp: Von einer Landarztquote halte ich gar nichts. Denn die wenigsten machen am Ende das, was sie am Anfang wollten. Ich finde es sinnvoller, die Zulassung generell zu überarbeiten und die Abinote insgesamt nicht zu wichtig zu nehmen.

Kunisch: Es besteht die Gefahr eines Zweiklassenstudiums: das Studium der Überflieger, und dann das Studium derer, die sich per Landarztquote verpflichtet haben. Ich finde, das wäre ein gigantischer Imageschaden, wenn suggeriert würde: Landarzt und Allgemeinmedizin – das ist so schlimm, das muss mit einer Quote verzuckert werden. Es ist aus meiner Erfahrung aber eigentlich die schönste Medizin, die es gibt. Dieses Selbstverständnis müssen wir vermitteln.  

Was ist für Sie der richtige Weg, um die Attraktivität der Allgemeinmedizin auf dem Land zu steigern?

Kunisch: Die Allgemeinmedizin muss im Studium besser sichtbar werden. 80 Prozent der Gesundheitsversorgung findet in der Primärmedizin statt. Dafür brauchen wir aber endlich flächendeckend Lehrstühle. Noch immer gibt es Unis, die keinen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin haben. Und wir brauchen eine generelle Verankerung im Studium, etwa durch Ausweitung der Blockpraktika in der Allgemeinmedizin.

Klein: Die Allgemeinmedizin hat offenbar genauso ein Imageproblem, wie viele Arbeitsbereiche der Pflege. Wer auf einer Station mit viel Medizintechnik und der Übernahme ärztlicher Aufgaben arbeitet, bekommt viel Anerkennung. Dass aber auch weniger technologisierte Bereiche eine hohe Expertise und Fachkompetenz brauchen, wird übersehen. Während meiner Zeit auf der gynäkologischen Station wurde ich belächelt mit dem Vorurteil, es sei weniger anspruchsvoll. Die Komplexität liegt dort in der Beziehungsarbeit, Anleitung, Beratung und emotionalen Begleitung. Solche schwerer messbaren Tätigkeiten haben im aktuellen Gesundheitswesen keinen Wert.

„In der Pflege wird die Würde des Menschen regelmäßig verletzt. Besonders traurig ist, dass die schlimmen Verhältnisse oft gar nicht mehr als schlimm wahrgenommen werden.“

Nina Klein

Herr Kunisch, Sie wohnen in München, arbeiten in der Lehre in Erlangen und sind in einem MVZ im kleinen Ort Eckental tätig. Ist dies das Arzt-Modell der Zukunft?

Kunisch: Ich wohne in München wegen meiner Freundin, die Medizin studiert und pendele nach Erlangen. Das Arzt-Modell der Zukunft ist gleichberechtigt. Das sorgt dann auch dafür, dass zwei Leute einen hochqualifizierten Arbeitsplatz brauchen was auf dem Land oft schwieriger ist. So ist es beispielsweise so, dass Ärztinnen oft einen Ingenieur als Mann haben.Und der braucht auch einen Job. Schlaue Gemeinden vermitteln inzwischen dem Partner oder der Partnerin eine Arbeit.

Welche Bedeutung hat die Delegation ärztlicher Leistungen für Sie alle in Ihrem Arbeitsalltag beziehungsweise welchen Stellenwert sollte sie mit Blick auf den Ärztemangel haben?

Jorde: Gefühlt 80 Prozent meiner Tätigkeiten auf der Intensivstation sind primär Tätigkeiten, die eher dem ärztlichen Bereich zuzuordnen sind – Medikamentengaben zum Beispiel. Ich glaube es wäre sinnvoll, bestimmte Verrichtungen mit einer umfangreicheren Ausbildung oder im Rahmen der Weiterqualifizierung den Pflegenden generell zuzuordnen, sodass sie diese ausführen können, ohne dass ein Arzt sie anordnen muss.

Kunisch: Ich denke auch, dass wir nicht umhinkommen werden, Leistungen abzugeben und diese eigenständig von den Pflegefachkräften ausführen zu lassen. Ich finde es verrückt, was für eine anspruchsvolle Ausbildung ihr in der Pflege durchlauft. Und danach macht ihr ganz viele Tätigkeiten, die könnte man ungelernt machen, angefangen vom Bettenmachen bis Essenausteilen. Da bräuchte es noch mal eine klare Hilfstätigkeit in Form einer eigenen Berufsgruppe.  

Zum Abschluss: Zunehmend werden von Akteuren im Gesundheitswesen steigende Renditeerwartungen beklagt, etwa im Hinblick auf private Pflegeheime und Medizinische Versorgungszentren. Wie stehen Sie dazu?

Aulenkamp: Ökonomisierung ist geboten, um begrenzte Mittel gerecht zu verteilen. Es geht um die Frage, wo hört eine ganz normale Vergütung auf und wo fängt Kommerz an. Auf jeden Fall sollte das erwirtschaftete Geld im Gesundheitswesen reinvestiert werden und nicht aus dem System herausgehen.

Jorde: Also ich sehe die zunehmende Privatisierung sehr kritisch, wenn diese nur der Profimaximierung dient. Grundsätzlich halte ich eine kommunale Trägerschaft für sinnvoller, da Gesundheitseinrichtungen für mich ein Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sind. Die Politik sollte in diesem Bereich wieder verstärkt Verantwortung übernehmen.

Kunisch: Auch ich finde, dass das Gemeinwohl nichts ist, was privatisiert gehört. Ich sehe gar nicht, was so anders ist an Gesundheit oder Trinkwasser. Das ist Daseinsfürsorge. Und ich denke tatsächlich, damit muss man kein Geld verdienen.  

Klein: Die Privatisierung im Gesundheitswesen hat nicht funktioniert. Es ist an der Zeit, dem entgegen zu steuern und das wieder umzudrehen. Entscheidungen fallen leider häufig nicht danach, was die beste Behandlung ist, sondern was ausreichend finanziell vergütet wird.


Das Gespräch moderierten Karola Schulte und Thorsten Severin.

Karola Schulte ist Chefredakteurin der G+G.
Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Stefan Boness ist freier Fotograf.
Bildnachweis: Foto Startseite: iStock/Cecilie_Arcurs