Ade Einzelpraxis: Zwei Drittel des Nachwuchses in der Medizin sind Frauen, die häufig angestellt und in Teilzeit arbeiten.
Symposium

Hausarzt-Praxis auf Zukunftskurs

Das Hausarzt-System steht vor großen Veränderungen. Gut gerüstet sind Generalisten, die ihre Gesprächskompetenz ausbauen und sich auf chronisch oder mehrfach kranke Patienten konzentrieren, so das Fazit auf einem Fachforum in Bremen. Von Jörn Hons

Der Umbruch ist nicht aufzuhalten:

„Heute sind zwei Drittel aller Nachwuchsmediziner Frauen, die lieber als angestellte Ärztinnen oder in Teilzeit arbeiten, statt eine Einzelpraxis zu übernehmen oder aufzubauen“, sagte Professor Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, kürzlich in Bremen.

Diese Tatsache, aber auch die Digitalisierung und die Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen werden seiner Ansicht nach das Hausarzt-System bis 2030 stark verändern. Auf der Veranstaltung „Hallo Lieblingsarzt“ diskutierten auf Einladung der AOK Bremen/Bremerhaven rund 100 Zuhörer – vor allem Haus- und Kinderärzte – kontrovers und lebhaft über diese Trends.

Persönliche Beziehung stärken.

Gerlach entwarf ein Zukunftsszenario, das bereits begonnen hat: mit Patienten, die beim Frühstück ihre Kopfschmerzen oder Schluckbeschwerden digital checken lassen, die einen Videoarzt hinzuschalten können, und die das notwendige Medikament wenige Minuten später per Boten ins Haus bekommen – ohne dass sie dafür zum Hausarzt gehen müssen. „In diesem Szenario kommen die Arztpraxis, der Apotheker, die Kassenärztliche Vereinigung und die AOK nicht vor“, warnte Gerlach. Die großen Internetkonzerne schickten sich gerade an, auch im deutschen Gesundheitswesen eine Plattform-Ökonomie aufzubauen.

Das Gegenmittel kann seiner Ansicht nach für Hausärzte nur sein, die persönliche Beziehung zu den Patienten in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen und sich vor allem am Bedarf der multimorbiden und chronisch kranken Patienten zu orientieren. Das bedeute auch, mengensteigernde Fehlanreize im Gesundheitswesen endlich zu beenden. Das quartalsweise Einbestellen von Patienten  gehöre ohnehin der Vergangenheit an – darin waren sich die vier Allgemein- und Kinderärzte bei der anschließenden Diskussion auf dem Podium einig. „Quartalsabrechnungen behindern den medizinischen Fortschritt“, so Gerlach. Generalisten wie Hausärzte hätten neben guten Fachärzten auch deshalb eine hohe Bedeutung, weil sie Kranke „vor zu viel und falscher Medizin“ beschützten. Ergo müssten die heute 72 fachärztlichen und spezialärztlichen Disziplinen dringend zusammengeführt werden.

Olaf Woggan, Vorstandsvorsitzender der AOK Bremen/Bremerhaven, betonte, dass die Verteilung finanzieller Mittel heute weder in der ambulanten noch in der stationären Versorgung der limitierende Faktor sei. „Es geht vielmehr darum, die Mittel so effizient und ressourcenschonend wie möglich einzusetzen.“ Als einen wichtigen Baustein dafür bezeichnete er das Shared Decision Making, die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Hausarzt und Patient, die in Bremen erstmals flächendeckend erprobt wird. 481 Hausärzte im Land Bremen wenden das Konzept im Rahmen des Bremer Hausarztvertrages an.

Fehlanreize minimieren.

Kinderarzt Dr. Stefan Trapp und Allgemeinmediziner Dr. Thomas Liebsch waren sich einig, dass die derzeitige Fokussierung der Hausärzte auf viele Kontakte mit Patienten in die falsche Richtung führt. „In der Realität versorgen wir fast Gesunde sehr gut, aber Schwerkranke oder Menschen mit Behinderungen nicht wirklich angemessen.“ Entsprechend müssten Fehlanreize minimiert werden. Die Bremerhavener Allgemeinärztin Dr. Birgit Lorenz berichtete, dass nach ihrer Erfahrung in Hausarztverträgen rund zehn Prozent Patienten eine Einschreibung verweigerten – wenn sie aber auf Termine warten müssten, seien sie mit kritischen Äußerungen im Netz schnell dabei.

Ihrer Forderung, den schnellen Zugang zu Ärzten zu begrenzen, erteilte Professor Gerlach allerdings eine Absage: „Die Bestrafung von Patienten durch eine Praxisgebühr bekommen Sie in der Politik nicht durch.“ Entscheidend werde sein, die Klientelinteressen der Akteure im Gesundheitswesen zu begrenzen. Und das gelinge erst, wenn das Geld wieder knapp werde: „Große Reformen sind Kinder der Not.“

Jörn Hons ist Pressesprecher der AOK Bremen/Bremerhaven.
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