Gesundheit global

Hilfe für gequälte kleine Seelen

Die grausamen Verbrechen gegen Kinder haben eine neue Dimension erreicht: Auf den Philippinen werden Mädchen und Jungen für Cybersex missbraucht. Wie den schwer traumatisierten Opfern nach ihrer Rettung therapeutisch geholfen wird, haben Martina Merten (Text) und Benjamin Füglister (Fotos) vor Ort beobachtet.

Sexueller Missbrauch von Kindern ist ein seit vielen Jahrzehnten weltweit zu findendes Gewaltverbrechen. Auf den Philippinen hat sich jüngst eine neue Form des Kindesmissbrauchs etabliert: die virtuelle sexuelle Ausbeutung von Kindern (Online Sexuell Exploitation of Children, kurz OSEC). Nach An­gaben des UN-Kinderhilfswerk UNICEF sind die Philippinen die größte Quelle für OSEC. Aus dem UNICEF-Report zur Gewalt gegen Kinder geht hervor, dass eines von fünf Kindern schon einmal sexuelle Gewalt erleben musste. Weltweit ist jedes dritte Opfer von sexuellem Missbrauch ein Kind, besagt der jüngste Globale Bericht über Menschenhandel des Büros der Vereinten Nationen für Drogen und Verbrechensbekämpfung.

Die Folgen für die mentale Gesundheit der Opfer – 80 Prozent sind Mädchen – sind verheerend, berichtet Rose Basence, Therapeutin im PREDA Home, einer Rehabilitationseinrichtung für Missbrauchsopfer in der Provinz Zambales auf der philippinischen Insel Luzon. „Viele der Kinder leiden unter Depressionen und aggressiven Episoden. Einige verletzen sich selbst.“ Häufig herrsche eine aufgeladene Atmosphäre in der Einrichtung, ohne dass die Mädchen genau benennen könnten, was geschehen ist.

Den seelischen Schmerz herausschreien.

Wie aufgeladen diese Stimmung sein kann, zeigt ein Blick in den Primal Raum, den die etwas älteren Mädchen im PREDA Home jeden zweiten Tag besuchen können: Elf von ihnen knien auf einfachen Gummimatten. Auch die Wände des kleinen Raums sind mit diesen Matten verkleidet. Musik läuft im Hintergrund. Anfangs, gut hörbar, ein philippinischer Liebessong. Nach einer Weile übertönen Schreie die einprägsame Melodie. Es sind laute, spitze Schreie, die einige der elf Mädchen ausstoßen. Andere boxen gegen die ihnen gegenüberliegende Matte. Immer wieder schlagen sie dagegen – fest. Ihre Wut muss unbändig sein. Etwa 30 Minuten entleeren sie sich ihrer Gefühle. Danach wird es hörbar leiser. Was im Primal Raum geschieht, ist Teil der so genannten emotional release therapy – einem traumabasierten Ansatz in der Psychotherapie. Hierbei geht es darum, unterdrückten Gefühlen durch Schreie und Schläge ihren Lauf zu lassen, erklärt PREDA-Gründer Shay Cullen.  

Mütter oft selbst Missbrauchsopfer.

Minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch – insbesondere vor einer Webcam – leiden unter zwei Traumata: Unter dem Trauma des Geschehenen und dem Trauma der Rettung. Das Trauma der Rettung, erklärt Sozialarbeiterin Amazing Grace Salitrero, die für die auf OSEC-Opfer spezialisierte C.U.R.E. Foundation auf der philippinischen Insel Visayas arbeitet, offenbare sich am Schock der Kinder über die Trennung von der eigenen Mutter – dem Menschen, bei dem sie sich einst sicher fühlten. „In 80 Prozent der Fälle befinden sich die Mittäter für ein solches Verbrechen in der Familie der Mädchen“, fügt Holländer Bart von Oost hinzu, der gemeinsam mit seiner Frau Jolien die in den Bergen Cebus gelegene C.U.R.E. Foundation leitet. „Denn meist ist die Mittäterin die Mutter der Kinder“, berichtet van Oost. Viele der Mütter seien selbst in jüngeren Jahren Missbrauchsopfer geworden. Das Gefühl für Normalität sei ihnen früh abhandengekommen. Zudem seien Mütter in der philippinischen Gesellschaft diejenigen, die das Geld für die Familie eintrieben. „Für viele geht es um das na­ckte Überleben“, so van Oost.

Strafmaß zu gering.

Dass Geld der einzige Anreiz für Familien sein könnte, ihre Kinder vor der Kamera zu prostituieren, glauben Kenner der Szene nicht. „Ich halte es auch für eine Frage der Moral“, sagt ein Insider des Rotlichtmilieus in Cebu Stadt, der seit 30 Jahren auf den Philippinen arbeitet. „Solange die Kinder noch nicht laufen können, haben sie in der hiesigen Gesellschaft noch einen Wert. Danach nicht mehr.“

Spärlich eingerichtet, aber ein sicherer Ort für sexuell missbrauchte Kinder: Das Reha-Zentrum PREDA Home hat der irische Pater Shay Cullen aufgebaut. Er setzt sich seit 1974 für die Opfer sexuellen Missbrauchs ein.

Weitere Gründe haben die Philippinen zum Hauptumschlagplatz für Webcam-Kinderprostitution werden lassen, erklärt John Tanagho, der für die International Justice Mission arbeitet (IJM) – einer global tätigen Nicht-Regierungsorganisation, die sich Opfern schwerster Menschenrechtsverletzungen widmet: Das internationale Strafmaß für Verbrechen dieser Art sei leider gering, so Tanagho. In Deutschland beispielsweise kämen Täter zum Teil mit wenigen Jahren davon. Darüber hinaus sei der Zugang zum Internet landesweit hervorragend. Den Sender zurückzuverfolgen sei nahezu unmöglich, erklärt Tanagho.

Ausmaß der Quälerei unvorstellbar.

Wie schwer das Trauma der missbrauchten Kinder wiegt, hängt nach Ansicht von Experten vom Ausmaß des Verbrechens vor laufender Kamera ab. „Zu glauben, die Kinder müssten sich einfach nur vor der Kamera ausziehen, ist ein Mythos“, so van Oost. Während der Aufbauphase der C.U.R.E. Foundation habe er nächtelang nicht schlafen können, gesteht van Oost offen. Die Bilder und die Be­richte über das, was die Mädchen und Jungen erleben mussten, ließen ihn nicht los.
 
Dr. Rose Gonato, die im Auftrag der philippinischen Regierung für deren „Pink Center“ in Cebu Stadt die psychologische Erst-Einschätzung der Opfer durchführt, ist täglich mit dem Ausmaß des Dramas konfrontiert. „Die meisten OSEC-Fälle sind auch Inzestfälle“, erzählt sie. Das bedeutet: Kinder ab dem ersten Lebensjahr müssen mit ihren Geschwistern und zum Teil mit der Mutter oder Tante vor der Kamera sexuelle Akte vollziehen. In einem besonders schlimmen Fall habe ein Mädchen aus Mindanao – der südlichsten der philippinischen Inseln – vor der Kamera auf Anweisung hin ihr eigenes Grab graben müssen. Ein damals zwölfjähriges Opfer berichtet, sie habe vor allem während ihrer Periode Sexspielzeuge in ihre Vagina einfügen müssen, weil dies den Täter besonders erfreute. „Die Auftraggeber hinter der Kamera setzen dem Geschehen keine Grenzen“, sagt Gonato.

Von Angstattacken verfolgt.

Die zwei- bis zwölfjährigen Mädchen, die bei der C.U.R.E. Foundation einen Rehabilitationsplatz bekommen, plagen ähnlich wie die etwas älteren Mädchen im PREDA Home in Zambales oftmals Angstattacken. Was diese Ängste auslöst, versuchen die dort arbeitenden Sozialarbeite­rinnen mit der Zeit herauszufinden. Dabei gehen sie seit Kurzem nach einem Manual vor, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Azusa Pacific University, USA, und von der University of the Philippines gemeinsam mit der International Justice Mission erarbeitet haben. „Unser Ziel ist es, dass die Mädchen am Ende der Therapie über das Trauma sprechen können, ohne den Schmerz immer wieder erleben zu müssen“, erklärt Sozialarbeiterin Salitrero.

Staatliche Reha-Einrichtung schirmt Opfer ab.

Anders als in den privat und meist von Ausländern geführten und finanzierten Reha-Einrichtungen wie dem PREDA Home in Zambales oder der C.U.R.E. Foundation auf der Insel Cebu können Missbrauchsopfer in staatlichen Einrichtungen weniger engmaschig betreut werden. Marillac Hills am Rande Manilas zählt zu den größten Reha-Einrichtungen landesweit. Es wird vom Ministerium für soziale Wohlfahrt und Entwicklung geleitet. 261 Mädchen im Alter von sechs bis 17 Jahren leben hier hinter hohen Zäunen und umgeben von Sicherheitspersonal. Sie sind in sechs großen Häusern untergebracht, alte Gardinen hängen an den meisten kleinen Fenstern. Obwohl die Sonne scheint, wirkt der Ort irgendwie leblos. Ein Großteil sind Opfer kommerziellen sexuellen Missbrauchs, berichtet die Dienst älteste Sozialarbeiterin Marie Joe. Einige der Mädchen seien OSEC-Opfer. Getrennt behandeln könne man sie nicht. Dafür fehlten die Mittel. Es geht das Gerücht um, dass viele der Mädchen versuchen, vom Ge­lände zu fliehen. Mit den Mädchen zu sprechen ist – anders als in privaten Einrichtungen – nicht erlaubt.

„In 80 Prozent der Fälle befinden sich die Mittäter für ein solches Verbrechen in der Familie.“
Bart von Oost, Leiter C.U.R.E. Foundation
 

Grundsätzlich gleicht das Angebot der staatlichen Reha-Einrichtung dem der wenigen privaten. Es gibt Gesprächs­kreise und Einzelsitzungen, verschiedene Therapieansätze und Musik­angebote. Für die psychische Genesung der 261 Mädchen sind jedoch lediglich fünf Personen zuständig. Nur eine davon ist als Psychologin fest angestellt, eine andere kommt fallweise von außen hinzu, sagt Marie Joe.

Nachsorge läuft langsam an.

Immerhin, anders als noch vor zehn Jahren, als das Thema OSEC für kaum jemanden ein Begriff war und sich niemand um die Psyche der Opfer kümmerte, wird der Bereich der Nachsorge inzwischen ernster genommen. Vor zwei Jahren gründete die Regierung das erste Assessment Zentrum für OSEC-Opfer in Cebu Stadt. In Cebu Stadt ist Platz für 21 Kinder. Die Dauer des Aufenthaltes sollte zwei Wochen nicht überschreiten, so das offizielle Statement. Hierhin können minderjährige Mädchen und Jungen direkt nach ihrer Rettung durch Polizei und lokale Sozialarbeiter kommen, erklärt die Leiterin des Assessment Zentrums in Cebu, Clara Nemia C. Antipala. Das ist der Moment, in dem der Missbrauch erstmals vor dem Kind thematisiert wird, sagt Sozialarbeiterin Brenda B. Abilo. Das erste Gespräch dauere etwa 45 Minuten. „Die Jüngeren begreifen meist nicht, was geschehen ist“, sagt Abilo. Die Älteren unterdrückten das Geschehene oft.

Dem Erstgespräch mit dem Opfer folgt eine Fallkonferenz, an der Polizei, Anwälte und Sozialarbeiter teilnehmen. Wie die Zukunft des Kindes aussehen könnte, wird während der Fallkonferenz besprochen. Am zweiten oder dritten Tag untersucht eine Ärztin die Kinder. Das kleine Assessment Zentrum im Herzen der Stadt Cebu enthält seit Kurzem einen gesonderten ärztlichen Untersuchungsraum. Bei gravierenden Verletzungen, zum Beispiel im Genitalbereich der Mädchen, überweist die Ärztin die Kinder ins lokale Krankenhaus; meist litten die Mädchen jedoch ausschließlich unter Blasenentzündungen, sagt Abilo. Im zweiten Stock des einfachen Gebäudes befindet sich ein Aufenthaltsraum für die 21 Mädchen und Jungen. Außer ein paar Stiften und Malblöcken gibt der Raum wenig her. Einige Jungen lehnen gelangweilt an der Wand. In ihren Augen: Leere. Für Jungen, erklärt Abilo, gebe es derzeit noch keine Reha-Einrichtungen. Man hoffe, dass sich dies schnell ändere.

In Pflegefamilien besser aufgehoben.

IJM arbeitet derzeit gemeinsam mit Partnern aus der internationalen Entwicklungshilfe, darunter UNICEF und Save the Children, mit Hochdruck an Lösungen für eine bessere Nachsorge der Kinder. Neben der Einrichtung eines zweiten Assessments Zentrums bei Manila sollen bald OSEC-Opfer auch von Pflegefamilien aufgenommen werden, erklärt Reynaldo Bicol aus dem IJM-Büro Manila. Sozialarbeiter sollen regelmäßig die Pflegefamilien aufsuchen, um nach dem Rechten zu sehen. Insbesondere UNICEF glaubt, dass traumatisierte Opfer in einer neuen Familie besser aufgehoben sind als in einer Einrichtung.

Langzeitfolgen kaum erforscht.

Um noch genauer sagen zu können, woran Missbrauchsopfer leiden und wie Psychologen und Sozialarbeiter die Traumabehandlung künftig verbessern können, fordert Professor Glenn Glarino Langzeitstudien. Bislang, so der Wissenschaftler von der Abteilung für Psychologie der San Carlos Universität in Cebu Stadt, seien die Langzeitfolgen der Traumata der Kinder kaum erforscht. Das Interesse an Forschung in diesem Bereich sei trotz steigender Zahlen der Missbrauchsopfer leider noch immer sehr gering.

Interview
„Die Täter laufen uns davon“

Die Strafverfolgung pädo-krimineller Täter ist im Internet besonders schwierig. Wie sich der sexuellen Ausbeutung von Kindern trotzdem entgegentreten lässt, erläutert Dr. Dorothea Czarnecki im Interview mit Änne Töpfer.

Frau Dr. Czarnecki, welche Bedeutung hat das Internet bei der sexuellen Ausbeutung von Kindern?

Dorothea Czarnecki: Nach Zahlen des FBI und der Vereinten Nationen befinden sich zu jeder Minute weltweit rund 750.000 pädo-kriminelle Täter online. Wie viele von ihnen strafrechtlich relevant tätig werden, weiß niemand. Das Internet hat die Möglichkeiten der sexuellen Ausbeutung von Kindern für Täter erweitert. Die Täter können sich vom heimischen Schreibtisch aus mit einem Klick und den finanziellen Möglichkeiten, die sie haben, live zum sexuellen Missbrauch von Kindern dazuschalten und dabei sogar Regie führen. Angesichts der Masse an Plattformen und der minimalen technischen Hürden haben sie leichten Zugang. Um ihre Spuren zu verwischen, brauchen sie kein spezielles Internet-Knowhow. Bei Streaming-Diensten gestaltet sich die Strafverfolgung besonders schwierig.

Dr. Dorothea Czarnecki ist Referentin für Kinderhandel und Kinderschutz bei ECPAT Deutschland und sitzt im Vorstand von ECPAT International.

Auf den Philippinen werden besonders viele Kinder via Internet sexuell ausgebeutet. Wo sitzen die Täter und welches Profil haben sie?

Czarnecki: Zu den Tätern gehören im strafrechtlichen Sinne die Menschen, die sich via Internet am Missbrauch der Kinder beteiligen. Nach einer Studie von ECPAT International aus dem Jahr 2018 auf Basis strafrechtlich relevanter Fälle und Ergebnissen von Melde-Hotlines, handelt es sich überwiegend um Männer im Alter zwischen 30 und fünfzig Jahren aus Industriestaaten. Anders als noch vor wenigen Jahren verbergen Täter immer geschickter ihre Identität.

Wie lässt sich die sexuelle Ausbeutung von Kindern verhindern?

Czarnecki: Zur Prävention in den Herkunftsländern der Kinder, wie den Philippinen, gehören reelle wirtschaftliche Alternativen für die Familien. Außerdem brauchen wir einen wirksamen Gesetzesrahmen und wirksame, internationale Strafverfolgung. Dafür haben Strafverfolgungsbehörden aus Großbritannien, Australien und den Philippinen neulich dort das erste „Internet Crimes Against Children Center“ eröffnet. Auch die Weiterentwicklung technischer Lösungen beispielsweise bei den Strafverfolgungsbehörden, spielt in der Prävention eine wichtige Rolle. Sonst laufen uns die Täter davon und wir stolpern hinterher. Wir brauchen Öffentlichkeitsarbeit, um das Thema bewusster zu machen und nicht zu verharmlosen. Zudem haben wir zusammen mit dem Bundeskriminalamt eine niedrigschwellige Meldeplattform für Verdachtsfälle eingerichtet: nicht-wegsehen.net.

Martina Merten ist Global-Health-Spezialistin und publiziert regelmäßig über Themen globaler Gesundheit. Die Recherche vor Ort fand mit Unterstützung des European Journalism Center und der Bill & Melinda Gates Foundation statt.
Benjamin Füglister ist Fotograf in Berlin.