Interview

„Das kann die internationale Gemeinschaft nur gemeinsam lösen“

Mehr als in jedem anderen Land hat das Corona-Virus mittlerweile in den USA zugeschlagen. Wie es dazu kommen konnte, wo Unterschiede zu Deutschland liegen und warum die Weltgemeinschaft künftig gemeinsam gegen Pandemien vorgehen muss, erläutert Prof. Dr. Nikolas Matthes von der Johns-Hopkins-Universität.

Herr Prof. Matthes, die USA sind in absoluten Zahlen mittlerweile das weltweit am stärksten von Corona betroffene Land. Wie schützen Sie sich persönlich gerade vor Infektionen?

Nikolas Matthes: Auch ich halte mich strikt an die Empfehlungen, um eine Ansteckung zu vermeiden. Ich verbringe also die meiste Zeit zu Hause, wasche mir regelmäßig ausgiebig die Hände und versuche mir nicht ins Gesicht zu fassen.

Wie gut war aus Ihrer Sicht als Gesundheitswissenschaftler speziell das US-System auf die aktuelle Krise vorbereitet?

Matthes: Es hat ja schon viele Epidemien gegeben, wie die letzte große Grippe-Epidemie 1957 oder in jüngster Zeit SARS, MERS und H1N1. Diese Epidemien verliefen alle ähnlich, mit dem großen Unterschied, dass die jetzige weitaus ansteckender ist und eine viel höhere Morbidität und Mortalität aufweist. Wir wussten also, dass es zu so einer Infektion kommen könnte. Und trotzdem waren wir in den USA nicht gut vorbereitet. Andere Länder, wie etwa Südkorea, Taiwan, Hongkong oder Singapur, haben aus den letzten Epidemien mehr gelernt. Sie waren deutlich besser für die Corona-Pandemie gewappnet und in der Lage, die Situation durch frühes und breitflächiges Testen zumindest vorerst in den Griff zu bekommen.

„Die USA haben die erste Chance der Eindämmung verpasst.“

Warum haben andere Länder aus Krisen gelernt, die USA aber nicht?

Matthes: Das hat verschiedene Gründe. Zum einen sind die Zuständigkeiten für die öffentliche Gesundheit – und damit auch für Epidemien – in den USA nicht klar geregelt. Im vergangenen Jahr fand eine große Simulation statt, die genau einen solchen Ausbruch probte, wie wir ihn jetzt erleben, also den Ausbruch eines luftgetragenen Atemwegsvirus, das hochgradig ansteckend war. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigten sich deutliche Probleme bei der Koordination zwischen der Bund- und Länderebene, aus denen aber kaum Konsequenzen gezogen wurden. Nach dem letzten H1N1-Ausbruch sollte außerdem eine Reserve an Beatmungsgeräten angelegt werden. Dieses Vorhaben scheiterte. Momentan gibt es in den USA nur eine minimale Reserve an Beatmungsmedikamenten, es mangelt an Schutzausrüstung, wie Masken und Anzügen. In anderen Ländern, zum Beispiel in Taiwan, muss jedes Krankenhaus eine einmonatige Reserve dieser Materialien vorrätig haben. Hier in den USA gab es sogar ein globales Gesundheitsbüro im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses, das sich der Bedrohung durch Pandemien widmete. Dieses wurde jedoch vor zwei Jahren von der Trump-Administration aufgelöst.

Welche Konsequenzen ergaben sich daraus für die heutige Lage?

Matthes: Das Hauptversagen – so legte es auch der Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIH), Anthony S. Fauci, klar dar – besteht darin, dass die USA zu Beginn keine Corona-Tests zur Verfügung hatten. Bei einer solchen Epidemie geht es am Anfang immer darum, infizierte Menschen zu identifizieren und zu isolieren sowie im Anschluss mit deren Kontakten der vergangenen zwei Wochen genauso zu verfahren. Länder wie Taiwan, Singapur und Südkorea, die schnell auf Tests Zugriff hatten, konnten so vorgehen und dadurch auf weitgehende Maßnahmen wie Schul- oder Geschäftsschließungen bis jetzt verzichten. Diese erste Chance der Eindämmung haben die USA verpasst. Wir sind mittlerweile in einer Situation, wo wir eine allgemeine Übertragung in der Gesellschaft haben, die sogenannte „Community Transmission“. Man weiß nicht, wer positiv ist. Viele Menschen sind wohl auch asymptomatisch und infizieren so andere. In dieser Phase müssen wir auf ganz massive Einschränkungen und die genannten Massenmaßnahmen zurückgreifen.

Die 1876 gegründete Johns-Hopkins-Universität (JHU) ist eine der angesehensten privaten Hochschulen der USA im Bereich Gesundheitswissenschaften, Medizin und internationale Politik. Die zehn Fakultäten der Universität arbeiten interdisziplinär zusammen. Die Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, eine Fakultät der JHU, ist die älteste und größte School of Public Health in den USA mit internationaler Ausrichtung durch Fachbereiche wie Epidemiologie und Krisenmanagement. Die Absolventen sind weltweit in Forschung und öffentlicher Gesundheit tätig. In der aktuellen Corona-Krise liefert die Johns-Hopkins-Universität täglich aktuelle Zahlen zu den Coronavirus-Infizierten weltweit auf der Grundlage unterschiedlichster Quellen (hören Sie hier einen Podcast zum Hintergrund der Johns Hopkins Coronavirus Tracking Map).

 Weitere Informationen über die Johns-Hopkins-Universität

Längst herrschen etwa in New York Zustände, wie wir sie zuvor in Italien gesehen haben. Für wann ist in den USA mit der Hochphase zu rechnen?

Matthes: Die Epidemie ist in verschiedenen Phasen, je nachdem, welchen Teil der USA man sich anschaut. New York, besonders New York City, ist jetzt schon im exponentiellen Wachstum. Auch in New Orleans, Louisiana steigen die Infektionszahlen rapide an. Andere Teile des Landes, wie der mittlere Westen, hinken etwas hinterher.

Gibt es bestimmte Gruppen in den USA, die die Corona-Krise besonders hart trifft?

Matthes: In den USA herrschen starke sozioökonomische Unterschiede. Das soziale Netz ist weniger gut ausgebildet als in Deutschland. Bestimmte Teile der Bevölkerung werden deshalb besonders von der Epidemie betroffen sein. In wirtschaftlicher Hinsicht sind das vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen, zum Beispiel in der Dienstleistungsbranche. Branchen mit starkem Kundenkontakt, wie Mitarbeiter in Supermärkten sind außerdem größeren Ansteckungsrisiken ausgesetzt. Besonders gefährdet sind auch die illegalen Einwanderer in den Sammellagern oder obdachlose Menschen mit Vorerkrankungen. Die USA haben darüber hinaus im internationalen Vergleich einen sehr hohen Prozentsatz an inhaftierten Personen. In den Justizvollzugsanstalten gab es bereits viele Infektionen, etwa in Rikers Island in New York. Generell sind diese sogenannten vulnerablen Gruppen in den USA besonders benachteiligt, was sich durch die Pandemie stark verschlimmert. Allein bis Anfang April hatten sich bereits über sechs Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Mit dem Verlust der Beschäftigung geht meist auch der Verlust der Krankenversicherung einher. Durch das Ende März verabschiedete Gesetzespaket werden Tests auf das Corona-Virus zwar bezahlt, nicht aber die womöglich notwendige Behandlung.

Sie leben als Deutscher schon seit langer Zeit in den USA. Wie geht Präsident Donald Trump im Vergleich zu Deutschland mit der Krisensituation um?

Matthes: Soweit ich die Kommunikation der Bundesregierung in Deutschland verfolgt habe, wurden die Risiken klar, zugleich aber ruhig und besonnen dargelegt und angekündigte Maßnahmen schnell umgesetzt. Das Weiße Haus hingegen hat das Risiko anfangs bestritten und zumindest bis in den frühen März hinein verharmlost. Darüber hinaus gab es viele widersprüchliche Nachrichten, zum Beispiel dazu, ob Ausgangssperren verhängt werden sollen oder nicht. Auch Stigmatisierungen durch Terminologien wie „Wuhan-Virus“ waren an der Tagesordnung. Im Sinne von Public Health ist ein solches Vorgehen nicht empfehlenswert. Stattdessen wäre es angebracht gewesen, so zu kommunizieren, dass Vertrauen entsteht, wie es zum Beispiel dem Gesundheitsexperten Anthony S. Fauci vom NIH gut gelungen ist.

„Wir müssen akzeptieren, dass Viruspandemien keine Staatsgrenzen kennen.“

Wo sehen Sie Unterschiede auf der Versorgungsebene?

Matthes: Bei der Versorgungslage, wie etwa der Anzahl der Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, sind Deutschland und die USA ähnlich gut aufgestellt. Deutschland ist jedoch viel früher aktiv geworden mit landesübergreifenden Maßnahmen, wie der Schließung von Schulen, Gastronomie und Geschäften. Auch hat Deutschland schnell gehandelt, um gezielt besonders gefährdete ältere Menschen zu schützen (sehen Sie hierzu auch das Video-Interview mit Nikolas Matthes).

Wie sind die einzelnen Bundesstaaten in den USA jetzt in der Krise aufgestellt? Herrschen große Unterschiede?

Matthes: Die Verantwortung für den Umgang mit der Epidemie liegt zum großen Teil bei den Gouverneuren der einzelnen Bundesstaaten, die eng mit den Städten und Gemeinden zusammenarbeiten. Das Federal Government, also die Zentralregierung in Washington, kann nur Empfehlungen aussprechen. Die Reaktionen auf die Krise waren äußerst unterschiedlich. Der Gouverneur von New York, Andrew Cuomo, beispielsweise hat sehr früh und schnell reagiert, die Bettenkapazität erhöht und dafür gesorgt, dass die Krankenhäuser so gut wie möglich vorbereitet sind. Zudem hat er frühzeitig Geschäfts- und Schulschließungen angeordnet. In New Orleans hingegen haben die Menschen noch im Februar beim Mardi-Gras-Festival auf der Straße getanzt, was einen massiven Anstieg der Corona-Fälle zur Folge hatte. Auch in anderen Bundesstaaten wie Florida wurde erst sehr spät eine Ausgangssperre verhängt. Noch in den Frühjahrsferien der Universitäten feierten zahlreiche Studierende an den Stränden sogenannte Spring-Break-Partys. Das ist besonders besorgniserregend, da hier viele Rentner leben.

„Im Grunde genommen ist eine Pandemie wie eine Naturkatastrophe. Wir müssen stets auf den Ernstfall vorbereitet sein.“

Wie sollten sich Regierungen in Zukunft auf Pandemien vorbereiten?

Matthes: Für die Zukunft wünschte ich mir, dass alle Länder so effektiv vorbereitet wären, wie derzeit Taiwan, Singapur, Hongkong oder Südkorea, die schnell ein sehr effektives Tracking-System eingeführt haben und frühzeitig in der Lage waren, breit gestreut zu testen. Das sollte nicht erst für drohende neue Pandemien der Fall sein, sondern ganz konkret für die nächste zu erwartende Corona-Welle. Wir müssen akzeptieren, dass Viruspandemien keine Staatsgrenzen kennen, dass sie internationale Zusammenarbeit erfordern, transparente Kommunikation zwischen Nationen, und die Vermeidung von Stigmatisierung geografischer Gebiete und Kulturen. Wie man so sagt auf Englisch: ,We are all in this together’. Das ist also ein Problem, das die internationale Gemeinschaft nur gemeinsam lösen kann. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass Pandemien nicht nur ein biologisches oder medizinisches Phänomen sind, sondern auch ein sozioökonomisches, das länderspezifisch geregelt werden muss.

Wann müssen wir mit der nächsten Pandemie rechnen?

Matthes: Es ist immer die Frage, wann ein solches Virus von Wildtieren auf den Menschen überspringt. Die letzten beiden großen Epidemien waren die Grippeinfektionen von 1918 und 1957. Bei den jüngeren Epidemien, wie SARS, MERS oder H1N1, hatten wir Glück, da sie nicht sehr ansteckend waren. Derzeit haben wir ein Virus – hier in den USA nennen wir es einen „perfect storm“ – das sowohl hochansteckend ist, als auch mit hoher Morbidität und Mortalität einhergeht. Wann wir wieder mit einer so großen Epidemie rechnen müssen, lässt sich schwer vorhersagen. Im Grunde genommen ist eine Pandemie wie eine Naturkatastrophe. Wir müssen stets auf den Ernstfall vorbereitet sein.

Karola Schulte führte das Interview Anfang April. Sie ist Chefredakteurin der G+G.
Bildnachweis: privat