Reportage

„Es beruhigt mich, wenn Du da bist“

Gemeinsam kümmern sich Ärzte und Palliativ-Fachkräfte in zwei westfälischen Kreisen um die bestmögliche Betreuung schwerstkranker Menschen. Das eingespielte Team ermöglicht den Patienten, die letzte Lebensphase zu Hause zu verbringen. Von Thorsten Severin (Text) und Werner Krüper (Fotos).

Maria Köthemann sitzt im Rollstuhl am Küchentisch ihres Hauses in einem kleinen Ort in Westfalen, die rechte Hand wärmt sie in einem Muff. Sie freut sich auf den Besuch von Palliativ-Fachkraft Nadine Schulte. Für diese hat es Maria mit Hilfe ihrer Tochter heute extra aus dem Bett geschafft. „Guten Tag, mein Mäuschen“, sagt die 79-Jährige, als Nadine Schulte durch die Tür tritt. Die Patientin spricht langsam und bedächtig, ihr Blick ist ernst aber hellwach. „Es beruhigt mich, wenn Du da bist.“

Maria Köthemann hat Krebs im Endstadium, leidet außerdem unter den Folgen eines Schlaganfalls. Zuerst war es 2013 ein Tumor in der Brust, 2015 hat sich der Krebs dann in der Harnblase breit gemacht. Alle Therapien bleiben erfolglos, das bösartige Geschwür wächst weiter. Neue Chemotherapien oder Operationen wären zwecklos. „Ich kann mich nicht beklagen“, antwortet sie dennoch auf die Frage, wie es ihr heute geht. Nur die Stiche in der Leiste, die seien neu. „Wenn ich Luft hole, ist es, als wenn mir jemand mit einem Messer dort hineinsticht.“

Nadine Schulte besucht Frau Köthemann regelmäßig in ihrem Haus im Lippstädter Ortsteil Mettinghausen. Die 43-Jährige ist eine von acht Fachkräften im Palliativnetz Soest – Hochsauerlandkreis. Zwei Kreise mit einer Fläche von mehr als 2.000 Quadratkilometern und 530.000 Einwohnern kooperieren hier. Flächenmäßig handele es sich damit um das größte Palliativnetz in Deutschland, berichtet Mediziner Dr. Friedrich Bergmann.

Großer Verbund.

Neben den acht über das gesamte Gebiet verteilten Koordinatorinnen gehören zu dem Palliativmedizinischen Konsiliardienst insgesamt 19 Palliativmediziner und eine Verwaltungskraft. 300 Hausärzte arbeiten mit dem Netz zusammen. Sie empfehlen unheilbar kranken Patienten, sich in das Programm einzuschreiben. Eine Besonderheit der palliativen Versorgung in Westfalen-Lippe ist es, dass die Hausärzte weiter die zentrale Rolle spielen und im Rahmen des Vertrages ihre Patienten auch zu Hause betreuen. Die Palliativmediziner werden bei Bedarf hinzugezogen, außerdem empfehlen diese den Maßnahmenplan und die Medikamente in der sogenannten Nofallbox, die bei bestimmten Symptomen und Krisen zum Einsatz kommt.

Hervorgegangen ist das Projekt der beiden Kreise aus einem Modellversuch zur palliativmedizinischen Versorgung im ländlichen Bereich, der im Jahr 2008 startete. 2011 wurde daraus eine GbR mit einem palliativmedizinischen Konsiliardienst, wie es ihn schon im nahegelegenen Ruhrgebiet gab. Drei Jahre lang wurden dann Schritt für Schritt professionelle Strukturen aufgebaut. Die Zahl der Palliativfachkräfte erhöhte sich von anfangs zwei auf acht im Jahr 2019. „Es hat ungefähr drei Jahre gedauert, bis wir wirklich in den Fluss gekommen sind“, erläutert Cäcilia Osthoff, die von Beginn an mit dabei ist. Doch die Mühen haben sich gelohnt. Seit 2014 wurden nach Angaben von Palliativmediziner Dr. Walter Jesse, der dem dreiköpfigen Lenkungsteam angehört, mehr als 7.500 Patienten in ihrer letzten Lebensphase betreut. Allein im vergangenen Jahr waren es 1.350. Die Palliativschwestern legen dafür in ländlicher Gegend Entfernungen von bis zu 70 Kilometern zu ihren Patienten zurück.

Schmerzfrei zu Hause.

In erster Linie geht es darum, den Kranken den Wunsch zu erfüllen, ihre letzten Tage, Wochen oder Monate möglichst schmerzfrei zu Hause verbringen zu können – anstatt in einem sterilen Krankenhauszimmer. Vorrangig sei dabei die Netzwerkarbeit, erläutert Osthoff. „Wenn Patienten bei uns gemeldet sind, steht zuerst ein Hausbesuch an. Wir schauen dann, wie wir für diese Menschen ein Netz bauen können mit verschiedenen Akteuren – Pflegediensten, Hospizdiensten, Physio- und Ergotherapeuten, Sozialarbeitern, Psychologen. Wir können das ja gar nicht alleine leisten.“ Auf Wunsch werden auch Seelsorger mit einbezogen.

Die Angehörigen werden von den Koordinatorinnen angeleitet, wenn es um Handgriffe bei dem Kranken, die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr, spezielle Mundpflege oder die Verabreichung von Medikamenten geht. Ihre Aufgaben sehen Schulte und Osthoff aber auch darin, den betroffenen Familien zeitaufwendige Dinge wie die Beantragung von Pflegeleistungen oder die Beschaffung von Hilfsmitteln abzunehmen. Und auch in der Zeit des Abschieds von dem geliebten Menschen wollen die Fachkräfte für die Familienmitglieder da sein. Insgesamt 160 Stunden dauert es, um als Krankenschwester die Zusatzqualifikation „Palliative Care“ zu erlangen. Voraussetzung sind Erfahrungen im Palliativ- und Hospizbereich.

1984 wurde der erste ambulante Hospizdienst in Deutschland gegründet, 1986 in Aachen das erste Hospiz. Parallel dazu entwickelte sich die Palliativmedizin: 1983 eröffnete in Köln die erste Palliativstation Deutschlands, seit 2009 ist die Palliativmedizin Pflicht-, Lehr- und Prüfungsfach im Medizinstudium. Bei dieser Medizin geht es um die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer fortschreitenden Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung. Es steht nicht die Verlängerung der Überlebenszeit um jeden Preis im Vordergrund, sondern die Lebensqualität.

Die Tochter von Maria Köthemann ist selbst gelernte Altenpflegerin. Um in der letzten Phase bei ihrer Mutter zu sein, hat sich Inge Wietheger im Job beurlauben lassen. Zwar kommt morgens zum Anziehen ein Pflegedienst, doch die restlichen 23 Stunden des Tages kann sie von ihrem erlernten Beruf profitieren. Normalerweise wohnt Wietheger in Recklinghausen, 120 Kilometer von Mettinghausen entfernt. Ihr Mann besucht sie jedes Wochenende im elterlichen Haus. „Wir hatten früher eine Fernbeziehung und jetzt auch wieder“ scherzt sie. Auch Wietheger duzt sich mit Nadine. Heute berichtet sie ihr von den Abführproblemem ihrer Mutter. Der Tumor versperre immer mehr die Ausgänge, erklärt Schulte. Außerdem blockiere das Morphinpräparat die Darmrezeptoren. Daher muss die Patientin Stuhlweichmacher anwenden. „Lässt Du uns ein paar Zäpfchen da?“, fragt Inge Wietheger. Schulte nickt und greift in ihre Tasche mit Blutdruckgerät und Medikamenten. Maria Köthemann muss eine ganze Reihe von Arzneimitteln schlucken. Doch Wietheger und ihr Bruder fühlen sich oft unsicher, wenn es etwa um Arzneigaben außerhalb der Reihe geht. „Da ist es gut, dass es Nadine gibt.“

Individuelle Arznei-Pläne.

Die Medikation für die Kranken stellen die Hausärzte zusammen. Die Palliativmediziner stehen gerne beratend zur Seite. Bei Maria Köthemann war dies Dr. Bergmann, der als Onkologe seit 26 Jahren am Evangelischen Krankenhaus in Lippstadt arbeitet und seit 2006 in der Klinik zusätzlich eine eigene Praxis unterhält. Der 63-Jährige ist wegen seines Engagements in der Hospizbewegung Träger eines Bundesverdienstkreuzes. Wenn die Palliativ-Fachkräfte Feierabend haben, sind Bergmann und die anderen Palliativärzte abwechselnd für die Patienten erreichbar. Handy und Computer habe er dann nachts neben dem Bett liegen, erzählt Bergmann. Brauche ein Patient Hilfe, könne er sich jederzeit in einer elektronischen Patientenakte über Erkrankung, Medikation und den letzten Hausbesuch informieren.

Ziel ist es, die Patienten wie Maria Köthemann möglichst schmerzfrei zu halten. Allerdings: Völlig frei von Symptomen zu sein, sei ein nicht haltbares Versprechen, erklärt Dr. Jesse. Und auch sein Kollege Bergmann betont, dass es immer darauf ankomme, woher der Schmerz stamme und wie der Grad der Metastasierung sei. „80 Prozent der Patienten können wir so einstellen, dass sie zufrieden damit sind.“

Laut Palliativkraft Osthoff geht es aber nicht nur darum, dass die Patienten nicht leiden müssen, sondern sie sollen unter der Krankheit sogar zufrieden und fröhlich sein können. Spaß haben trotz Krebs im Endstadium? Ja, das sei möglich, berichtet die Palliativschwester, die zuvor in einem Hospiz gearbeitet hat. „Es wurde nirgendwo so viel gelacht wie da.“ Wie bei der Palliativbetreuung gelte auch hier: „Im Mittelpunkt steht immer das Leben, nicht der Tod.“ Und überhaupt verändere sich der Fokus, wenn man am Ende des Lebens stehe, hat die 61-Jährige gelernt. „Es geht dann darum, die verbleibende Zeit zu nutzen.“

Den Himmel auf Erden.

Helga Köster aus dem Warsteiner Stadtteil Belecke hat die letzte Phase an der Seite ihres kranken Mannes durchaus in positiver Erinnerung. Siegfried Günsche verstarb Ende Oktober vergangenen Jahres. Seit 2011 wusste er vom Krebs in der Unterkieferspeicheldrüse. Der Krebs schien einige Jahre besiegt zu sein, doch im Oktober 2018 war er zurückgekehrt. Metastasen hatten viele seiner Organe besiedelt. Nach unzähligen Chemos entschieden Günsche und die Ärzte, dass eine Fortsetzung keinen Sinn ergibt. Schulte betreute das kinderlose Ehepaar in der Endphase knapp vier Monate. „Mit ihr hatten wir den Himmel auf Erden“, berichtet Köster. „Wir brauchten uns um nichts Organisatorisches zu kümmern.“ Die Palliativ-Fachkraft habe Hilfsmittel wie Duschstuhl, Rollator und Krankenbett besorgt und feinfühlig das Gespräch über rechtliche Dinge wie Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Testament angestoßen. Und überhaupt habe sie für alle Fragen zur Verfügung gestanden.

„Im Mittelpunkt steht immer das Leben, nicht der Tod.“

Cäcilia Osthoff, Palliativkraft

Während sie über die letzte Zeit an der Seite ihres Mannes erzählt, sitzt Köster am Holztisch im Esszimmer ihres Hauses, darauf ein Foto ihres Mannes. Auf dem braunen Bilderrahmen steht „Lieblingsmensch“. Helga und Siegfried erlebten die letzte Phase ganz intensiv, sprachen viel, aßen und lachten zusammen, zogen extra für ihn ins untere Stockwerk des Einfamilienhauses. „Wir haben unheimlich viel Zeit miteinander verbracht.“ Ihr Mann sei perfekt eingestellt gewesen. Den Plan von Dr. Bergmann hat Köster aufgehoben. Dort steht detailliert, welches Medikament bei Schmerzen, welches bei Atemnot, welches bei Unruhe oder Angst, Übelkeit oder Erbrechen sowie Rasselatmung zu nehmen ist. Als hilfreich bezeichnet es Köster, dass die Ärzte 24 Stunden am Tag erreichbar waren. Außerdem hätten ihr Mann und sie das große Glück gehabt, dass ihr Hausarzt beim Palliativnetz mitgemacht habe, was nicht selbstverständlich ist. In der Woche vor dem Tod sei er jeden Tag zu ihnen nach Hause gekommen. „Wir hatten nie das Gefühl: Keiner hilft uns.“ Am Ende sei ihr Mann im Sessel vor dem Fernseher für immer eingeschlafen, eineinhalb Monate nach seinem 63. Geburtstag.

Zurzeit begleiten Schulte und ihre Kolleginnen 385 Kranke. Im Schnitt sind diese zwischen 50 und 60 Jahre alt. Niemand, der eine palliativmedizinische Betreuung wünsche, werde abgelehnt. Allerdings müssen die Therapien an ihr Ende gekommen sein. „Schwerstkrank, sterbend und austherapiert“, lauten die Kriterien für die Aufnahme, wie Bergmann erläutert.

Nach Therapie-Ende ist nicht Schluss.

Noch immer bekommen viele Patienten am Ende der Therapie von Medizinern den Satz zu hören: „Wir können nichts mehr für Sie tun.“ Für Friedrich Bergmann ist dies „das Schlimmste, was man überhaupt sagen kann“. Denn für ihn als Palliativmediziner ist nach dem Aus für Chemo, OP oder Bestrahlung längst nicht Schluss. Er sage den Patienten dann immer: „Wir sind jetzt an einem Punkt, wo ich etwas anderes für Sie tun kann: Ich muss jetzt für Sie da sein.“

Bergmann weiß, dass es Medizinern oft schwerfällt, Behandlungen einzustellen, selbst wenn diese keine Erfolge mehr zeigen und sie das Leid der Menschen nur vergrößern. „Wir sehen das in der Onkologie ganz oft: Da bekommen Patienten eine Therapie nach der anderen, man sieht wie sie verfallen. Und man weiß ganz genau, die Behandlung dient nur dazu, eine längere Lebenszeit von 14 Tagen oder drei Wochen herauszukriegen.“ Das Feingefühl, wann man einen Menschen mit solchen Eingriffen quäle, sei bei einigen seiner Kollegen nicht vorhanden.

Palliativkraft Schulte hat festgestellt, dass sich viele Patienten nach der Entscheidung, die Therapie zu beenden, stabilisieren, weil die unerwünschten Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen wegfallen. Auch die Tochter von Maria Köthemann ist froh, dass ihre Mutter in der letzten Lebensphase nicht noch durch die Behandlung zusätzlich geschwächt wird. Wenn es ihr verhältnismäßig gut geht, kommt sie mehrmals am Tag aus dem Bett, nimmt die Mahlzeiten am Küchentisch ein, mundgerecht zubereitet. Inge Wietheger kocht für ihre Mutter und ihren Vater stets etwas, „wo es richtig Schmackes auf den Pöppes gibt“, wie sie sagt. Seit Herbst vergangenen Jahres steht es nicht gut um Maria. Im Oktober sollte sie zur Immuntherapie fahren, als sie plötzlich auf Ansprache nicht mehr reagierte, die Mundwinkel herabhängen ließ und nur noch verwaschen sprechen konnte. Ihrer Tochter war sofort klar, dass ihre Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte. Viereinhalb Wochen verbrachte sie daraufhin im Krankenhaus.

Breites Krankheitsspektrum.

Betreut werden in dem Palliativnetz überwiegend Krebspatienten, aber auch Menschen mit Lungenkrankheiten etwa COPD, schweren Herzleiden, Demenz oder Nervenerkrankungen wie die Amyotrophe Lateralsklerose. Im Durchschnitt werden die Patienten 72 Tage begleitet, also rund zehn Wochen. Aber es kommt auch vor, dass sich die Betreuung über ein halbes oder ganzes Jahr erstreckt. Ist der Patient stabil, können die Besuche mal für eine Weile ausgesetzt werden. Die gesetzlichen Krankenkassen vergüten die Visiten pauschal, die Ärzte erhalten außerbudgetäre Zahlungen. Den Familien entstehen keine Kosten.

In Westfalen-Lippe gibt es seit 2009 einen Palliativvertrag zwischen den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung (KVWL), der mehrfach ausgezeichnet worden ist. 2013 wurde dieser grundlegend überarbeitet und zuletzt im Jahr 2017 angepasst. Doch auch schon vor 2009 gab es palliativmedizinische Versorgungsansätze in der Region.

Bei dem aktuellen Modell übernimmt der behandelnde Vertragsarzt (Haus- oder Facharzt) die zentrale Rolle der Begleitung und Behandlung des Patienten. Wenn nötig, wird der Palliativmedizinische Konsiliardienst (PKD) eingeschaltet. Die Abläufe sollen möglichst unbürokratisch sein: Der Patient schreibt sich ein, der Haus- oder Facharzt erklärt seine Teilnahme schriftlich gegenüber der KVWL. Qualifizierte Palliativmediziner beantragen ebenfalls die Teilnahme bei der KVWL und bilden einen regionalen PKD mit examinierten weitergebildeten Pflegekräften, die zu den Kranken fahren. Anders als in anderen Bezirken gibt es keine Trennung zwischen allgemeiner ambulanter Palliativversorgung (AAPV) und spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV). Die AOK NordWest war bei dem Vertrag und seinen Weiterentwicklungen federführend.

Auf Bundesebene finden derzeit Verhandlungen des GKV-Spitzenverbandes mit den maßgeblichen Verbänden aus dem Bereich der SAPV über einen Rahmenvertrag statt. Dieser soll allgemeine Aussagen zu Versorgungskonzepten treffen und wesentliche Elemente der Vergütung definieren. Die Umsetzung erfolgt aber vor Ort. Der Verhandlungsauftrag ergibt sich aus dem Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz, das seit Januar 2019 in Kraft ist.

Bei den Patienten erleben Schulte und ihre Kolleginnen oft dramatische Situationen – gerade wenn es junge Leute sind, die sich mit ihrem nahen Tod abfinden müssen. Was wird aus meinen Kindern? Werden sie heiraten, eine Familie gründen? Was wird aus dem Ehepartner? Zum Beispiel sind es Frauen mit Brustkrebs, die mitten im Leben eine solche Schockdiagnose verkraften müssen. Nicht selten kommen in dieser Situation Geldsorgen hinzu. Die Palliativ-Fachkräfte versuchen, ihren Patienten möglichst viel Raum zu lassen, um Dinge zu erledigen, Sachen zu klären, einen Streit zu beenden, sich zu verabschieden. „Wenn einen etwas bedrückt oder man Dinge nicht klären kann, ist das Sterben schwerer“, weiß Bergmann. Auf Wunsch überlegen die Palliativkräfte gemeinsam mit dem Patienten, wie sie das Bedrückende loswerden können. „Manches Mal habe ich gedacht, ich bin mehr Sozialarbeiterin als Krankenschwester“, berichtet Cäcilia Osthoff von ihrer Arbeit.

Abschalten von Leid und Tod.

Doch wie gelingt es, nach der Arbeit von der ständigen Konfrontation mit Leid und Sterben abzuschalten? Nadine Schulte schafft dies nach eigenen Worten ganz gut, vor allem dann, wenn sie zu Hause bei ihren Söhnen ist. Doch es komme durchaus vor, dass sie Sachen mit in den Feierabend oder ins Wochenende nehme. Und natürlich gehe es ihr nahe, wenn ein Patient gestorben sei. Hilfreich sei in solchen Momenten die Unterstützung der Kolleginnen. „Wir sind ein gut funktionierendes Team. Das macht eine Menge aus.“ Sie könne die Kolleginnen einfach mal anrufen, wenn sie einen schlechten Tag habe. Zudem gibt es zur Verarbeitung der Erfahrungen regelmäßig Supervision. Da könne es dann schon mal sein, dass im Austausch „ein Knoten platzt“. Allerdings: Keine der Koordinatorinnen übt ihren Job in Vollzeit aus. „Es ist unglaublich anstrengend und Sie müssen in dem Job auch auf sich selbst aufpassen“, erläutert Osthoff. Insgesamt kommen die acht Koordinatorinnen auf gut vier Vollzeitstellen.

Auch Mediziner Bergmann konnte bislang immer die professionelle Distanz zu den schweren Schicksalen wahren, mit denen er täglich in seiner Praxis in Berührung kommt. Doch je älter er werde, desto mehr verändere sich die Einstellung zu dem, was er mache. Und der Mediziner verspürt neuerdings sogar ein wenig Angst. „Meine Frau sagt zu mir, ich sei im Alter zum Hypochonder geworden.“

Wertschätzung am Lebensende.

Insgesamt haben Schulte und ihre Kolleginnen festgestellt, dass sich die Einstellung zum Tod in der Bevölkerung geändert hat. Immer mehr Menschen wollten zu Hause sterben, vor allem auf dem Land. In einer Studie aus dem Jahr 2015 äußerten mehr als drei Viertel der Befragten diesen Wunsch. Die Realität sieht aber anders aus: 77 Prozent der Menschen in Deutschland sterben im Krankenhaus oder in einem Pflegeheim. In einer kleinen Ortschaft wie Mettinghausen sei der Wunsch, zu Hause zu sterben, einfacher zu erfüllen, meint Schulte. Die Menschen dort würden mehr durch ihr Umfeld getragen. Einkaufen, Essenkochen, mit dem Hund spazieren gehen, „das funktioniert auf dem Dorf besser“.

Schulte bemüht sich wie ihre Kolleginnen, stets ein enges Verhältnis zu ihren Patienten aufzubauen und eine Vertrauensbasis zu schaffen. „Wenn Menschen auf die Welt kommen, werden sie mit ganz viel Wertschätzung begleitet. Das sollte auch am Lebensende so sein“, findet sie. Maria Köthemann jedenfalls hat Nadine sofort in ihr Herz geschlossen, wie sie sagt. Bevor es für sie zurück ins Bett geht, streichelt sie der Krankenschwester über die Wange. „Wie ich froh bin, dass ich Dich hier habe.“

Maria Köthemann ist im März 2020 friedlich im Kreise ihrer Familie gestorben. Zu Hause.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Werner Krüper ist freier Fotograf.