Thema des Monats

Stresstest fürs Gesundheitswesen

Die Coronavirus-Pandemie stellt das deutsche Gesundheitswesen auf eine noch nie dagewesene Belastungsprobe. Doch in der Krise zeigen sich auch die Stärken des Solidarsystems. Von Thomas Rottschäfer

Mittwoch, 18. März. Am Abend strahlen die großen Fernsehsender eine Ansprache der Bundeskanzlerin aus. Zum ersten Mal wendet sich Angela Merkel außerhalb des Neujahrsritus direkt an die Bürgerinnen und Bürger. „Wir stehen vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Es geht um Menschenleben“, sagt die sonst so nüchterne Physikerin.

Rückblende: Anfang des Jahres kennt in Deutschland kaum jemand die chinesische Millionenmetropole Hubei in der Provinz Wuhan. Dort verbreitet sich seit Dezember 2019 ein neuartiges Virus. Noch unterdrückt die chinesische Regierung jede Berichterstattung. Das Regionalbüro China der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird am 31. Dezember 2019 über das Auftreten mehrerer Fälle von Lungenentzündung mit un­bekannter Ursache informiert. Erst 20 Tage später geht Ministerpräsident Xi Jinping an die Öffentlichkeit und erklärt den Kampf gegen das neue Coronavirus zum „Volkskrieg“. Am 23. Januar wird die Stadt Hubei mit elf Millionen Menschen abgeriegelt, kurz darauf geht die gesamte Provinz Wuhan in den „Lockdown“.
 
Das neuartige Coronavirus ist jetzt ein weltweites Thema. Die Bundesrepublik fliegt deutsche Staatsbürger aus Wuhan aus. 122 Menschen gehen nach ihrer Rückkehr für 14 Tage in Quarantäne in einer Bundeswehrkaserne. Am 24. Januar be­stätigt Frankreich die ersten Infektionen in Europa. Drei Tage später gibt es auch in Deutschland den ersten offiziellen Corona-Fall in München. Ende Februar wird die kleine Gemeinde Gangelt im nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsberg zum Hot-Spot für das Virus. Auch in Bayern und Baden-Württemberg gibt es immer mehr Neuinfektionen.

2. März
Weltweit 90.000 bestätigte Infektionen und 3.000 Todesfälle
Deutschland: 150 Infektionen

In Italien beginnt am 23. Februar in der Lombardei eine Tragödie, die bald ganz Italien in den Ausnahmezustand versetzt. Im März eskaliert auch in Spanien die Situation. Bis Ostern beklagen beide Länder 33.000 Tote.
 
In Deutschland richtet die Bundesregierung am 26. Februar einen Krisenstab unter Leitung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Bundesinnenminister Horst Seehofer ein. Das Team soll auch die Zusammenarbeit von Bund und Ländern koordinieren, die von unterschiedlichen Kompetenzen bis hi­nunter zu den Gesundheitsämtern der Kreise und Städte gekennzeichnet ist. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Arztpraxen, Kliniken und Labore arbeiten am Limit, um die Forderung nach mehr Coronavirus-Tests zu bewältigen.

Video-Interview mit Prof. Dr. Nikolas Matthes:

Lesen Sie das vollständige Interview in dieser Ausgabe.

„Die Corona-Epidemie ist in Europa angekommen“, sagt Spahn am 4. März bei seiner ersten Regierungserklärung zur Entwicklung. Der 39-Jährige ist jetzt als unermüdlicher Krisenmanager gefordert. Am 12. März erklärt die WHO den COVID-19-Ausbruch zur Pandemie. Zu diesem Zeitpunkt gibt es weltweit 120.000 bestätigte Infektionen, davon rund 80 Prozent in China. Weltweit brechen die Börsen ein. Wie sich die Krise stetig nach Europa verlagert, lässt sich live auf einer interaktiven Weltkarte verfolgen, für die Wissenschaftler der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore alle weltweit verfügbaren verlässlichen Quellen auswerten.

Es ist die Stunde der Virologen, allen voran Professor Christian Drosten. Der Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité gehörte 2003 zu den Mitentdeckern des SARS-assoziierten Coronavirus (SARS-CoV). Jetzt avanciert Drosten zu einem der wichtigsten Berater der Bundesregierung, auf Twitter hat er Anfang April mehr als 226.000 Follower. Die regelmäßigen Pressekonferenzen des Robert Koch-Instituts (RKI) mit aktuellen Fallzahlen und Lageeinschätzungen von RKI-Präsident Professor Lothar Wieler werden live übertragen.

16. März
Weltweit 170.000 bestätigte Infektionen, 6.500 Todesfälle
Deutschland: 6.000 Infektionen, 13 Todesfälle

„Wir können nur Handlungsempfehlungen geben. Handeln muss die Politik“, betonen Drosten, Wieler und viele andere Virologen und Epidemiologen. Und die Politik handelt ab Mitte März konsequent, um die jetzt in allen Bundesländern zunehmenden Infektionen einzudämmen: Versammlungen und Veranstaltungen werden verboten. Kitas und Schulen werden geschlossen. Keine Gottesdienste, keine Bundesliga. Binnen einer Woche steht das öffentliche Leben still. Am 17. März stuft das RKI die Risikosituation für Deutschland auf „hoch“ herauf. Die Bundeskanzlerin kündigt an, dass in den nächsten Tagen die meisten Geschäfte, Cafés und Restaurants, Kultur- und Sporteinrichtungen schließen müssen. Nur Läden der Grundversorgung bleiben geöffnet. Am 22. März einigen sich Bund und Länder auf ein Kontaktverbot. Es soll vor allem die Risikogruppen schützen: Menschen über 60 und solche mit Vorerkrankungen. Versammlungen von mehr als zwei Menschen in der Öffentlichkeit werden untersagt. Ausgenommen sind Angehörige, die im selben Haushalt leben.

Die Weltgesundheitsorganisation hat dem neuen Virus wegen seiner Verwandtschaft zum SARS-Coronavirus den offiziellen Namen SARS-Corona-Virus 2 (SARS-CoV-2) gegeben. Die durch das Virus ausgelöste Lungenerkrankung wird COVID-2019 (Coronavirus Disease 2019) genannt.

Weltweit forschen pharmazeutische Unternehmen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an einem Impfstoff. Allein die EU finanziert mit 48,5 Millionen Euro 18 neue Forschungsprojekte zur Entwicklung von Impfstoffen, Schnelldiagnostika und Behandlungsmethoden. 140 Forscherteams sind daran beteiligt. Zudem hat die EU-Kommission nach eigener Darstellung öffentliche und private Mittel in Höhe von rund 90 Millionen Euro mobilisiert. Allein 80 Millionen Euro hat die EU dem deutschen Unternehmen CureVac für Entwicklung und Produktion eines COVID-19-Impfstoffes angeboten.

Für die Zulassung eines Impfstoffes in der EU ist die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) zuständig. Deren Chefmediziner, Professor Hans-Georg Eichler, warnt angesichts der Vielzahl von Studien vor Ineffizienz. „Gerade sind viele kreative Wissenschaftler dabei, Hypothesen zu beweisen. Aber nichts wäre schlimmer, als eine vielversprechende Therapie, die wir ohne aus­sagekräftige Daten über Nutzen oder mögliche Risiken nicht zulassen können. Wir müssen koordiniert und mit großen multinationalen Studien vorgehen,“ sagte der Pharmakologe aus Österreich G+G.

Laut Eichler hat das Thema COVID-19 bei der EMA oberste Priorität. Ein Krisenstab sei damit beschäftigt, unterschiedliche Initiativen in die richtigen Bahnen zu lenken, und suche nach Möglichkeiten für eine beschleunigte Zulassung. „Wir müssen einen Kompromiss zwischen dem enormen Zeitdruck und ethischen Fragen finden“, so Eichler. Die EMA stehe etwa in der Frage des Umfangs notwendiger Tierversuche in Kontakt mit den nationalen Behörden.

Parallel zur Impfstoff-Forschung geht es um die Frage, inwieweit vorhandene Arzneimittel auch gegen COVID-19 eingesetzt werden können. Eichler: „Es gibt antivirale Substanzen auf dem Markt, die auch gegen COVID-19 helfen könnten. Wir haben für diese Medikamente bereits viele Daten. Aber um sie über ihre bisherige Zulassung hinaus einsetzen zu können, müssen wir jetzt prüfen, ob eine mögliche Wirksamkeit gegen COVID-19 tatsächlich den Erwartungen entspricht.“

„Abstand halten“, heißt jetzt die Devise. Durch die sozialen Netzwerke laufen Bilder, auf denen Mediziner und Pflege­kräfte Pappschilder halten: „Wir bleiben für Euch da. Bleibt Ihr bitte Zuhause!“ Sie sind die Helden der Krise. Jetzt rücken auch Menschen in den Blickpunkt, die sonst wenig Beachtung finden: Verkäuferinnen, LKW-Fahrer, Erntehelfer. Bei einer Befragung für das ZDF-Politbarometer zeigen sich Ende März 95 Prozent der Befragten mit den harten Einschnitten einverstanden. Wer kann und darf, wechselt ins Homeoffice – auch bei den Krankenkassen und ihren Verbänden. Aus Präsenzsitzungen werden in vielen Unternehmen Telefon- oder Videokonferenzen.

Die zunächst für zwei Wochen vorgesehenen Einschränkungen werden am 1. April bis zum 20. April verlängert. Dann enden die Osterferien in den meisten Bundesländern. An Reisen ist ohnehin nicht zu denken. Die meisten EU-Staaten haben längst ihre Grenzen geschlossen – der europäische Gedanke tritt trotz aller Anstrengungen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den Hintergrund. Doch die Solidarität ist noch da: Deutsche Kliniken nehmen ab Ende März Intensivpatienten aus Italien und Frankreich auf.

23. März
Weltweit 342.000 bestätigte Infektionen, 14.000 Todesfälle
Deutschland: 22.672 Infektionen, 86 Todesfälle

Um die massiven wirtschaftlichen Folgen für Unternehmen und Selbstständige abzufedern, schnürt die GroKo binnen weniger Tage Milliardenpakete. Finanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier verabschieden sich über Nacht von „schwarzer Null“ und Schuldenbremse. Der Bund nimmt für 156 Milliarden Euro neue Kredite auf. Im Eiltempo werden Krisengesetze zwischen Ministerien, Fraktionen und der Oppo­sition abgestimmt. Von den Kabinettsbeschlüssen am 23. März über die Verabschiedung im Bundestag und Bundesrat bis zum Inkrafttreten am 28. März dauert es keine Woche.

Für die Bundesregierung geht es jetzt vor allem darum, das Gesundheitswesen auf eine Verschärfung der Situation vorzubereiten und durch das Eindämmen der Infektionen das von den Wissenschaftlern gezeichnete „Worst-Case-Szenario“ zu verhindern: In einem internen Lagebericht geht das Innenministerium Mitte März bei ungebremster Ausbreitung des Virus von einer massiven Überlastung des Gesundheitswesens und mehr als einer Million COVID-19-Toten in Deutschland bis Ende Mai aus.

Schon seit Anfang März verständigten sich die gesetzlichen Krankenkassen und der Medizinische Dienst der Krankenkassen mit den Partnerorganisationen der Selbstverwaltung schnell und kooperativ auf viele befristete Sonderregelungen. Sie sollen Ärzten, Pflege, Kliniken, Therapeuten und Apothekern die Arbeit erleichtern und die Patientenkontakte verringern. Dazu gehören vermehrte Videosprechstunden, der Verzicht auf Qualitätsprüfungen in den Pflegeeinrichtungen und auf individuelle Pflegebegutachtungen, Fristverlängerungen für Therapie- und Hilfsmittelverordnungen, telefonische Krankschreibung für bis zu 14 Tage, Lockerungen bei den Arzneimittelrabatt­verträgen und viele weitere Sonderregelungen. Der Gemeinsame Bundesauschuss ändert seine Verfahrensordnung, um im schriftlichen Abstimmungsverfahren rasch betroffene Richtlinien befristet ändern zu können. Entscheidungen, die sonst Monate benötigen, fallen jetzt innerhalb weniger Stunden.

3. April
Weltweit 1.016.401 bestätigte Infektionen, 53.160 Todesfälle
Deutschland: 79.696 Infektionen, 1.017 Todesfälle

„Wir halten dem Gesundheitswesen den Rücken frei. Wenn es zu finanziellen Engpässen in Krankenhäusern kommt, wird die AOK unbürokratisch helfen“, verspricht der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, Mitte März. Am 21. März legt der Gesundheitsminister in Absprache mit den Ländern das COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz vor. Dieser „Schutzschirm“ tritt am 28. März in Kraft und soll die Konzentration der Kliniken auf den Ausbau der Intensivversorgung finanziell absichern. Planbare Operationen werden abgesagt. Für jedes freigehaltene Bett erhalten die Krankenhäuser bis Ende September eine Tages­pauschale von 560 Euro, für jedes zusätzliche Intensivbett 50.000 Euro. Diese und weitere Maßnahmen kosten den Bund rund 2,8 Milliarden und die gesetzliche Krankenversicherung rund 6,3 Milliarden Euro. Auch für niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten sind Ausgleichszahlungen für Honorar­einbußen und Mehrkosten vorgesehen. Pflegeeinrichtungen bekommen Mehrausgaben für Schutzausrüstung erstattet.

Das am 28. März in Kraft getretene „Bevölkerungsschutzgesetz“ gibt dem Bundesgesundheitsminister weitgehende Durchgriffsrechte. Nachdem der Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hatte, darf Spahn befristet für die Krisenlage in fast alle Abläufe des Gesundheitswesens eingreifen. Bayern zieht mit einem Notfallgesetz nach. Auch NRW plant ein Epidemiegesetz, das weitreichende Eingriffe vorsieht. Ärzteorganisationen kritisieren die „Entmachtung“ der Kassenärztlichen Vereinigungen.

Video-Interview mit der Asien-Korrespondentin Agnes Tandler:

Bis Anfang April gelingt es den Kliniken, die Zahl der Intensivbetten von 28.000 auf rund 40.000 zu erhöhen, bis zu 30.000 Intensivbetten mit Beatmungsgerät stehen zur Verfügung. Zu diesem Zeitpunkt sind laut DKG rund 2.000 Betten mit COVID-19-Patienten belegt.

Das Hauptproblem aber bleibt die fehlende Schutzausrüstung. Der Weltmarkt ist leergefegt. Die Staaten konkurrieren um die geringen Ressourcen. Praxen müssen schließen, weil Schutz­kleidung fehlt. Das RKI meldet am 2. April, dass sich in Deutschland bereits 2.300 Ärzte und Pfleger mit dem Coronavirus angesteckt haben – die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Der Krisenstab der Bundesregierung erlässt angesichts des Mangels Regeln für die Wiederaufbereitung von medizinischen Atemschutzmasken. Jens Spahn kündigt an, Schutzkleidung für Ärzte und medizinisches Personal solle ab jetzt verstärkt in Deutschland hergestellt werden. Dafür sollen Unternehmen eine Abnahmegarantie bis Ende 2021 bekommen.

9. April
Weltweit 1.502.618 bestätigte Infektionen, 89.915 Todesfälle
Deutschland: 113.296 Infektionen, 2.349 Todesfälle

Die Krankenkassen müssen mit deutlichen Beitragsausfällen durch die flächendeckende Kurzarbeit und den von Wirtschaftsweisen und Forschungsinstituten prognostizierten Abschwung rechnen. Zehn bis 20 Prozent Beitragsausfall entsprächen auf Basis der GKV-Einnahmen 2019 rund 25 bis 50 Milliarden Euro. Für die Monate März und April haben die Kassen von der Krise betroffe­nen Unternehmen und Selbstständigen bereits zugesagt, Beitrags­zahlungen unkompliziert zu stunden.

„Die Krankenkassen halten das Gesundheitswesen finanziell am Laufen. Pandemiebedingte Einnahmeausfälle und Mehrausgaben treffen aber auch die Kassen mit voller Wucht“, betont Martin Litsch. Deshalb brauche auch die GKV schnell zusätzliche Finanzmittel. An einen „Normalbetrieb“ im Gesundheitswesen sei für längere Zeit nicht zu denken, sagt der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes. „Wir erfahren gerade auf drastische Weise, wie wichtig ein starkes Gesundheitswesen ist und vor allem, wie wichtig die Menschen sind, die für unsere Gesundheit arbeiten.“ Kurz vor Ostern macht dann Bundeskanzlerin ­Angela Merkel den Menschen angesichts abflachender Infektionszahlen Hoffnung auf eine Lockerung der Alltagseinschränkungen.

(Stand: 9. April)

CORONA CHRONO: Die Corona-Chronologie geht weiter. Lesen Sie das wöchentliche Update von Thomas Rottschäfer zu den aktuellen gesundheitspolitischen Entscheidungen.

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: Titelfoto Startseite: iStock/superoke