Einwurf

Die richtige Balance finden

Zuhause bleiben, auf soziale Kontakte verzichten – das kann Depressionen verstärken. Psychiater Prof. Dr. Ulrich Hegerl wünscht sich vor diesem Hintergrund eine Diskussion über das Für und Wider Pandemie-bedingter Beschränkungen.

Porträt von Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe Universität Frankfurt am Main

Die Corona-Pandemie hat

in der Bevölkerung zu vielfältigen Sorgen, Ängsten und Belastungen geführt. Nach verbreiteter Ansicht sind die mit dem Infektionsgeschehen einhergehenden psychischen Belastungen Ursache für die Entstehung von Depression, Angststörungen und suizidalen Handlungen. Depression ist jedoch eine eigenständige Erkrankung und weniger eine Folge belastender Lebensumstände. In der Depression werden bestehende negative Lebensaspekte, wie die Corona-Pandemie, aufgegriffen, vergrößert und ins Zentrum gerückt, sodass diese leicht als Ursache fehlinterpretiert werden. Auch mit Corona verbundene Belastungen sind nicht die Ursache für Suizide, sondern die mit einer Depression und anderen psychischen Erkrankungen einhergehende, negativ verzerrte Weltsicht und das dadurch ausgelöste Leiden.

Für depressiv Erkrankte stellt die Corona-Krise jedoch eine besonders schwierige Situation dar. Alles Negative wird verstärkt und katastrophierend erlebt. Es fehlen Energie und Hoffnung, um sich auf die neue Situation einzustellen. Durch die wegfallende Routine besteht die Gefahr, dass die Betroffenen auch tagsüber grübelnd im Bett liegen. Dies ist besonders problematisch, weil eine längere Bettzeit und längerer Schlaf eine Depression verstärken können.

Digitalen Versorgungsangeboten hat die Pandemie einen deutlichen Schub gebracht. Die Mehrzahl der Psychotherapeuten und viele Ärzte nutzen die verbesserten Möglichkeiten von Videosprechstunden. Auch Online-Programme und Apps gewinnen derzeit an Bedeutung. So bietet etwa die Stiftung Deutsche Depressionshilfe mit dem iFightDepression-Tool ein kostenfreies Online-Programm für Menschen mit leichteren Depressionsformen ab 15 Jahren an. Es hilft dabei, eine Tagesstruktur aufzubauen, den Zusammenhang zwischen Schlaf und Depressionsschwere zu verstehen und die Grübelneigung zu reduzieren. Innerhalb weniger Tage meldeten sich über 10.000 Nutzer an.

Trotzdem haben infolge der Corona-Krise die diagnostischen und therapeutischen Defizite für depressiv Erkrankte zugenommen. Beispielsweise wurden planbare Behandlungen verschoben und Ambulanzen und Tageskliniken heruntergefahren, um das Infektionsgeschehen zu dämpfen und Ressourcen für Covid-19-Infizierte freizumachen. Häufig sagen Patienten Sprechstunden ab – wegen übertriebener Infektionsängste oder aus Scheu, die möglicherweise knappen Ressourcen in Anspruch zu nehmen. Im ambulanten Bereich wird sogar über ungenutzte Versorgungskapazitäten berichtet.

Depressiv Erkrankten fehlt die Energie, sich auf die neue Situation einzustellen.

Die Abnahme der Versorgungs­qualität für psychisch erkrankte Menschen birgt das Risiko eines Anstiegs suizidaler Handlungen. In den vergangenen 35 Jahren ist die Zahl der Suizide von rund 18.000 auf 9.200 jährlich zurückgegangen. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sich die Hilfesuche sowie die medikamentöse und psychotherapeutische Versorgung verbessert haben. Dieser Erfolg ist in der Corona-Krise gefährdet. Wenn beispielsweise die schützende Wirkung einer geregelten Arbeit wegfällt, besteht eine erhöhte Gefahr für Suchterkrankung. Infolge der räumlichen Isolation merken Angehörige nicht, wenn es Betroffenen schlechter geht und können keine Hilfe organisieren. Beides kann sich negativ auf die Suizidraten auswirken.

Die Maßnahmen gegen die Pandemie haben das Ziel, das Infektionsgeschehen zu dämpfen, um Tod und Leid als mögliche Folgen einer Überforderung der intensivmedizinischen Versorgung zu verhindern. Gleichzeitig muss jedoch bedacht werden, dass diese Maßnahmen selbst Tod und Leid verursachen, und dies möglicherweise in einem viel größeren Umfang. Die negativen Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen bekommen nicht nur Patienten mit Depressionen, wie hier dargestellt, zu spüren, sondern auch solche mit anderen psychiatrischen und körperlichen Erkrankungen. Eine sachkundige Diskussion über die richtige Balance zwischen Nutzen und Schaden der Maßnahmen für unsere Patienten ist überfällig.

Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe Universität Frankfurt am Main.
Bildnachweis: Stiftung Deutsche Depressionshilfe/Stefan Straube