Interview

„Wir brauchen ein europäisches Robert Koch-Institut“

Die Folgen der Corona-Krise prägen auch die gesundheitspolitische Tagesordnung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Zu den Top-Themen zählen aus Sicht von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Frage der Arzneimittelsicherheit und eine bessere gemeinsame Abwehr von Gesundheitsgefahren.

Herr Minister, auf die Corona-Pandemie haben auch die EU-Staaten mit „nationalen Reflexen“ reagiert. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dieser Erfahrung für künftige Krisen?

Spahn: Was in den letzten Monaten passiert ist, war für uns alle neu und in dieser Dimension nicht vorhersehbar. Wir mussten sehr schnell reagieren und tiefgreifende Entscheidungen treffen. Dafür hatte niemand, kein Land und auch kein EU-Gremium, eine Blaupause. Wir haben sehr früh versucht, einen gemeinsamen europäischen Weg zu finden. Auf meine Initiative hin haben sich die Gesundheitsminister schon Anfang Februar in Brüssel getroffen und erste Beschlüsse gefasst. Eine Erkenntnis aus der Krise ist, dass wir in der Gesundheitssicherheit enger zusammen arbeiten und unsere Reaktionsfähigkeiten auf derartige Krisen gemeinsam verbessern sollten. Darüber werde ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in den Monaten der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sprechen.

Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister

Zur Person

Jens Spahn ist seit März 2018 Bundesgesundheitsminister. Von 2013 bis 2018 war er Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen. Seit 2002 gehört er dem Deutschen Bundestag an.

 

Es gibt bereits einige Forderungen nach einer Aufwertung der EU-Gesundheitspolitik. Wo ist mehr Zusammenarbeit nötig und wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen?  

Spahn: Diese Diskussion ist jetzt in Gang gekommen, die EU-Kommission hat dazu bereits eigene Vorschläge gemacht. Darüber werden wir jetzt gemeinsam sprechen. Wichtig ist mir, dass wir dabei das Subsidiaritätsprinzip beachten. Die Gesundheitssysteme sind verschieden, und deswegen ist Gesundheit auch zu Recht primär in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Wir sollten im Rahmen einer vernünftigen Aufgabenteilung immer dort auf EU-Ebene zusammenarbeiten, wo ein echter Mehrwert für die Bürginnen und Bürger der EU entstehen kann. Das ist ganz sicher in der gemeinsamen Abwehr grenzüberschreitender und globaler Gesundheitsgefahren der Fall. Denn Viren machen nicht vor Grenzen halt. Schon zu Beginn der Epidemie war klar, dass wir das „Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten“ stärken müssen. Das ECDC ist viel zu klein, um in Epidemien wie dieser agieren zu können. Es muss mehr Etat und Möglichkeiten bekommen. Wir brauchen eine Art europäisches Robert Koch-Institut.

Die Krise zeigt auch, wie fragil globale Lieferketten sind, gerade mit Blick auf die Arzneimittelversorgung. Sie wollen die Produktion nach Deutschland und Europa zurückholen. Wie soll das konkret aussehen?

Spahn: Diese Fragen haben mich schon vor Corona umgetrieben. Gerade bei einigen Arzneimitteln gab es in jüngster Vergangenheit aufgrund von Lieferengpässen Anlässe genug. Ich finde: Ob in den Apotheken von Berlin, Warschau oder Paris ein Antibiotikum oder Blutdrucksenker verfügbar ist, sollte nicht in China entschieden werden. Deswegen wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche Debatte über das richtige Maß an Globalisierung. Wir haben auf der einen Seite erheblich profitiert durch eine Vielzahl an Wirkstoffen zu günstigen Preisen. Wenn wir aber Liefersicherheit haben wollen, sollten wir zumindest bestimmte Produkte wieder verstärkt in Europa produzieren. Hierunter sollte auch ein möglicher Corona-Impfstoff fallen. Mit der Förderung von Entwicklung und Produktion können wir Einfluss nehmen. Deshalb ist dieser Themenkomplex eine der Prioritäten unserer Ratspräsidentschaft. Konkrete Vorschläge werde ich mit den Gesundheitsministerinnen und -ministern der anderen Mitgliedstaaten am 16. Juli während des Informellen Ministerrates besprechen.

Die Initiative der EU-Kommission zu einer gemeinsamen Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA) liegt seit fast zwei Jahren im Rat. Bringt Deutschland bis Jahresende diese Kuh vom Eis?

Spahn: Die Verhandlungen des HTA-Dossiers unter kroatischer Ratspräsidentschaft konnten bedingt durch die Corona-Pandemie nicht planmäßig geführt werden. Deshalb konnte Kroatien seine ehrgeizigen Pläne, das Dossier so weit wie möglich voranzubringen, nicht ganz realisieren. Bekanntlich haben wir auch noch einige Streitpunkte, wie etwa die Rolle der EU-Kommission in einem europäischen Nutzenbewertungsverfahren. Umso größer ist natürlich die Erwartungshaltung an die deutsch-portugiesisch-slowenische Trio-Ratspräsidentschaft, dessen bin ich mir bewusst. Für mich ist dieses Dossier weiterhin wichtig und ich werde im Rahmen unserer Möglichkeiten eine zügige Gesetzgebung unterstützen.

Baustelle Digitalisierung: Was wollen Sie während des Ratsvorsitzes tun, um den Aufbau eines europäischen Datenraumes für Gesundheitsdaten voranzubringen?

Spahn: Wir wollen die sensiblen Gesundheitsdaten klug und sicher nutzen. Auf nationaler Ebene haben wir mit der gesetzlichen Etablierung des Forschungsdatenzentrums einen wichtigen Schritt getan. Auch andere EU-Mitgliedstaaten haben entsprechende Datenhubs eingerichtet, um Gesundheitsdaten für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Leider unterscheiden sich hier oft die Rechtsgrundlagen, so dass eine grenzüberschreitende Nutzung von Gesundheitsdaten nicht immer möglich ist. Wir wollen daher mit der EU-Kommission die Grundlagen für einen sicheren europäischen Datenraum schaffen und während unserer Ratspräsidentschaft die Weichen dafür stellen. Gerade in Bereichen wie der Krebsforschung, der personalisierten Medizin und der Bekämpfung Seltener Erkrankungen ist eine Vernetzung von Informationen innerhalb Europas sinnvoll. Der Zugang zu gesundheitsbezogenen Daten soll durch den Gesundheitsdatenraum verbessert und der Austausch erleichtert werden. Dies kann zum Beispiel durch einen „Code of Conduct“ und weitere gemeinsame Maßnahmen erfolgen, die den datenschutzkonformen Datenverkehr in der EU erleichtern.

Thomas Rottschäfer führte das Interview. Er ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: Bundesgesundheitsministerium / Maximilian König