Interview

„Wir brauchen in Europa mehr Zusammenarbeit“

Die Kooperation der europäischen Gesundheitssysteme stärken, Europa bei Arzneimitteln und Impfstoffen unabhängig machen – für den Europaabgeordneten Dr. Peter Liese muss die Staatengemeinschaft angesichts der Corona-Krise gesundheitspolitisch einiges ändern.

Herr Dr. Liese, zu Beginn der Corona-Krise hat Europa keine gute Figur gemacht. Grenzen wurden geschlossen, die Mitgliedsländer haben sich eingeigelt. Wie haben Sie diese Situation als Europapolitiker empfunden?

Peter Liese: Das war schlimm. Ich hatte anfangs die große Sorge, dass Corona und alles was damit zusammenhängt, das Potenzial besitzt, die EU zu spalten und vielleicht sogar zu zerstören, weil einzelne Länder sehr unterschiedlich betroffen waren. Aber mit dem Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“ setzt die EU-Kommission jetzt die richtigen Prioritäten. Wir müssen die Gesundheitssysteme in der EU stärken.

Peter Liese, Europaabgeordneter

Zur Person

Dr. Peter Liese (CDU) ist Arzt und seit 1994 Mitglied des Europaparlaments sowie gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion.

Sie haben mit anderen Europaabgeordneten mehr Kooperation und ein eigenes Gesundheitsbudget gefordert. Jetzt hat Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides mit „EU4Health“ ein 9,4 Milliarden Euro-Programm angekündigt. Zufrieden?

Liese: Das ist der richtige Weg. Wir brauchen in den nächsten Jahren große Gesundheitsinvestitionen, zum Beispiel um Impfstoffe schnell in Europa herstellen zu können. Die Krise zeigt, dass wir in Gesundheitsfragen mehr zusammenarbeiten müssen. Dazu gehört grenzüberschreitende Hilfe, wenn in einzelnen Ländern das Gesundheitswesen überlastet ist – so wie das Deutschland mit der Hilfe für Covid-19-Patienten aus Italien oder Frankreich getan hat. Notwendig sind stabile Netzwerke, die im Krisenfall nicht erst mühsam aktiviert werden müssen.

Wie wird es um die Solidarität bestellt sein, wenn es um die Verfügbarkeit von Covid-19-Impfstoffen geht?

Liese: Wir brauchen überstaatliche Kooperation. Im Zweifel gibt es auf der Grundlage des internationalen TRIPS-Abkommens über den Umgang mit geistigem Eigentum die Möglichkeit, im Fall eines Gesundheitsnotstands Patentrechte über Zwangslizenzen einzuschränken. Ich hoffe, dass wir das nicht brauchen. Aber es gibt dieses Instrument, und wenn wir es in dieser Krise nicht nutzen, dann weiß ich nicht, worauf wir warten sollen.

Deutschland übernimmt am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Ist das eine Chance, auf Eis liegende Projekte wie das gemeinsame Health-Technology-Assessment endlich voranzubringen?

Liese: Die Ratspräsidentschaft wird durch Covid-19 geprägt. Trotzdem hoffe ich, dass wir in der Frage der Gesundheitstechnologiebewertung weiterkommen. Durch bessere Kooperation der HTA-Behörden könnten viele Scheininnovationen schon im frühen Entwicklungsstadium gestoppt werden. Die Lehre aus der Corona-Krise ist ja, dass wir in Europa mehr Kooperation brauchen. Wichtig ist, dass das Europaparlament bei allen anstehenden Entscheidungen und Weichenstellungen durch den Rat und die Kommission eingebunden wird.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will die Frage von Arznei­mittel-Lieferengpässen zum Thema machen. Auch Sie haben sich entsprechend geäußert.

Liese: Wir sollten den Wiederaufbauplan auch dazu nutzen, die Produktion von kritischen Gütern wie Arzneimittel und Schutzmaterial in Europa anzukurbeln. Es ist inakzeptabel, dass wir bei lebenswichtigen Produkten von China und Indien abhängig sind. Aber unabhängig vom Herstellerland ist es vor allem wichtig, dass wir mehrere Produktionsstätten für wichtige Wirk­stoffe bekommen. In der Corona-Krise müssen alle lernen, dass es nicht darauf ankommt, bekannte Lobbypositionen zu wieder­holen, sondern innovativ zu denken und Lösungen zu finden, die man bisher vielleicht für unmöglich hielt, die aber jetzt einfach notwendig sind.

Thomas Rottschäfer führte das Interview. Er ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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