Patientenrechte

Betreuung ist genau zu prüfen

Bei der Einrichtung einer Betreuung darf sich ein Gericht nicht pauschal auf ein gerichtlich angeordnetes Sachverständigen-Gutachten verlassen. Legt die betroffene Person ärztliche Befunde vor, die dem Gutachten widersprechen, ist die gerichtlich angeordnete Betreuung fehlerhaft. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens

Beschluss vom 4. März 2020
– XII ZB 443/19 –

Bundesgerichtshof

Kann ein Mensch

seine Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln und nicht mehr im eigenen Interesse Entscheidungen treffen, ist eine rechtliche Betreuung notwendig. Betreute sind meist psychisch krank, geistig oder körperlich beein­trächtigt oder dement. Manche wurden durch eine plötzliche Erkrankung oder durch einen Unfall aus ihrem bisherigen Leben geworfen. Gesetzliche Betreuungen ordnen Betreuungsgerichte an, die Teil der Amtsgerichte sind. Diese beauftragen Sachverständige wie Psychiater für Gutachten, die klären, ob und wie lange eine Betreuung erforderlich ist. Aber darf sich ein Gericht bei seiner Entscheidung pauschal auf ein von ihm angeordnetes Sachverständigengutachten verlassen? Über diese Frage hatte der Bundes­gerichtshof (BGH) zu entscheiden.

Klinik- und Facharzt-Befunde eingereicht.

Ihm lag der Fall einer heute 84-jährigen Frau vor. Sie war zu Hause gestürzt. Die behandelnde unfallchirurgische Klinik regte eine Betreuung an. Das Amtsgericht holte ein Sachverständigengutachten ein und bestellte eine Berufsbetreuerin. Der Gutachter hatte bei der Frau eine organische Persönlichkeits- und Wesensveränderung festgestellt und eine Betreuung empfohlen. Gegen die Entscheidung des Gerichts legte die Frau Beschwerde beim Landgericht ein. Dabei reichte sie eine notariell beurkundete Vorsorgevollmacht vom 27. November 2018, die drei ihrer Kinder für die Betreuung bevollmächtigte, den Entlassungsbericht einer Klinik für Akutgeriatrie und innere Medizin vom 16. Januar 2019 sowie die Stellungnahme einer Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie vom 27. Juni 2019 ein. Nach persönlicher Anhörung wies das Landgericht die Beschwerde zurück.

Betreuungsgerichte müssen eingereichte ärztliche Befunde berücksichtigen, so die Bundesrichter.

Es vertrat die Auffassung, dass die Frau an einer organischen Persönlichkeits- und Wesensveränderung leide, vermutlich aufgrund von Störungen der Blutversorgung im Gehirn. Sie könne deshalb ihren Willen nicht mehr frei bestimmen. Auch die vom Sachverständigen festgestellte Verwahrlosungstendenz liege angesichts des Zustands ihrer Wohnung offensichtlich vor. Insgesamt bestätige sich der vom Sachverständigen wiedergegebene Eindruck, dass die Frau massiv beeinflussbar und steuerbar sei. Schon deswegen sei eine freie Willensbildung ausgeschlossen.

Angesichts der gesundheitlichen Situa­tion und der Verwahrlosung sei die Betreuung erforderlich. Die an drei ihrer Kinder erteilte Vorsorgevollmacht stünde einer gerichtlich bestellten Betreuung nicht entgegen, da die Frau nach den Feststellungen des Gutachters nicht mehr geschäftsfähig sei. Zudem seien die bevollmächtigten Kinder als Betreuer ungeeignet. Denn diese hätten im Betreuungsverfahren verschwiegen, dass es noch eine weitere Schwester gibt. Zudem hätten die drei Geschwister bei der Schenkung einer elterlichen Immobilie an sie am 27. November 2018 den Notar nicht darüber informiert, dass ihre Mutter bereits unter einer vorläufigen Betreuung stand. Gegen den Gerichtsbeschluss legte die Frau Beschwerde beim BGH ein und hatte Erfolg. Er hob den Beschluss auf und wies den Fall zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurück.

Gutachter untersuchte die Frau nicht.

Zu Recht rüge die Frau, dass die bislang getroffenen Feststellungen nicht den Schluss rechtfertigen, sie könne wegen einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht selbst regeln. Denn das Landgericht habe nicht den Widerspruch zwischen dem Sachverständigengutachten, dem Entlassungsbericht der Klinik und der fachärztlichen Stellungnahme aufgeklärt.

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Während der Ent­lassungsbericht und die fachärztliche Stellungnahme auf medizinischen Untersuchungen der Frau basierten, beruhe das Sachverständigengutachten allein auf einer Begutachtung der Frau in ihrem häuslichen Umfeld. Weder das Gutachten noch die vom Gericht eingeholte ergänzende Stellungnahme zum Entlassungsbericht ließen erkennen, wie der Sachverständige ohne Untersuchungen der hirnversorgenden Gefäße eine organische Störung oder Veränderung diagnostizieren konnte.

Ergänzende Stellungnahme erforderlich.

Im Unterschied zur Stellungnahme des gerichtlich bestellten Sachverständigen lege der Entlassungsbericht der akut­geriatrischen Klinik dar, dass die neuropsychologische Untersuchung der Frau einen weitestgehend altersgerechten kog­nitiven Status ergeben habe. Dieser habe sich sogar gegenüber dem Vorbefund im Juli 2018 verbessert, sodass die Frau in ihre häusliche Umgebung entlassen werden könne. Weder hätte sich der Gerichtssachverständige mit dem Klinikbefund auseinandergesetzt noch das Beschwerdegericht eine weitere ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen ein­geholt – auch nicht zur fachärztlichen Stellungnahme der Neurologin. Diese habe ebenfalls nur eine leichte kognitive Beeinträchtigung diagnostiziert und keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Geschäftsunfähigkeit der Frau gesehen.

Die Auffassung des Landesgerichts, dass die drei bevollmächtigten Kinder als mögliche Betreuer ungeeignet seien, beanstandeten die obersten Zivilrichter indes nicht. Zutreffend sei das Land­gericht davon ausgegangen, dass die bevollmächtigten Geschwister wegen ihres Verhaltens beim Notartermin am 27. November 2018 für die Betreuung nicht geeignet seien. Deren persönliche Unzuverlässigkeit erstrecke sich auf alle Auf­gabenbereiche der Betreuung.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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