Analyse

Kein Weiter so im Medizinbetrieb

Öffentlicher Gesundheitsdienst, Krankenhäuser, Arzneimittel – die Corona-Krise hat Defizite in der Gesundheitsversorgung zutage gefördert. Zugleich überdeckt sie seit Langem bekannte Mängel. Eine Bestandsaufnahme von Hartmut Reiners.

Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern die Covid-19-Pandemie bisher relativ gut bewältigt. Die gesundheit­lichen Folgen der Pandemie und des Lockdowns sind aber noch nicht abschätzbar. Wir wissen nicht, wie sich beispielsweise die auffälligen Rückgänge bei der stationären Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Fälle in der ambulanten Versorgung (je nach Arztpraxis zwischen 25 und 70 Prozent) auswirken werden. Substanzielle Aussagen sind nicht vor Jahresende möglich.

Zwar hat sich in der Pandemie die medizinische Versorgung in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten als stabil erwiesen. Zugleich aber hat die Corona-Krise Defizite unseres Gesundheitswesens sichtbar gemacht, die Experten schon seit Langem bekannt sind. Prävention und Gesundheitsschutz werden stark vernachlässigt. Darauf entfallen seit den 1990er Jahren nur gut drei Prozent der Gesundheitsausgaben. Auch bestehen Mängel vor allem in der Abstimmung und Zusammenarbeit der Versorgungseinrichtungen und bei der Personalausstattung in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Zudem ist die global ausgerichtete Strategie der Pharmakonzerne zu einem gravierenden Problem auch in wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern geworden.

Gesundheitsämter vernachlässigt.

Die Corona-Pandemie hat offengelegt, dass die Bundesländer und die Kommunen den Öffentlichen Gesundheitsdienst über viele Jahre hinweg vernachlässigt haben. Dabei hat der in der Verantwortung der Länder und Kommunen liegende Öffentliche Gesundheitsdienst ein breites Aufgabenspektrum. Es umfasst unter anderem die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, den schulärztlichen und sozialpsychiatrischen Dienst, die Hygienekontrolle in gewerblichen Betrieben und Gaststätten, Umweltmedizin, die Arzneimittelüberwachung und den veterinärmedizinischen Dienst. Hier können Pannen und Überwachungslücken gravierende Folgen haben. Dies haben regionale Skandale immer wieder gezeigt.

Dem Öffentlichen Gesundheitsdienst fehlen Ärzte.

Trotz der personalintensiven Aufgaben mangelt es dem Öffentlichen Gesundheitsdienst an der entsprechenden Ausstattung. Den etwa 400 Gesundheitsämtern stehen nach Angaben des Verbandes der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst nur 17.000 Stellen zur Verfügung, die zudem nicht alle besetzt werden können. Der Bedarf an Ärztinnen und Ärzten ist im Öffentlichen Gesundheitsdienst weit höher als die gegenwärtige Zahl von 2.500 Stellen. Deren Besoldung ist im Vergleich zu Ärztinnen und Ärzten in den Krankenhäusern um 30 bis 50 Prozent niedriger, ganz zu schweigen von den Überschüssen in Arztpraxen. Die sind mit durchschnittlich 170.000 Euro brutto mehr als doppelt so hoch wie die Gehälter der Besoldungsstufen A 14/15, die für Ärztinnen und Ärzte in den meisten Gesundheitsämtern gezahlt werden. Da kann es nicht wundern, dass Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes die einzige Arztgruppe mit rückläufiger Zahl sind.

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Diese Personallücken lassen sich nicht von heute auf morgen schließen. Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Fachkräfte, die man erst noch für den Öffentlichen Gesundheitsdienst gewinnen und ausbilden muss. Daher wird man einige Zeit brauchen, bis der Öffentliche Gesundheitsdienst personell und sachlich so ausgestattet ist, dass er seine Aufgaben angemessen wahrnehmen kann.

Klinik- und Pflegepersonal belastet.

Auch hat die Covid-19-Pandemie die Mängel in der Bekämpfung von Infektionskrank­heiten vor allem in den Krankenhäusern sowie in den Alten- und Pflegeheimen deutlich gemacht. So meldete Mitte Mai 2020 das Robert Koch-Institut, dass etwa sieben Prozent der mit Covid-19 infizierten Menschen in diesen Einrichtungen beschäftigt sind.

Es liegt auf der Hand, dass diese Personengruppe durch Pandemien besonders gefährdet wird. Aber es gab und gibt für sie noch immer keine ausreichende Ausrüstung mit Schutz­kleidung. Eine Umfrage des Marburger Bund hat Mitte Mai 2020 ergeben, dass 38 Prozent des Krankenhauspersonals nicht über einen ausreichenden Schutz mit Masken, Kitteln, Visieren und Handschuhen verfügten. Und eigentlich ist es ein Skandal, dass private Sponsoren mit gespendeter Schutzkleidung für Pflegekräfte in die Bresche springen müssen. Das ist eine öffentliche und keine private Aufgabe.

Bundesweite Teststrategie fehlt.

Große Lücken gibt es auch bei den Covid-19-Tests. Dem Robert Koch-Institut ist nicht bekannt, wie viele dieser Tests bei Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeheimen gemacht wurden. Auch existiert keine bundesweite Teststrategie. Vor allem in der ambulanten Pflege gibt es keine flächendeckenden, kontinuierlichen und prophylaktischen Covid-19-Tests. Mit dem vorhandenen Personal sind die Gesundheitsämter mit dieser Aufgabe überfordert. Die Pandemiepläne der Länder müssen auch in dieser Beziehung neu aufgestellt werden.

Zu viele kleine Krankenhäuser.

Den Lockdown begründete die Politik vor allem mit der Vermeidung einer Überforderung unseres Gesundheitswesens, insbesondere der Krankenhäuser. Nun haben sich diese mit ihren großen Kapazitäten in der Intensivmedizin als sehr robust erwiesen. Am 14. Mai 2020 meldete das bei der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) eingerichtete Intensiv­register 32.502 Intensivbetten mit Beatmungsgeräten und Sauerstoffversorgung. Davon waren zu diesem Zeitpunkt 12.205 nicht belegt.

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Ist also die im Juli 2019 von einer Expertise der Bertelsmann Stiftung festgestellte Überversorgung mit Krankenhäusern und Betten keine Ressourcenverschwendung, sondern eigentlich ein Segen? Der Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum, sieht das jedenfalls so. Im Tagesspiegel vom 23. April 2020 behauptete er, die Covid-19-Pandemie sei im Vergleich zu Ländern wie Italien oder Spanien so gut bewältigt worden, „weil wir auch so viele kleine Krankenhäuser haben. Die Verfügbarkeit in der Fläche ist Gold wert.“

Qualitätsmängel in der stationären Versorgung.

Diese Einschätzung ist jedoch zu hinterfragen. Die Expertise der Bertelsmann Stiftung kam zu dem Ergebnis, dass die im internationalen Vergleich überhöhte Zahl von Krankenhausbetten eine der Ursachen des Mangels an Pflegekräften ist. Das vorhandene Pflegepersonal reiche nicht aus, um die Kapazitäten aller Krankenhäuser angemessen auszustatten. Auch würden zahlreiche Eingriffe von Krankenhäusern durchgeführt, die aufgrund ihrer niedrigen Fallzahlen bei bestimmten Operationen nicht die erforderliche Erfahrung dafür haben. Die Folge seien Qualitätsmängel und Behandlungsfehler. Außerdem gebe es eine hohe Zahl an Fehlbelegungen. Über fünf Millionen stationär behandelte Patienten hätten im Jahr 2017 ambulant versorgt werden können.
 
Die Bertelsmann-Studie verortet die für die gesundheitliche Versorgung nicht erforderlichen kleinen Krankenhäuser weniger in der Fläche, sondern in Ballungsregionen wie dem Ruhrgebiet. So bieten zum Beispiel im 50-Kilometer-Umkreis von Essen etwa einhundert Krankenhäuser Hüftgelenks-Operationen an. Das ist weder medizinisch noch ökonomisch zu verantworten. Hier werden keine notwendigen Kapazitäten vorgehalten, sondern Ressourcen verschwendet – was letztendlich Patienten gefährdet. Dass diese Mängel bestehen, belegt seit Jahren auch der Krankenhaus-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).

Regionale Versorgungsnetze vorgeschlagen.

Nach der Bertelsmann-Expertise geht es nicht um eine generelle Schließung kleiner Krankenhäuser, wie ihre Kritiker unterstellen. Vielmehr plädiert die Studie für eine schrittweise Umstrukturierung der Versorgungslandschaft und schlägt regionale Versorgungsnetze mit leistungsfähigen Krankenhäusern und Medizinischen Versorgungszentren als Ankerpunkte vor, mit denen sich eine umfassende Versorgung auch in dünn besiedelten Regionen gewährleisten lässt. Mit diesem Ziel sollen kleine Kranken­häuser in ambulante beziehungsweise teilstationäre Einrichtungen umgebaut werden.

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Ein solches abgestuftes integriertes Versorgungssystem von Arztpraxen, Medizinischen Versorgungszentren und Krankenhäusern könnte auch Pandemien wie Covid-19 mit den sehr unterschiedlichen regionalen Häufigkeiten und Schweregraden von Erkrankungen effektiver und flexibler bewältigen als das bestehende System mit seiner strikten Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung mit vielen Einzelpraxen und kleinen Krankenhäusern.

Klinikvergütung sorgt für Fehlanreize.

Dass hierzulande so viele Intensivbetten und Beatmungsplätze vorgehalten werden, hat nichts mit der hohen Zahl an kleinen Krankenhäusern zu tun. Dies hängt vielmehr mit Fehlanreizen im stationären Ver­gütungssystem zusammen. In einem Interview mit der Welt (20. April 2020) hat der Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem klargestellt: „Mit künstlicher Beatmung wird richtig viel Geld gemacht. Das ist ein Fehlanreiz des Fallpauschalensystems. Viele Kliniken reizen die Beatmungsmöglichkeiten aus. Wir stehen in der Corona-Krise relativ gut da, weil wir diese Fehlanreize zugelassen und heute viele Beatmungsbetten haben. Das ist pervers, aber das ist so.“

Viele Krankenhausbetten sind keine Garantie für eine bessere Versorgung – auch nicht bei Pandemien. Für die Behandlung von Covid-19-Fällen ist Personal mit speziellen Kenntnissen erforderlich. Dieses aber können nur größere Kliniken vorhalten. Diese wiederum werden, wie Professor Jonas Schreyögg, Gesundheitsökonom und Mitglied des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen, im Wirtschaftsdienst (Nr. 4/2020) feststellt, vom bestehenden System der DRG-Fallpauschalen benachteiligt, das von der Fiktion einer einheitlichen Krankenhausstruktur ausgeht. Es unterscheidet nicht nach Versorgungsstufen und Versorgungsqualität, insbesondere in der Pflege. Die für die dauerhafte Sicherung der Versorgung erforderlichen Vorhaltekosten in den großen Häusern berücksichtigen die DRG nicht ausreichend.

Länder kommen Investitionspflicht nicht nach.

Die Kranken­häuser werden seit Anfang der 1970er Jahre mit einem dualen System von Investitions- und Betriebskostendeckung finanziert. Die Länder sollen die Investitionen finanzieren, während die Krankenversicherungen die laufenden Betriebskosten tragen.
 
Dieses duale Finanzierungssystem funktioniert schon lange nicht mehr. Die Länder haben ihre Fördermittel für die Krankenhäuser in den vergangenen 20 Jahren halbiert. Die dadurch entstehende Lücke in der Investitionsfinanzierung wird aus den Vergütungen der Krankenkassen gestopft. Darunter leiden vor allem die Pflegekräfte. Während die Zahl der in Kranken­häusern arbeitenden Ärzte zwischen 1991 und 2016 um 66 Prozent zunahm, sank die Zahl der Pflegekräfte um fünf Prozent. Die so entstandene Lücke beim Pflegepersonal wird auf 70.000 bis 100.000 Stellen geschätzt.

Hohe Fallzahlen belohnt.

Die Strukturmängel in der stationären Versorgung lassen sich nicht mit einem anderen Entgeltsystem beseitigen. Das heißt aber nicht, dass die DRG-Fallpauschalen so bleiben können, wie sie sind. Sie haben problematische Auswirkungen. Sie belohnen hohe Fallzahlen und die Spezialisierung auf bestimmte Krankheitsbilder und vernachlässigen die Besonderheiten der Patientenklientel eines Krankenhauses und einer Region. Außerdem hat die stetige Verfeinerung der DRG zu einer Abrechnungsbürokratie und Intransparenz geführt, die auch Fachkräfte bindet, deren Arbeitskraft in der Patientenversorgung besser aufgehoben wäre.

Fallpauschalen reformieren.

Deshalb muss über eine Reform des DRG-Systems nachgedacht werden. Dazu gibt es noch kein konsistentes Konzept. In welche Richtung es gehen ­könnte, zeigt das pauschalierende Entgeltsystem für die Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP). Es lässt sich zwar wegen der Besonderheiten der Psychiatrie nicht eins zu eins auf andere Ver­sorgungsbereiche übertragen. Aber es liefert wichtige Hin-weise für eine DRG-Reform. Zum einen hat sich die breite Beteiligung des Klinikpersonals bei der Entwicklung von PEPP bewährt. Zum zweiten bietet PEPP flexible Ansätze zur Berücksichtigung krankenhausspezifischer und regionaler Besonderheiten. Damit verlieren die DRG nicht ihre wichtige Signalfunktion als Benchmarks für die Wirtschaftlichkeit von Krankenhäusern. Sie lösen sich aber von ihrer starren und konfliktreichen Einzelpreisfunktion und bieten Ansätze zur Flexibilisierung der Vergütungen und Budgets.

Pharmabranche in die Pflicht nehmen.

Covid-19 ist die dritte Generation einer Corona-Pandemie. Im Jahr 2003 wurde das Sars-Virus zu einem weltweiten Problem. Es ist viel gefährlicher als Covid-19, hat aber ein geringeres Infektionsrisiko und war deshalb leichter einzudämmen. 2012 trat mit dem Mers-Virus eine weitere Variante von Corona auf, die bis zum heutigen Tag nicht völlig beherrscht ist. Wegen der abnehmenden Zahl von infizierten Menschen verzichtete die pharmazeutische Industrie auf die Weiterentwicklung der mit der Sars-Epidemie begonnenen Arbeit an Impfstoffen und Medikamenten gegen Corona-Viren. Das damit zu machende Geschäft erfüllte ihre Gewinnerwartungen nicht.

Porträt von Achim Kessler, gesundheitspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE

„Solidarischer Umbau des Gesundheitswesens nötig“

Die Kosten der Krise und der Infektionsschutz-Maßnahmen dürfen nicht auf die Versicherten abgewälzt werden, findet Dr. Achim Kessler. Was der gesundheitspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE stattdessen fordert. Zum Statement ...

Das nahm die eigentlich nicht als industriekritisch be­kannte Frankfurter Allgemeine Zeitung zum Anlass, den Pharmakonzernen die Leviten zu lesen (12. März 2020). Vorsorge sei für sie ein „lausiges Geschäftsmodell, wenn es um die steigenden Margen und Aktienkurse geht“. Auch in anderen Bereichen habe die auf Profitmaximierung ausgerichtete Strategie der Pharmaindustrie zu Versorgungsengpässen geführt. Seit Jahren würde sie trotz wachsender Antibiotika-Resistenzen keine ­neuen Wirkstoffe entwickeln, weil damit ihre „unmoralischen Gewinnerwartungen“ nicht zu realisieren seien. Ähnlich ver­halte es sich bei Medikamenten für die medizinische Grundversorgung. Auch sei es schwer erträglich, dass die global agierenden Pharmakonzerne jährlich Hunderte Millionen Dollar in die Taschen von Lobbyisten schleusen, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen sollen. Es stelle sich schon die Frage: „Warum soll der Staat da nicht gleich die Industrie stärker in die Pflicht nehmen?“

Aber wie soll das gehen? Welche Instrumente hat die Politik zur Machtbegrenzung der Pharmaindustrie? Die Regulierung des Arzneimittelmarktes ist in Deutschland eigentlich eine politische Erfolgsgeschichte. Die vor 30 Jahren eingeführten Festbeträge für Arzneimittel mit identischen Wirkstoffen oder vergleichbaren Wirkungen decken mittlerweile 80 Prozent der zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordneten Fertig­arzneimittel ab. Seit Mitte der 2000er Jahre haben die Krankenkassen zudem die Möglichkeit, mit den Herstellern Arznei­mittelrabattverträge zu schließen. Auch wurde den Krankenkassen im Jahr 2010 die Möglichkeit gegeben, im Segment der patentgeschützten Präparate mit den Herstellern die Preise auszuhandeln.

Preisspirale bei Arzneimitteln.

Das alles hat die pharmazeutische Industrie schwer getroffen. Aber sie hat Gegenstrategien entwickelt. 2018 hatten nur 6,4 Prozent der auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen verordneten Arzneimittel von den Herstellern frei festgesetzte Preise. Die aber haben es in sich, wie der Arznei­verordnungs-Report dokumentiert. In diesem Segment stieg der durchschnittliche Preis einer Verordnung zwischen 2008 und 2018 von 163 auf 471 Euro. Die Preise für die 20 teuersten neu auf den Markt gebrachten Medikamente lagen im Jahr 2008 zwischen 3.000 und 23.000 Euro pro Verordnung und beliefen sich zehn Jahre später auf 10.000 bis 320.000 Euro.
 
Das Geschäft mit den Generika haben die großen Pharmakonzerne abgewickelt oder in Tochterfirmen ausgelagert. Die Produktion von Wirkstoffen für Standardpräparate haben sie wenigen Billiganbietern in China und Indien überlassen mit der Folge, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aktuell bei 270 Medikamenten Lieferengpässe fest­gestellt hat.

Porträt von Christine Aschenberg-Dugnus, gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion

„Die Corona-Pandemie wirkte wie ein Brennglas“

Die Corona­krise hat die Schwachstellen des deutschen Gesundheitswesens offen aufgezeigt, sagt Christine Aschenberg-Dugnus. Welche Maßnahmen die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion jetzt für erforderlich hält. Zum Statement ...

Mit nationalen Alleingängen lässt sich diese Geschäftspolitik der Pharmaindustrie nicht eindämmen, zumal von den großen Konzernen nur einer (Bayer) seinen Firmensitz in Deutschland hat. Hier kann nur auf der EU-Ebene vorgegangen werden, indem etwa die Bereitstellung von Wirkstoffen für Medikamente der Grundversorgung geregelt und die Entwicklung von Impfstoffen gefördert wird.  

Krankenkassen unter finanziellem Druck.

Seit 2011 liegen die Krankenkassenbeiträge konstant bei durchschnittlich 15,5 Prozent, inklusive Zusatzbeitrag. Diese Stabilität hängt mit steigenden Löhnen und der Verjüngung der Versicherten­struktur durch die Zuwanderung zusammen. Dieser Trend begann 2019 zu brechen, wo sich nach vorliegenden Schätzungen ein Defizit von circa 1,5 Milliarden Euro ergeben wird. 2020 werden die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) die Beitragseinnahmen deutlich übersteigen – weniger wegen eines durch die Pandemie verursachten Ausgabenschubs als durch die sinkenden Einnahmen infolge der Kurzarbeit und des wirtschaftlichen Einbruchs. Über die Höhe des zu erwartenden Kassen-Defizits lässt sich gegenwärtig nur spekulieren, schon weil die Folgen der Pandemie für die Volkswirtschaft noch nicht genau erfasst werden können.

Mehr Bundesmittel für den Gesundheitsfonds.

Klar ist nur, dass wir erstmals seit der Finanzkrise von 2008/2009 vor einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts stehen. Der wird dem Staatshaushalt sinkende Einnahmen bescheren bei gleichzeitigen öffentlichen Stützungs- und Investitionsprogrammen mit mehrstelligen Milliardensummen. Auch stabile Krankenkassen­beiträge sind nur mit höheren Zuschüssen des Bundeshaushalts in den Gesundheitsfonds zu erreichen. All das geht nicht ohne eine Abkehr der Fiskalpolitik von der „schwarzen Null“.

Private Krankenversicherung an Lasten beteiligen.

Die finan­zielle Lage der gesetzlichen Krankenkassen ließe sich aber auch über eine konsequente Realisierung des Solidaritätsprinzips ver­bessern. Dies würde eine Erhöhung der staatlichen Zuschüsse zum Gesundheitsfonds überflüssig machen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die private Krankenversicherung (PKV) an der Finanzierung der durch die Corona-Pandemie entstehenden Zusatzkosten bei der Ausstattung der Krankenhäuser so gut wie nicht beteiligt wird.

Steigende Ausgaben, schmelzende Einnahmen: Die Corona-Pandemie belastet die Kassen.

Vor allem aber werden durch die Beitragsbemessungsgrenze (aktuell 4.687,50 Euro im Monat) die unteren und mittleren Einkommensgruppen stärker belastet als die Besserverdienenden. Die über diesem Limit liegenden GKV-Mitglieder zahlen mit steigendem Einkommen niedrigere Beiträge. Sie werden mit einer durchschnittlichen Kopfpauschale von 726,56 Euro (15,5 Prozent von 4.687,50 Euro) belastet. Dadurch zahlt ein GKV-Mitglied mit einem Monatseinkommen von 10.000 Euro faktisch einen Beitragssatz von 7,3 Prozent – also noch nicht einmal die Hälfte, die untere und mittlere Einkommensgruppen zu tragen haben.

Versichertenkreis erweitern.

Rein rechnerisch könnte der durchschnittliche GKV-Beitrag um bis zu drei Prozentpunkte sinken, wenn der Versichertenkreis der GKV erweitert und die Beitragsbemessungsgrenze auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau von 6.900 Euro angehoben würden. Es ist schon seltsam, wie sich Politiker und Wirtschaftsverbände um diesen Sach­verhalt herumdrücken und krampfhaft am ökonomisch nicht zu begründenden dualen System von GKV und PKV festhalten. Aber dann sollten sie auch nicht über zu hohe Sozialabgaben klagen. Die wären bei einem einheitlichen Krankenversicherungssystem deutlich niedriger. Das Solidaritätsprinzip der Sozialversicherung ist keine verzichtbare Wohltat des Staates, sondern Ausdruck ökonomischer Vernunft.

Hartmut Reiners ist Gesundheitsökonom und Publizist.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: Karin Maag, Benno Kraehahn, Maria Klein-Schmeink, Die Linke, FDP