Psychisch und physisch erschöpft: Viele pflegende Angehörige sind am Ende ihrer Kräfte und wünschen sich mehr Unterstützung.
Report

Angehörige bei Pflege oft am Limit

Bei der ambulanten Pflege müssen die meisten Betroffenen keine so hohen Summen aus eigener Tasche zahlen wie Bewohner von Heimen. Dafür ist der zeitliche Aufwand von Angehörigen enorm, wie der neue Pflege-Report zeigt. Von Thorsten Severin

Nach aktuellen Zahlen

werden drei Viertel der 3,4 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland zu Hause gepflegt. Zumeist geschieht dies durch Angehörige oder andere nahestehende Personen. Im Rahmen der Erhebung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zu den finanziellen und zeit­lichen Eigenleistungen wurden im vergangenen Dezember und Januar 1.106 Hauptpflegepersonen ab 18 Jahren befragt. Ausgewählt wurden sie aus dem forsa.omninet-Panel, das rund 75.000 Teilnehmer umfasst.  

Ambulant zahlt jeder Vierte zu.

Schon vor dieser Untersuchung war bekannt, dass im vierten Quartal 2019 in der vollstationären Pflege im Bundesdurchschnitt 775 Euro an monatlichen Eigenanteilen für Pflege und Betreuung anfielen. Die hohe Belastung führt immer wieder zu hitzigen politischen Diskussionen etwa über einen Sockel-Spitze-Tausch. Doch bislang lagen kaum Daten für die privaten Aufwendungen in der ambulanten Pflege vor. Die WIdO-Studie geht dem nun auf den Grund und kommt zu dem Ergebnis, dass in der ambulanten Pflege nur jeder Vierte (25 Prozent) selbst Geld aufwenden muss. In diesem Fall liegen die Beträge im Schnitt bei rund 250 Euro im Monat, was als überschaubar gilt.

K. Jacobs, A. Kuhlmey, S. Greß, J. Klauber, A. Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2020. Neuausrichtung von Versorgung und Finanzierung. Springer-Verlag, Heidelberg. Kostenloser Download

Auch Haushalte, die Sachleistungen wie einen Pflegedienst, Tagespflege, Kurzzeit- und Verhinderungspflege nutzen, sind lediglich zu knapp 40 Prozent von Eigenanteilen betroffen. Sie zahlen dann im Schnitt etwa 200 Euro pro Monat, wie Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege des WIdO, erläutert. Doch ist dabei zu differenzieren: Während jeder dritte Nutzer von Pflegediensten (32,9 Prozent) angibt, zusätzlich private Kosten zu übernehmen, so ist dies bei Nutzern der Tagespflege fast jeder Zweite (46,8 Prozent).
 
Zudem ist zu beachten, dass hinter dem Durchschnittswert aller Zuzahlungen von 250 Euro sich dennoch teils starke Belastungen für Einzelne verbergen. Das Zehntel der Betroffenen mit der niedrigsten Zuzahlung zahlte zwar nur maximal 35 Euro, das Zehntel mit der höchsten Zuzahlung hingegen mindestens 604 Euro. Solche hohen finanziellen Belastungen fallen vor allem bei Haushalten mit Demenzkranken und Menschen mit einem hohen Pflegegrad an.

Hoher eigener Pflegeaufwand.

Während sich der finanzielle Eigenanteil für den überwiegenden Teil der Betroffenen in der ambulanten Pflege also in Grenzen hält, leisten die Befragten jedoch erhebliche Eigenbeteiligungen in Form von Pflege, Betreuung und Haushaltsführung. Im Mittel geben die Haushalte einen täglichen Pflege- und Betreuungsbedarf von 8,6 Stunden an. Rund sechs Stunden und damit fast drei Viertel (71,2 Prozent) erbringt die Hauptpflegeperson. Freunde und andere nicht bezahlte Personen wie Verwandte und Nachbarn decken weitere 1,5 Stunden (17 Prozent) des Unterstützungsbedarfs ab. Nur 0,7 Stunden und damit weniger als ein Zehntel werden im Schnitt durch Pflegedienste oder in Form anderer Sachleistungen der Pflegeversicherung erbracht.

Zum Teil zehn Stunden Pflege am Tag.

Die meisten Unterstützungsstunden im Alltag entfallen auf die Bereiche „Körperpflege, Ernährung und Mobilität“ sowie auf „Betreuung und Beschäftigung im Alltag“. Der Zeitaufwand für die selbst übernommene Pflege ist dabei ungleich verteilt, wie Schwinger betont. Während die Hälfte der pflegenden Angehörigen rund vier Stunden und weniger pro Tag pflegt, leisten 25 Prozent der Haushalte mindestens 7,6 Stunden. Haushalte, in denen Demenzkranke oder Personen mit einem Pflegegrad 3 oder höher leben, weichen deutlich vom Durchschnitt nach oben ab. Hier leistet ein Viertel der betroffenen Haushalte rund zehn Stunden Pflege am Tag. Jeder zehnte dieser Haushalte gibt sogar Pflegezeiten von 20 Stunden und mehr pro Tag an.

Die Haupt-Pflegeperson deckt von 8,6 Stunden Pflege und Betreuung fast drei Viertel ab. Pflegedienste leisten nur 0,7 Stunden.

Die subjektive Belastung der Pflegepersonen wurde mit Hilfe der „Häus­lichen-Pflege-Skala“ (HPS) erfasst, die unter anderem Fragen zu körperlicher Erschöpfung, Lebenszufriedenheit und psychischer Belastung beinhaltet. Für knapp 26 Prozent aller befragten Pflegepersonen ergab sich danach eine „hohe Belastung“. Für 43 Prozent wurde eine mittlere Belastung festgestellt, nur bei knapp 31 Prozent der Pflegenden ist sie niedrig. Bei Angehörigen, die Menschen mit Demenz versorgen, zeigte sich bei einer anderen Untersuchung sogar bei knapp 37 Prozent eine hohe Belastung. Dass jeder vierte Befragte eine hohe subjektive Belastung angebe, sei bemerkenswert, sagt Schwinger. „Frühere Befragungen zeigten hier wesentlich geringere Anteile. Auch wenn die Befragungen unterschiedliche methodische Zugänge aufweisen, wirft dies Fragen auf, was den Erfolg der Reformbemühungen in den letzten Jahren angeht.“

Wunsch nach Unterstützung.

Die Hauptpflegepersonen wurden im Rahmen der Studie gefragt, wie sie sich insgesamt bei der Pflege unterstützt fühlen. 45 Prozent gaben diesbezüglich „eher gut“ bis „sehr gut“ an. Doch jeder fünfte Befragte (22,3 Prozent) fühlt sich bei der Bewältigung der Pflege „eher nicht gut“ oder „überhaupt nicht gut“ unterstützt. In der WIdO-Befragung von 2015 lag der positive Wert mit 65 Prozent noch deutlich höher und der negative Wert niedriger. Jeder Vierte (24,9 Prozent) gab zudem an, die Pflegesituation nicht mehr oder nur unter Schwierigkeiten bewältigen zu können. Die Einschätzung fällt bei den Hochbelasteten mit 49,4 Prozent besonders negativ aus. Aber auch rund jede dritte Hauptpflegeperson, die einen Menschen mit Demenz (33,9 Prozent) oder mit hohem Pflegegrad (31,6 Prozent) pflegt, äußert sich entsprechend.

Die unterschiedlichen Bedarfslagen sind bei der ambulanten Pflege stärker in den Blick zu nehmen.

Fast die Hälfte aller Befragten würde sich bei Körperpflege, Ernährung und Mobilität, bei der Betreuung und Beschäftigung im Alltag und der Führung des Haushalts mehr Unterstützung wünschen. Bei pflegenden Angehörigen, die hoch belastet sind, liegt der Wunsch nach Unterstützung in den genannten Bereichen sogar bei 75 Prozent. Die Situation in der ambulanten Pflege sei nicht zufriedenstellend, schlussfolgern die Autoren aus den Ergebnissen. Das gelte „aber nicht insgesamt, sondern vor allem für Haushalte mit spezifischen Bedarfskonstellationen“. Schwinger merkt an: „Die Leistungsangebote der Pflegeversicherung sind in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut und flexibler gestaltet worden. Trotzdem ist jede vierte Person, die einen Angehörigen zu Hause pflegt, durch die Pflege insgesamt hoch belastet.“

Hilfen an Bedarf orientieren.

Die Mit­herausgeberin des Pflege-Reports fügt hinzu: „Es greift zu kurz, bei der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung nur über eine Begrenzung der Eigenanteile für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen zu sprechen.“ Auch in der häuslichen Pflege gebe es erhebliche Belastungen, auch wenn diese nicht in erster Linie finanzieller Art seien, sondern in der zeitlichen und emotionalen Belastung der für die Pflege zuständigen Personen lägen. „Deshalb müssen wir auch in der ambulanten Pflege die individuell sehr unterschiedlichen Bedarfslagen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen stärker in den Blick nehmen“, fordert die WIdO-Expertin. Leistungen und Hilfen müssten noch stärker differenziert und gezielt den Haushalten gewährt werden, die einen besonders hohen Bedarf hätten oder sich gar in einer Krisensituation befänden. Ein gezielterer Einsatz der Mittel sei auch angesichts des enger werdenden Finanzierungs-Spielraums der Pflegeversicherung dringend geboten.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
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