Einwurf

Corona trifft Arme härter

Das Risiko, sich mit Sars-Cov-2 zu infizieren, ist für Menschen in prekären Lebenslagen höher, sagt Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge. Zugleich verstärken die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie soziale Verwerfungen.

Porträt von Christoph Butterwegge, Armutsforscher

Vor einem Virus

sollten eigentlich alle Menschen gleich sein. Bezüglich der Infektiosität von Coronaviren stimmt dies auch, im Hinblick auf das Infektionsrisiko jedoch nicht. So trifft die Covid-19-Pandemie zwar alle Menschen in Deutschland, aber keineswegs alle gleichermaßen. Je nach Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen und Gesundheitszustand sind sie vielmehr unterschiedlich betroffen. Selbst in einer wohlhabenden Gesellschaft wie unserer gilt: Wer arm ist, muss eher sterben. Das bestätigt sich erneut während der Corona-Pandemie. So zeigt beispielsweise eine aktuelle Studie unter Leitung des Düsseldorfer Medizinsoziologen Nico Dragano einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Unterschieden und der Häufigkeit von schweren Verläufen einer Coronainfektion.

Mit den bakteriell ausgelösten Epidemien, die Deutschland im 19. Jahrhundert heimsuchten – Cholera, Tuberkulose und Typhus –, hat die Covid-19-Erkrankung gemeinsam, die Immun- und Einkommensschwächsten am stärksten zu treffen. Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Fettleibigkeit, Asthma, Diabetes, Rheuma oder Raucherlunge, schlechte Arbeitsbedingungen sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für eine Infektion mit Sars-CoV-2 beziehungsweise für einen schweren Krankheitsverlauf.

Die Covid-19-Pandemie macht das Phänomen der Ungleichheit sichtbar.

Die ökonomische, soziale und politische Ausnahmesituation der von zahlreichen Verwerfungen begleiteten Covid-19-Pandemie hat das Phänomen der Ungleichheit wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht. Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erkennbar, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen, die Bundesrepublik sei eine klassenlose Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit aller Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.

Durch wochenlange Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen und Einrichtungsschließungen wurde die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der ärmsten Menschen, wie beispielsweise Bettler, Pfandsammler und Verkäufer von Straßenzeitungen, zerstört, weil fehlende Passanten und die Furcht der verbliebenen davor, sich zu infizieren, manchmal zum Totalausfall der Einnahmen führten. Die finanzielle Belastung dieser Menschen nahm durch die Schließung der meisten Lebensmitteltafeln weiter zu. Aufenthaltsbeschränkungen und Abstandsregelungen förderten tendenziell ihre Vereinsamung und soziale Isolation.
 
Zu den Hauptleidtragenden der Covid-19-Krise gehören beispielsweise Obdach- und Wohnungslose sowie andere Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdiener, Kleinstrentner und Transferleistungsbezieher. Die durch das Coronavirus bewirkte Zerstörung von Lieferketten und Vertriebsstrukturen, der Verlust von Absatzmärkten sowie die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen zur Folge.
 
Die mit Verzögerung einsetzende Rezession verschärft prekäre Existenzbedingungen noch. Einerseits blieben Kurzarbeit für rund sieben Millionen Beschäftigte, Insolvenzen kleinerer und mittlerer Unternehmen sowie Entlassungen, zum Beispiel in der Gastronomie, der Touristik und der Luftfahrtindustrie, nicht aus. Andererseits realisierten Großkonzerne krisenresistenter Branchen, wie zum Beispiel Lebensmittel-Discounter, Drogeriemärkte, Versandhandel, Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie, in der Coronakrise sogar Extragewinne. Jetzt sind die politisch Verantwortlichen gefordert, einen sozialen Ausgleich zu schaffen und vor allem Bedürftige stärker als bisher zu unterstützen, damit sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht noch weiter vertieft.

Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und ist Mitglied der dortigen Forschungsstelle für interkulturelle Studien. Zuletzt ist sein Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ erschienen.
Bildnachweis: Markus J. Feger