Arzneimittel

Europas Ringen um zivile Preise

Die Europäische Kommission will bis Jahresende eine Pharmastrategie vorlegen. Dabei geht es vor allem um den Markt der patentgeschützten Medikamente. Die Hochpreispolitik der Hersteller bereitet den EU-Staaten zunehmend Probleme. Evert Jan van Lente und Thomas Rottschäfer skizzieren die Situation.

Bisher spielt die gemeinsame Gesundheitspolitik in der Europäischen Union (EU) eine unter­geordnete Rolle. Trotz der Corona-Krise wollen die 27 Mitgliedstaaten ihre Gesundheits- und Sozialsysteme weiter gegen mehr Einfluss aus Brüssel und Straßburg abschotten. Das gilt auch für die Politik der deutschen Bundesregierung, die noch bis zum Jahresende die EU-Ratspräsidentschaft ausübt.

Das Bestehen auf nationaler Zuständigkeit ist zunächst nachvollziehbar: Die EU-Länder geben im Durchschnitt fast zehn Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Gesundheit aus. Die Versorgung der Bevölkerung durch Krankenhäuser, Ärzte und andere Leistungserbringer ist auch deshalb ein wichtiges innenpolitisches Thema.

Immer höhere Preise für neue Medikamente.

Doch die Covid-19-Pandemie zeigt, dass eine intensivere Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen sinnvoll und notwendig ist. Das betrifft vor allem auch die Arzneimittelpolitik und hier insbesondere den Markt für patentgeschützte Präparate.

Immer höhere ­Preise für neue Medikamente und die Verfügbarkeit innovativer Arzneimittel sind eine Herausforderung, vor der alle Mitgliedstaaten stehen. Die Pharmaindustrie ist global aufgestellt und spielt in der Preispolitik einzelne Länder gegeneinander aus. Zudem funktioniert der Arzneimittelmarkt für neue patentgeschützte Produkte grundsätzlich nicht so, wie es aus gesamtgesellschaftlicher Sicht wünschenswert wäre: Pharmazeutische Unternehmen verfügen durch Patente und andere Schutzmechanismen oft über eine Monopolposition und streben wie alle privatwirtschaftlichen Unternehmen nach maximalem Gewinn. Sie setzen ihre Ressourcen vorrangig für solche Produkte ein, die den größten Profit versprechen.

Forschung mit öffentlichen Geldern finanziert.

Besonders negativ wirkt sich das im Bereich der Antibiotika aus. Nach einer neuen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) sind in den vergangenen zehn Jahren weltweit nur acht neue Antibio­tika-Wirkstoffe auf den Markt gekommen. Pharmahersteller haben wenig Interesse, in die Entwicklung eines Antibiotikums zu investieren, das dann erst einmal als Reserveantibiotikum eingesetzt wird und in der Tiermedizin voraussichtlich gar nicht zum Einsatz kommen soll. Auch die Arzneimittelentwicklung im Bereich sehr seltener Erkrankungen oder speziell für Kinder ist aus Sicht der Branche wenig lukrativ. Eine im August von der EU-Kommission veröffentlichte Evaluation der Verordnungen für seltene Erkrankungen und für Kinder-Arzneimittel belegt, dass die Hersteller die darin gebotenen Forschungsanreize durchaus genutzt und mehr Medikamente entwickelt haben – aber ausgerechnet gerade nicht in den Be­reichen, wo sie am dringendsten benötigt werden.

Eine engere Kooperation ist dringend geboten, um Patienten mit bezahlbaren Arzneimitteln zu versorgen.

Die Situation ist höchst unbefriedigend: EU und Einzel­staaten fördern mit öffentlichem Geld die Grundlagenforschung an ihren Universitätskliniken, während die Industrie später die Gewinne einfährt. Die Bürger zahlen somit zweimal: erst über die Steuern und später über den Preis des Medikaments.

Gemeinsame Pharmastrategie in Arbeit.

Ein möglichst geschlossenes Auftreten der EU gegenüber den internationalen Konzernen beschäftigt die Gemeinschaft deshalb schon seit einigen Jahren. 2016 haben die Staats- und Regierungschefs der EU auf Initiative der niederländischen Ratspräsidentschaft ein Posi­tionspapier zur „Verstärkung der Ausgewogenheit der Arzneimittelsysteme in der EU“ verabschiedet. Darin wurde unter anderem eine engere freiwillige regionale Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten im Bereich der Preisgestaltung und Erstattung von Arzneimitteln angeregt.

Die Kommission erhielt den Auftrag, die EU-Verordnung zu seltenen Erkrankungen zu über­arbeiten, mögliche Innovationsanreize für die Pharmaunter­nehmen zu prüfen und Vorschläge für mehr Kostentransparenz zu erarbeiten. 2017 verabschiedete dann auch das Europäische Parlament eine Entschließung, in der ein besserer Zugang zu erschwinglichen Arzneimitteln in allen Mitgliedstaaten thematisiert wird. Nach zwei Jahren Stillstand hat die Kommission im Juni dieses Jahres eine „EU-Pharmastrategie“ bis Ende 2020 angekündigt, in der die genannten Initiativen und Aufträge zusammenlaufen sollen. Als amtierender Vorsitzender des Rates der EU-Gesundheitsminister (EPSCO) möchte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Kommissionsvorschlag möglichst schon zur EPSCO-Sitzung am 2. Dezember auf den Tisch bekommen. Spahn will auch mögliche Maßnahmen zur Arzneimittel-Liefersicherheit, Strategien zum Zurückholen von Pharmaproduktion nach Europa und den von EU-Gesundheitskommis­sarin Stella Kyriakides auf den Weg gebrachten EU-Plan zur Krebsbekämpfung in diese Pharmastrategie einbinden. Die notwendigen Neufassungen der Verordnungen für seltene Erkrankungen und für Kinder-Arznei­mittel wird Stella Kyriakides aber voraussichtlich erst im nächsten Jahr vorlegen können.

Viele Medikamente unbezahlbar.

Aus Sicht der Kostenträger geht es vorrangig darum, dass auch künftig alle Patienten Zugang zu hochwertigen und effektiven Arzneimitteln erhalten, aber gleichzeitig eine effiziente Ressourcenverwendung sichergestellt wird. Denn die Preise scheinen keine Grenzen nach oben zu kennen. In vielen EU-Staaten stehen neue Medikamente deshalb zwar grundsätzlich zur Verfügung. Aber die Patienten erhalten die Therapie nicht, weil sie für das Gesundheitssystem unbezahlbar sind. Lange konnten die Arzneimittelausgaben für neue Medikamente durch eine effektive Umstellung auf Nachahmerprodukte (Generika) nach Patentablauf oder durch Rabattverträge und andere regulatorische Maßnahmen relativ stabil gehalten werden. Diese Maßnahmen werden aber nicht mehr ausreichen, um die dynamische Entwicklung im patentgeschützten Markt zu kompensieren. Eine engere EU-Kooperation ist deshalb dringend geboten.

Europa geht bei der Zulassung einheitlich vor.

Bei Zulassung und Arzneimittelsicherheit funktioniert die Zusammenarbeit bereits seit 25 Jahren. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) in Amsterdam ist für Zulassung und fortlaufende Überwachung der meisten Medikamente innerhalb der EU, aber auch für die Partner-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein zuständig. Davon profitieren auch die Pharmahersteller, die eine Marktzulassung nicht in allen Ländern gesondert beantragen müssen. Die Fragen, ob ein neues Arzneimittel vom öffentlichen System erstattet wird und welche Preise für Medikamente bezahlt werden, liegen dagegen in der jeweils nationalen Zuständigkeit und werden höchst unterschiedlich beantwortet.

Bei Nutzenbewertung weit auseinander.

So ist Deutschland das einzige EU-Land, das den pharmazeutischen Unternehmen die Preiserstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) direkt nach Marktzulassung garantiert – unabhängig von der Bewertung im sogenannten Health-Technology-Assessment (HTA). Im ersten Jahr der Markteinführung eines neuen Arzneimittels kann der Hersteller hierzulande den Preis frei festlegen. Erst nach einem Jahr greift ein Preis, der den Zusatznutzen des neuen Medikamentes gegenüber der Vergleichs­therapie berücksichtigt.

Bis Jahresende will die EU-Kommission ihr Konzept für eine EU-Pharmastrategie vorlegen. Dabei geht es um mehr Arzneimittel-Liefersicherheit, um bezahlbare neue Medikamente und neue Ideen für das Fördern von Pharmaforschung im Bereich seltener Erkrankungen und Kinder-Arzneimittel. Auch das EU-Krebsprogramm und der Kampf gegen Antibiotikaresistenzen sollen einfließen.
 
 Weitere Informationen zur EU-Pharmastrategie

Andere Staaten ziehen für ihre Erstattungsentscheidung auch die eigene HTA-Bewertung heran. HTA spielt damit eine Schlüsselrolle, wenn es um die Preise von neuen Arzneimitteln geht. Die EU-Kommission hat deshalb Anfang 2018 einen Vorschlag für eine intensivere HTA-Zusammenarbeit auf EU-Ebene vorgelegt. Das Ziel: Beschleunigung und Harmonisierung der Arzneimittel-Bewertung als Grundlage für bezahlbare Preise in der EU. Das Europäische Parlament hat diesen Vorstoß grundsätzlich begrüßt, aber eine Reihe von Verbesserungs­vorschlägen verabschiedet. Das Parlament lehnt unter anderem eine zu stark dominierende Rolle der EU-Kommission ab.

Gemeinsame Position nicht zu erwarten.

Die Mitgliedstaaten konnten sich im Europäischen Rat bisher nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Die Ambition von Bundesgesundheitsminister Spahn, noch während der deutschen Ratspräsidentschaft die Zustimmung des Rates zu einem Gesamttext zu bekommen, wird sich – Corona-bedingt – wahrscheinlich nicht realisieren lassen. Deutschland wird voraussichtlich nur einen „Fortschrittsbericht“ zur EPSCO-Tagung im Dezember vorlegen können.
 
Damit muss das Verfahren 2021 auf Ratsebene fortgeführt werden, bevor es zum abschließenden Trilog zwischen Parlament, Rat und Kommission kommen kann. Anders als von der Kommission ursprünglich vorgeschlagen, wird es eine Einigung aber wohl nur geben, wenn die EU-HTA-Vereinbarung den Nationalstaaten die Möglichkeit lässt, zusätzlich weiter eigene Bewertungen vorzunehmen. Das ist auch die Position Spahns und des Gemeinsamen Bundesausschusses, der nicht hinter die hohen Standards in Deutschland zurückfallen will. Die Hoffnung, dass sich über ein gemeinsames HTA-Verfahren auch einheit­liche und schnellere Erstattungs- und Preisentscheidungen realisieren lassen, ist aber unrealistisch.

Beschleunigte Zulassung birgt Risiken.

Eine unsichere Datenlage zum Zeitpunkt der Marktzulassung durch die EMA sorgt für Unsicherheit, was den Zusatznutzen und die Risiken eines neuen Medikamentes anbelangt. Die Rechtfertigung für eine Marktzulassung beruht auf einer Abwägung von Risiko und Nutzen. Patienten soll ein neues Medikament in Bereichen, in denen es keine gute Therapie-Option gibt, nicht durch das Warten auf abschließende Ergebnisse großer Studien vorenthalten werden. So kommen inzwischen durch beschleunigte Zulassungen oft Gentherapien auf den Markt, ohne dass bereits Langzeiteffekte bekannt sind. Das macht die Bewertung des Zusatznutzens oft unmöglich.

Marktmacht ermöglicht Mondpreise.

Die Preispolitik der Pharmaindustrie hat den Bezug zu Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionskosten verloren. Die Unternehmen argumentieren mit dem „Wert“ des Arzneimittels, der aber wegen der unsicheren Datenlage zum Zeitpunkt der Zulassung noch nicht festgestellt, geschweige denn quantifiziert werden kann. Durch ihre Marktmacht können die Hersteller Preise verlangen, die völlig überzogen sind und den Zugang zu neuen Arzneimitteln in vielen Ländern verhindern.

Kostenträger frühzeitig einbinden.

Um der Unsicherheit hinsichtlich des Zusatznutzens und der Sicherheit zu begegnen, zeigt sich die EMA inzwischen offen für eine möglichst frühe Einbindung der Kostenträger und nationalen HTA-Institute in die Zulassungsprozesse. Es geht dabei um die Frage, welche Studien Hersteller vorlegen müssen und für welche Produkte beschleunigte Verfahren angemessen sind. Kostenträger und HTA-Institute könnten so eine bessere Datengrundlage für ihre Entscheidungen erhalten. Der frühe Dialog (Early Dialogue) zwischen EMA, Herstellern, HTA, Patientenorganisationen und Kostenträgern kann dazu beitragen, dass innovative Produkte schneller hinsichtlich ihres Zusatznutzens bewertet werden können.

Verbindlichen Rahmen für Preisbildung festlegen.

Im Rahmen der Pharmastrategie hat die EU-Kommission jetzt die Chance, wichtige Weichenstellungen vorzunehmen. Sie kann einerseits die Zusammenarbeit aller Institutionen bei der Evidenzgewinnung voranbringen. Andererseits kann und sollte die Kommission einen verbindlichen Rahmen mit objektiven Kriterien zur Preisbildung festlegen, um Mondpreise zu verhindern. Innerhalb dieses Rahmens könnten die Einzelstaaten dann nationale Preise festlegen und nach oben begrenzen.
 
Der AOK-Bundesverband wird sich gemeinsam mit seinen Partnerorganisationen auf EU-Ebene in den anstehenden Gesprächen mit der Brüsseler Kommission für einen solchen Rahmen stark machen. Zusätzlich können auch das Fördern regionaler Kooperationen oder einer gebündelten Nachfrage durch gemeinsame Preisverhandlungen mehrerer Staaten die Position der Kostenträger gegenüber der Monopolstellung einzelner Pharmaunternehmen stärken.

Evert Jan van Lente ist Ständiger Vertreter der AOK in Brüssel.
Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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