Thema des Monats

Rezepte gegen Arznei-Engpässe

Wer krank ist, geht davon aus, dass die notwendigen Medikamente erhältlich sind. Doch immer wieder gibt es Lieferschwierigkeiten. Was die Gründe dafür sind und was dagegen zu tun ist, skizziert Christine Hopfgarten.

Die Corona-Pandemie hat das Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen gestellt. Zugleich machte sie dessen Stärken und Schwächen deutlich. So fehlte beispielsweise Schutzkleidung für medizinisches Personal. Daraus müssen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Dies gilt auch für die Arzneimittelversorgung. Denn das Thema Liefersicherheit ist nicht erst durch die Pandemie ins Blickfeld geraten. Bereits mit dem im Februar dieses Jahres in Kraft getretenen Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) hat der Gesetzgeber erste Schritte unternommen, um die Versorgungssicherheit zu stärken. Dabei wurde in erster Linie die Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gestärkt.

Regelmäßiger Austausch über Verfügbarkeit.

Der dort tagende Jour Fixe zu Lieferengpässen wurde von einem Austausch mit der Industrie zu einem Beirat weiterentwickelt, in dem mit dem GKV-Spitzenverband zum ersten Mal auch die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland mit am Tisch sitzen (siehe Kasten: „Aufgaben des Beirats“). Bei drohenden Engpässen kann das BfArM künftig bei den Unternehmen der Pharmaindustrie und beim Großhandel Daten zu Absatzmengen verlangen sowie eine Kontingentierung oder Lagerhaltung von Arzneimitteln mit versorgungskritischen Wirkstoffen veranlassen. Welche dazu gehören, wird in einer Liste veröffentlicht. Auch Informationen über gemeldete Engpässe sollen im Internet öffentlich zugänglich sein. Bei versorgungskritischen Wirkstoffen können eine regelmäßige Datenübermittlung verlangt und bei Nicht-Meldung Bußgelder verhängt werden. Bereits seit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) von 2017 sind die pharmazeutischen Unternehmen verpflichtet, vorhersehbare Lieferengpässe bei bestimmten Arzneimitteln an die Krankenhäuser zu melden.

Im Video-Interview: Monika Lersmacher, Vorsitzende des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg, Versichertenvertreterin

Das BfArM hat während der Pandemie den Takt der regelmäßigen Jour Fixe zur Liefersicherheit erhöht, und der mit dem GKV-FKG eingesetzte Beirat tagte auch bereits ein erstes Mal Ende Juli 2020. Dabei wurde beschlossen, die Versorgungslage einzelner Arzneimittel, insbesondere von denen, die in der Krankenhausversorgung benötigt werden und bei denen zeitweise Lieferschwierigkeiten bestanden, weiterhin engmaschig im Blick zu behalten, auch wenn aktuell keine eingeschränkte Verfügbarkeit besteht. Zu nennen sind hier vor allem Propofol (Narkosemittel), Midazolam (Schlafmittel, Einsatz bei medizinischen Eingriffen) und Sufentanil (Schmerzmittel). Diese werden gerade in Pandemie-Zeiten dringend benötigt. Die Versorgung mit Heparin (Gerinnungshemmer) wird wegen der weiterhin grassierenden Afrikanischen Schweinepest in China beobachtet. Aktuell liegen hierzu aber noch keine Meldungen über Engpässe vor.

Engpässe bei einem Bruchteil der Medikamente.

Analysen vor der Pandemie haben gezeigt, dass bei rund 98 Prozent der Arzneimittel im generischen Markt Liefersicherheit besteht, zugleich aber immer wieder über Lieferschwierigkeiten bei einzelnen Präparaten berichtet wird. Dies führt dann zu Versorgungsproblemen, wenn Liefereinschränkungen solche Wirkstoffe oder besondere Darreichungsformen betreffen, die ein Alleinstellungsmerkmal aufweisen und nicht adäquat ersetzt werden können. Darüber wird vor allem im Krankenhausbereich berichtet und betrifft oftmals Wirkstoffe zur Krebstherapie oder Antibiotika. Auch kann medizinischer Mehrbedarf zu Lieferengpässen führen, zum Beispiel bei Grippewellen oder durch Ereignisse wie die Corona-Pandemie.

Lieferschwierigkeiten treten meist produktionsbedingt auf, beispielsweise durch den Ausfall von Maschinen oder ganzer Fabriken. Auch können Wirk- und Hilfsstoffe knapp sein oder nicht den Qualitätsanforderungen entsprechen. Zu Versorgungsproblemen führt dies, wenn Liefereinschränkungen Wirkstoffe oder Darreichungsformen betreffen, die ein Alleinstellungsmerkmal aufweisen und sich nicht adäquat ersetzen lassen. Darüber wird vor allem im Krankenhausbereich berichtet, etwa bei Wirkstoffen zur Krebstherapie oder Antibiotika. Auch medizinischer Mehrbedarf wegen einer gestiegenen Nachfrage kann zu Lieferengpässen führen, zum Beispiel bei Grippewellen oder durch Ereignisse wie der Corona-Pandemie.

Deshalb wird derzeit vor allem auf die Versorgung mit Impfstoffen geschaut. Rund 20 Millionen Dosen Grippeimpfstoff haben die Ärzte über die Apotheken bestellt, weitere sechs Millionen Dosen hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) als sogenannte „nationale Reserve“ beschafft. Denn die Grippeimpfung wird in Corona-Zeiten vor allem Risikogruppen wie Senioren und chronisch Kranken empfohlen. Auch wenn sich das Impfinteresse der Bevölkerung bis dato in Grenzen hielt, könnte die Sorge vor einer Superinfektion viele motivieren, dieses Jahr erstmalig eine Grippeimpfung wahrzunehmen. Zumindest das Paul-Ehrlich-Institut, das für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel zuständig ist, hält die Mengen an Grippeimpfstoff zum Start der neuen Influenzasaison jedoch für ausreichend.

Frühwarnsystem erforderlich.

Die gesetzlichen Krankenkassen und allen voran die AOK-Gemeinschaft fordern seit vielen Jahren Transparenz über die gesamte Lieferkette vom pharmazeutischen Hersteller über den Großhandel bis hin zu den Apotheken. Denn nur so lässt sich frühzeitig drohenden Engpässen begegnen. Auch muss im Ernstfall schnellstmöglich ersichtlich sein, wo es noch Restbestände gibt. Denn auf Dauer ist es ein Unding, dass sich Apotheker über Facebook darüber austauschen, wo noch Bestände vorhanden sind. Stattdessen ist ein Frühwarnsystem erforderlich, in welchem nicht ersetzbare Wirkstoffe kontinuierlich überwacht und dezentrale Bestände erfasst werden. Deutschland kann hier eine Vorreiterrolle einnehmen und auch eine gesamteuropäische Lösung anstoßen.

Herkunft der Wirkstoffe nicht transparent.

Darüber hinaus ist mehr Einblick in die Bedingungen der Produktion notwendig. Derzeit gibt es viele Spekulationen darüber, wie viele Arzneimittel und wie viele Ausgangsstoffe in Deutschland beziehungsweise in Europa produziert werden und wie viel aus dem Ausland importiert wird. Informationen darüber, woher die Wirkstoffe kommen, liefern die Hersteller nicht. Dies müsste zumindest in den securPharm-Daten, die Erkennungsmerkmale wie Seriennummer, Produktcode, Chargennummer und Verfallsdatum im Dienste der Arzneimittelsicherheit festhalten, auftauchen und dann über die Abrechnungsdaten den Apotheken und Krankenkassen zur Verfügung stehen.

Im Video-Interview: Dieter Jürgen Landrock, Mitglied des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg, Arbeitgebervertreter

Besser wäre noch, wenn auf der Packungsbeilage stehen würde, woher die Wirkstoffe bezogen werden. Selbst die Umsetzung der mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) beschlossenen Vorschrift, nach der die Wirkstoffhersteller in einer öffentlichen Datenbank zu finden sein sollen, steht auch aufgrund von Klageverfahren einzelner Hersteller noch aus.

Qualitätskontrollen verbessern.

Schließlich müssen die staatlichen Kontrollen der Arzneimittelqualität ausgebaut werden, damit Verunreinigungen wie im Falle des Blutdrucksenkers Valsartan eher entdeckt werden. Mit dem GSAV wurden die Regelungen zu den Kontrollen zwar schon erweitert. Jedoch hat die Bundesregierung zumindest aktuell keinen Überblick, inwieweit die dort getroffenen Regelungen die Art und Weise der Kontrollen schon verändert haben. Hier gibt es dringenden Nachholbedarf. Die Personalkapazitäten der Medizinmarkt-Aufsichten müssen zeitnah erhöht werden, damit sie ihrer Aufgabe besser nachkommen können. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft eröffnet die Chance, die Rolle der europäischen Behörden zu stärken und ihre Kompetenzen zu erweitern. Hier ist die Diskussion bereits in vollem Gange.

Produktionsbedingungen auf dem Prüfstand.

Die Corona-Pandemie rückt außerdem die ethischen Umstände der Arzneimittelproduktion ins Blickfeld. Europaweit wird die Verantwortung der Unternehmen für die Beachtung von internationalen Umwelt- und Arbeitsschutzstandards wie die international anerkannten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im Rahmen ihrer Wertschöpfungsketten diskutiert – und zwar branchenübergreifend.

Grafik: Liefersicherheit im Rabattvertragsmarkt in den Jahren 2017 bis 2019 nach verschiedenen Studien

Auswertungen des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts (DAPI), des IGES Instituts und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) machen deutlich: Bei den Rabattarzneimitteln kommt es selten zu Lieferengpässen. Zwar haben in diesem Segment Lieferausfälle leicht zugenommen (Anteil 2017 rund ein Prozent, 2019 rund drei Prozent). Doch das Gros der verordneten Rabattarzneimittel ist verfügbar.

Quelle: WIdO, Der GKV-Arzneimittelmarkt. Bericht 2020

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) wollen erreichen, dass Unternehmen künftig darüber berichten müssen, wie sie Risiken in der Lieferkette analysieren, Präventionsmaßnahmen in der Geschäftspolitik verankern, Abhilfemaßnahmen ergreifen und einen Beschwerde­mechanismus etablieren. Die Bundesregierung berät ein solches Gesetz, weil die Befragung der Unternehmen im Rahmen des Monitorings des Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte nur wenig Rücklauf ergeben hatte und zeigte, dass es nicht ausreicht, bei der Sorgfaltspflicht allein auf Freiwilligkeit zu setzen.

Die AOK-Gemeinschaft hat bereits die Initiative ergriffen und in der aktuellen Ausschreibung von Arzneimittelrabattverträgen ein Sonderkündigungsrecht für den Fall vorgesehen, dass sich herausstellt, dass Unternehmen ihrer Verantwortung nicht nachkommen und internationale Umwelt- und Sozialstandards nicht beachten. Auch mit einer gesonderten Ausschreibung für antibiotische Wirkstoffe setzt sie durch erweiterte Zuschlagskriterien neue Standards für die Versorgungssicherheit und den Umweltschutz.

Lagerbestände erhöhen.

Ganz oben auf die Tagesordnung gehört vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den vergangenen Monaten zudem die Erhöhung der Lagermengen. Wenn pharmazeutische Unternehmen Arzneimittel nur „just in time“ produzieren, bedeutet dies eine langsame Reaktionsfähigkeit auf kurzfristig eintretende Probleme. Egal ob technische Schwierigkeiten in der Produktion auftreten, sich plötzlich Qualitätsmängel zeigen, Wirkstoffe oder andere Ausgangsstoffe vorübergehend nicht verfügbar sind oder ganze Fabriken zum Beispiel aufgrund eines Tornados ausfallen – für solche Fälle müssen bei versorgungskritischen Arzneimitteln mehr Reserven vorhanden sein.

Deshalb sollten bestimmte Arzneimittel als Fertigarzneimittel von den Großhandlungen für vier statt wie bisher nur zwei Wochen vorgehalten werden. Darüber hinaus sollten pharmazeutische Unternehmen Zugriff auf Wirkstoffmengen für die Versorgungsbedarfe von fünf Monaten vorrätig haben. Für einen ersten Schritt in diese Richtung hat die AOK-Gemeinschaft die Regelungen in ihren Rabattverträgen mit den Unternehmen bereits erweitert.

Export- und Importregelungen überprüfen.

Für eine sichere Arzneimittel-Versorgung gehören auch die Regelungen zum Ex- und Import von Medikamenten auf den Prüfstand. Bei plötzlich auftretenden Lieferschwierigkeiten sehen viele Staaten Exportverbote als kurzfristige Lösung an. Dies kann jedoch zu Engpässen in anderen Ländern führen. Damit dies nicht geschieht, sollten nationale Regelungen in Europa besser aufeinander abgestimmt werden. So bemängeln einige EU-Länder die deutsche Importförderklausel (Paragraf 129 Sozialgesetzbuch V). Danach sind die Apotheken verpflichtet, bei größeren Preisunterschieden zu den Bestandsarzneimitteln preisgünstige Importarzneimittel abzugeben. Der Grund für die Kritik daran: In kleineren Mitgliedstaaten kann der Markt rasch leergekauft sein mit der Folge, dass dort Versorgungsengpässe entstehen.

Mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) hat der Gesetzgeber den 2016 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) etablierten „Jour Fixe zu Liefer- und Versorgungsengpässen“ auf neue Füße gestellt: Er ist nun ein gesetzlich verankerter Beirat der Be­hörde (Paragraf 52b Absatz 3b Arzneimittelgesetz). Seine Aufgabe ist es, die Versorgungslage mit Human-Arzneimitteln (ohne Impfstoffe) konti­nuierlich zu beobachten und zu bewerten. Hierzu gehört auch die Definition des durch das GKV-FKG neu ins Arzneimittelgesetz aufgenommenen Begriffs „versorgungskritische Wirkstoffe“ sowie eine Erarbeitung von Kriterien für die Einstufung von Wirkstoffen als versorgungskritisch. Zudem wird der Beirat eine Liste besonders relevanter Wirkstoffe erstellen, die perspektivisch wieder in der Europäischen Union produziert werden sollen. Dieses Thema will Deutschland im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft angehen. Schließlich wird der Beirat Kriterien für eine Liste von Fertigarzneimitteln erarbeiten, für die eine regelmäßige Datenübermittlung zur Beurteilung der Versorgungslage erforderlich ist.
 
Im Unterschied zum früheren Jour Fixe hat sich der Teilnehmerkreis erweitert. Wie schon zuvor mit dabei sind Vertreter aus dem Bundes­gesundheitsministerium, BfArM, Paul-Ehrlich-Institut, den Ländern sowie den Verbänden der Pharmaindustrie, der Apotheker, des Großhandels und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Neu hinzugekommen sind Vertreter der Kranken­häuser, der Vertragsärzte (Kassenärztliche Bundesvereinigung), der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband), der Patientenvertreter (BAG Selbsthilfe) sowie der Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie (Kommission ART).

G+G-Redaktion

 

 Weitere Informationen des BfArM zum Thema Lieferengpässe

Aber auch hierzulande sehen zahlreiche Akteure die Importförderklausel kritisch. Vor allem die Sorge vor Arzneimittelfälschungen befeuerte die Debatte. Während der Anhörung zum GSAV herrschte große Einigkeit, dass die Klausel gestrichen werden sollte. Apotheker, Ärzte und der AOK-Bundesverband sprachen sich dafür aus. Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, sagte dazu in einem Interview: „Finanziell geht es hier um circa 120 Millionen Euro. Bei allem Respekt vor dieser Summe, aber bei 40 Milliarden Euro Ausgaben für Arzneimittel ist das zu wenig, um die Sicherheits­risiken damit in Kauf zu nehmen“.

Mehr europäische Kooperation und Koordination.

Mehr Solidarität und Zusammenarbeit in Europa sind aber nicht nur bei der Abstimmung zu Export- und Importregelungen notwendig. Denn wer auf die globale Produktion und Distribution von Arzneimitteln Einfluss nehmen will, muss stark genug sein, um seinen Forderungen Geltung zu verschaffen. Selbst der Anteil Deutschlands am weltweiten Arzneimittelumsatz beträgt nur etwa vier Prozent. Es ist also Zeit für mehr europäische Kooperation und Koordination der Arzneimittelversorgung vor allem in punkto Arzneimittelsicherheit.
 
Das Europäische Parlament diskutierte bereits auch im Austausch mit der Europäischen Kommission und der Europäischen Arzneimittelagentur einen Maßnahmenkatalog. Wesentliche Wünsche der EU-Parlamentarier sind zum Beispiel eine zentralisierte Steuerungsstruktur für mehr Transparenz in der Versorgungskette, eine europäische Stelle für den Umgang mit Versorgungsstörungen sowie eine Plattform für den Austausch über Engpässe von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung, die von den nationalen Agenturen mit Daten gespeist wird. Auch forderte das Parlament koordinierende Strategien zur Vorratshaltung beziehungsweise zumindest mehr Transparenz über Lagerorte und -mengen mithilfe digitaler Instrumente.

Abhängigkeit infrage gestellt.

Die These, Deutschland beziehungsweise Europa seien strategisch abhängig von China und Indien, ist Anlass für Überlegungen, die Produktion nach Europa zurückzuholen. Allerdings ist zu wenig darüber bekannt, was wo produziert wird. Und in der pharmazeutischen Indus­trie mehren sich die Stimmen, die die Abhängigkeit Deutschlands anzweifeln.

Rabattverträge sind ein wirksames Instrument, um Lieferengpässen entgegenzuwirken.

So betont die European Federation of Pharma­ceutical Industries and Associations (EFPIA) – ihr gehören zahlreiche pharmazeutische Unternehmen und der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen in Deutschland an –, dass 76 Prozent der pharmazeutischen Wirkstoffe, die für innovative Arzneimittel erforderlich sind, in Europa produziert werden und weitere elf Prozent aus den USA kommen. Auch in der Gesamtbetrachtung der Importe 2019 stellte die EFPIA fest, dass die meisten Fertigarzneimittel und Wirkstoffe aus der EU kommen und der Importanteil aus China mit großem Abstand erst an zweiter Stelle folgt. Das ifo-Institut hebt hervor, dass nur 0,8 Prozent der deutschen Arzneimittel-Importe aus China kommen und 72 Prozent der medizinischen Importe aus Europa. Bei Produkten mit weniger als zehn Zulieferländern seien Frankreich, Großbritannien oder die USA größere Exporteure als China. Die Zahlen deuten auf einen hohen Grad der Risikostreuung hin, schlussfolgert das Institut und plädiert für mehr Bevorratung, statt auf autarke Versorgung hinzuwirken.

Nicht zu übersehen ist, dass die weltweite Arbeitsteilung die Forschung und Produktion von Arzneimitteln prägt, wovon Deutschland als starkes Exportland profitiert. In Zeiten der Pandemie wird das internationale Zusammenwirken bei der Forschung und Produktion von Corona-Impfstoffen weltweit begrüßt.

Arzneimittelrabattverträge führen zu mehr Wettbewerb.

Manche Vertreter der pharmazeutischen Industrie betonen, dass nur der hohe Preisdruck vor allem durch Arzneimittelrabattverträge dafür verantwortlich sei, dass Unternehmen sich gezwungen sähen, möglichst kostengünstig zu produzieren und sich auf wenige Standorte zu konzentrieren. Hingegen wurde durch die Verträge die oligopolartige Vormachtstellung weniger führender Unternehmen zugunsten kleinerer Unternehmen gebrochen.

Die Ergebnisse einer im November 2019 veröffentlichten Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) belegen, dass die Marktkonzentration im Generikamarkt durch den Anbieterwettbewerb gesunken ist und Arzneimittelrabattverträge die Anbietervielfalt fördern. Aufgrund der befristeten Laufzeit und einer Vielzahl an Krankenkassen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausschreiben, ist ein kontinuierlicher Wettbewerb sichergestellt. Auch haben die Verträge für mehr Planungssicherheit für die Unternehmen durch Erleichterung der Kalkulation der erforderlichen Absatzmengen gesorgt. Hinzu kommt: Im Krankenhausbereich, der besonders häufig über Versorgungsprobleme berichtet, unterliegt der Einkauf von Arzneimitteln durch die Krankenhausapotheken weiterhin eigenen Regeln.

  • Lieferengpässe bei Arzneimitteln: Internationale Evidenz und Empfehlungen für Deutschland. Kurzgutachten im Auftrag des GKV-Spitzenverbands. Download
  • Bericht über Engpässe bei Arzneimitteln und den Umgang mit einem sich abzeichnenden Problem, beschlossen vom Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments am 22.7.2020. Download
  • Martin T. Braml, Feodora A. Teti, Rahel Aichele: Apotheke der Welt oder am Tropf der Weltwirtschaft? Deutschlands Außenhandel auf dem Markt für Arzneien und medizinische Ausrüstungen. Ifo-Schnelldienst 5/2020. Download
  • AOK-Rabattverträge stärken die Arzneimittelversorgung. Pressemitteilung des WIdO vom 7.11.2019. Download

Zudem bewegen sich die Gewinnmargen im Arzneimittelsektor in einem Bereich, von dem selbst die Autoindustrie nur träumen kann. Eine Analyse der Umsätze der Top 22 der globalen börsennotierten Pharmaunternehmen von Ernst und Young zeigt für das Jahr 2018 eine EBIT-Marge (Gewinne gemessen am Ertrag vor Zinsen und Steuern) von 25,6 Prozent. Zum Vergleich: Die EBIT-Marge der Automobilhersteller lag im Jahr 2018 bei 6,3 Prozent. Der Gesamt-Pharmaumsatz der Top-Unternehmen belief sich auf rund 461 Milliarden Euro. Wären Arzneimittelrabattverträge nicht mehr möglich oder der Abschluss erschwert, würden nicht nur diese Profite weiter auf Kosten der Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten steigen. Es würde auch ein wesentliches Steuerungsinstrument fehlen, das Lieferschwierigkeiten entgegenwirkt.

Gemeinsames Handeln gefragt.

Es ist an der Zeit, gemeinsam Verantwortung für mehr Versorgungssicherheit zu übernehmen. Dazu kann die pharmazeutische Industrie beitragen – vor allem durch mehr Transparenz. Die gesetzlichen Krankenkassen können ihr Möglichstes tun, indem sie die Regelungen ihrer Verträge erweitern. Großhandel und Apotheken können für mehr Durchblick in der Lieferkette sorgen. Gefragt ist aber vor allem der Gesetzgeber. Denn die bisher getroffenen Regelungen im GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz und im GKV-FKG reichen nicht aus.
 
Werden die Voraussetzungen für ein verlässliches Frühwarnsystem, für mehr Transparenz hinsichtlich der Versorgungslage und der Rahmenbedingungen bei der Produktion nicht geschaffen, gelingt es nicht, die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Wenn notwendige Qualitätskontrollen nur unzureichend stattfinden und selbst die Umsetzung der mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) beschlossenen Verbesserungen unklar bleibt, werden Verunreinigungen wie im Falle der Sartane nicht rechtzeitig entdeckt. Und wenn die europäischen Staaten Lieferschwierigkeiten nicht gemeinschaftlich begegnen, wird eine große Chance vertan, die Arznei­mittelversorgung zu sichern – nicht nur in Zeiten der Pandemie, sondern darüber hinaus.

Christine Hopfgarten ist Referentin für Gesundheitspolitik beim AOK-Bundesverband.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
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