Länderstudie

Modelle für die Pflegeberufe

Aus- und Weiterbildung, Selbstorganisation und Übernahme von Verantwortung – das sind Schlüsselfaktoren, um die Attraktivität der Pflegeberufe zu stärken und die Qualität der pflegerischen Versorgung zu sichern. Wie andere Länder dabei vorgehen und was sich Deutschland davon abschauen kann, skizzieren Prof. Dr. Michael Ewers und Dr. Yvonne Lehmann.

Die Pflegeberufe in Deutschland stecken in einer Krise. Dies konnten auch der lautstarke Beifall und andere Anerkennungsbezeugungen während der Covid-19-Pandemie nur kurzzeitig überdecken. Die Ursachen sind vielfältig und komplex. Dazu gehört, dass das Bild der vorwiegend von Frauen ausgeübten Pflegeberufe traditionell von Stereotypen überlagert ist. Ein sprichwörtlich großes Herz und ständige Einsatz- und Dienstbereitschaft scheinen in den meisten Fällen als Qualifikation ausreichend. Formale Bildungsabschlüsse, Fachkompetenz oder langjährige Berufserfahrung zählen weniger. Meist werden mit der Pflege vorwiegend alltags- und körpernahe, nachgeordnete und wenig anspruchsvolle Assistenztätigkeiten assoziiert – ohne eigene fachliche oder wissenschaftliche Grundlage und ohne autonomen Entscheidungs- und Verantwortungsrahmen.

Dabei werden die Aufgaben der Pflegeberufe aber immer umfangreicher und komplexer. Dies wird leicht übersehen, weil sie meist hinter verschlossenen Türen oder im Schatten anderer Berufe ausgeübt werden. Arbeitsbedingungen und Entwicklungsperspektiven von Pflegeberufen werden überwiegend negativ beurteilt – von denjenigen, die sie ausüben, wie auch von anderen Gruppen in der Gesellschaft. Der „Pflexit“ – sprich der Ausstieg aus den Pflegeberufen – ist für viele das einzige Mittel, um belastenden und kränkenden Arbeitsbedingungen zu entkommen. Dabei wäre es wichtiger denn je, junge und leistungsfähige Menschen für Pflegeberufe zu begeistern und so perspektivisch für personelle Verstärkung und Entlastung in den diversen Arbeitsfeldern der Gesundheits- und Sozialversorgung zu sorgen.
 
Diese Situation lässt sich nicht einfach und schnell verändern. Aber ein Blick über Ländergrenzen hinweg zeigt, dass es einige Erfolg versprechende Strategien gibt, um die Pflegeberufe attraktiver zu machen und ihnen zugleich zu ermöglichen, innovative Beiträge zur Beantwortung gesellschaftlicher Herausforderungen zu leisten.

Aufgaben und Qualifikationen unterschiedlich.

Der Plural „Pflege­berufe“ wird hier bewusst verwendet, weil es sich international oft um Personen mit verschiedenen Aufgabenbereichen, Qualifikationen und Befugnissen handelt. Den Kern bilden in der Regel Pflegefachfrauen und -männer mit mindestens dreijähriger Ausbildung und staatlicher Anerkennung. Hierzulande werden sie oft noch schlicht als „Schwester“ oder „Pfleger“ bezeichnet. Im Englischen ist von „Registered Nurses“ die Rede, weil sie bei einer Behörde oder kammerähnlichen Organisation registriert sind.

Das Projekt „Pflege in anderen Ländern: Vom Ausland lernen?“ (PinaL) wurde 2018 bis 2019 im Auftrag der Stiftung Münch am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin durchgeführt. Dabei sind Informationen zum professionellen Selbst- und Aufgabenverständnis der Pflege, zu Qualifikationswegen und -profilen sowie zu innovativen Modellen der Berufsausübung in den Niederlanden, Schweden, dem Vereinigten Königreich und Kanada zusammengetragen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Pflege in Deutschland abgeleitet worden.

Die Registrierung ist regelmäßig zu erneuern. Dafür sind Berufspraxis und ständige Fortbildungen nachzuweisen. Diesem Qualifikationsprofil ist laut dem Weltverband der Pflegefachpersonen (ICN) ein anspruchsvoller Aufgaben- und Tätigkeitsbereich in der eigen- oder mitverantwortlichen Versorgung und Betreuung von gesunden oder kranken Menschen aller Altersgruppen in verschiedenen Settings und mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen zugeordnet – angefangen bei der Gesundheitsförderung und Prävention über die Akutversorgung und Rehabilitation bis hin zur Begleitung am Lebensende.

Hochschulausbildung in vielen anderen Ländern.

In Schweden, dem Vereinigten Königreich, Kanada und vielen anderen Ländern werden Pflegefachpersonen daher regelmäßig an Hochschulen ausgebildet. Dort erwerben sie neben ihrer Berufszulassung einen ersten akademischen Grad (Bachelor). Nur in den Niederlanden kann die Zulassung durch eine traditionelle Berufsausbildung oder durch ein Studium erworben werden – wie seit Januar 2020 auch in Deutschland. Während aber in den Niederlanden 2018 bereits mehr als 40 Prozent die Hochschulausbildung wählten, bildet Deutschland mit einem einstelligen Prozentanteil an graduierten Pflegefachpersonen das Schlusslicht im europäischen und internationalen Vergleich. Auch eine verbindliche und sanktionierte Registrierungs- und Weiter­bildungspflicht gibt es in Deutschland nicht.

Alltägliche Versorgung übernehmen Helfer.

Für Tätigkeiten, die hierzulande oft mit Pflegeberufen assoziiert werden, wie zum Beispiel die Unterstützung älterer Menschen im Alltag, werden in Schweden, den Niederlanden, Kanada und dem Vereinigten Königreich häufiger Betreuungs- und Helferberufe eingesetzt. Sie werden unterschiedlich bezeichnet (Personal Care Worker, Health Care Assistant) und durchlaufen Berufsausbildungen, die – je nach Funktion – von mehreren Monaten bis hin zu zwei Jahren reichen. Sie haben deutlich weniger Befugnisse als Pflege­fachpersonen und arbeiten in der Regel unter deren fachlicher Anleitung und Supervision. Einem Vorschlag des ICN folgend wurden die Pflegeberufe mit ihren unterschiedlichen Abschlüssen und Kompetenzen im Vereinigten Königreich und den Niederlanden sowie einigen anderen Ländern in Stufen­modelle integriert (siehe Grafik „Andere Länder haben abgestufte Ausbildungsgrade“).
 
In solchen Modellen finden sich aber auch Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten oder „Advanced Practice Nurses“, die über höhere Qualifikationen und erweiterte Kompetenzen verfügen. Nach einem mit der Berufszulassung und einem Bachelor-Grad absolvierten Pflegestudium und einigen Jahren Berufspraxis durchlaufen sie in aller Regel hochschulische Weiterbildungen, die zum Masterabschluss oder zur Promotion führen können. Dies dient – ähnlich wie in der Medizin – der Spezialisierung für klinische Aufgabenfelder, beispielsweise onkologische und pädiatrische Pflege, oder der Qualifizierung für Funktionsbereiche wie Lehre, Management oder Forschung. Vielfach werden damit auch erweiterte Befugnisse erworben, zum Beispiel das Recht, Hilfsmittel und Medikamente zu verschreiben oder Leistungen Dritter anzuordnen.

Pflegeteams gemischt.

Die verschiedenen Ausbildungsniveaus ermöglichen Menschen mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen den Zugang in einen Pflegeberuf. Schließlich werden in vielen Versorgungsbereichen „helfende Hände“ und „kluge Köpfe“ benötigt. Wenn die Bildungsangebote neben beruflichen Kompetenzen auch Allgemeinbildung vermitteln, wenn sie aufeinander aufbauen und durchlässig gestaltet sind, ergeben sich für jeden geeignete Entwicklungs- und Karriereoptionen.

Grafik: Abgestufte Ausbildungsgrade in anderen Ländern

Quelle: International Council of Nurses (ICN), vereinfachte Darstellung

Die differenzierten Berufsabschlüsse ermöglichen es außerdem, den komplexeren Aufgaben in der Gesundheits- und Sozialversorgung gerecht zu werden und dabei auch wissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen. In der Versorgungspraxis werden dann nach Möglichkeit Teams eingesetzt, in denen Pflegeberufe mit unterschiedlicher Qualifikation vertreten sind. Wie die ideale Mischung – der sogenannte Skill-Grade-Mix – letztlich aussieht, orientiert sich am Bedarf der zu pflegenden Menschen. Denn dieser ist in der häuslichen Langzeitpflege anders als in einer gerontopsychiatrischen Einrichtung oder auf einer Intensivstation.

Qualifikation durch Farbcodes gekennzeichnet.

Zur Umsetzung des Skill-Grade-Mixes wird an der Entwicklung zuverlässiger Instrumente zur Personalbemessung und Einsatzplanung gearbeitet – so aktuell in den Niederlanden. Voraussetzung dafür ist unter anderem, dass für die Pflegeberufe klare Rollenprofile und abgegrenzte Aufgaben- und Verantwortungsbereiche („Scope of Practice“) definiert und auch rechtlich abgesichert sind. Um zudem gegenüber Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten, Angehörigen oder auch anderen Personen für Transparenz zu sorgen, gibt es zuweilen Farbcodes an Namensschildern oder farbige Dienstkleidung für die verschiedenen Qualifikationen – so beispielsweise in einigen Einrichtungen in Großbritannien oder Kanada. Auf diese Weise sollen diejenigen mit geringerer Qualifikation – darunter auch Studierende – vor Überforderung und überzogenen Erwartungen an ihre Kompetenzen geschützt werden. Nicht zuletzt aber dient diese Maßnahme der Patientensicherheit.

Patientensicherheit großgeschrieben.

In den hier betrachteten Ländern verlief die Ausdifferenzierung nicht auf Anhieb reibungslos. Insbesondere der Einsatz gering(er) qualifizierter Pflegeberufe birgt Risiken. Daher wurde die Patientensicherheit nach und nach zur zentralen Maxime der Gesundheits- und Pflegepolitik. Dies mündete in den hier betrachteten Ländern meist in der Formulierung verbindlicher Standards und Leitlinien für die Aus- und Weiterbildung sowie die Berufsausübung, so zum Beispiel im Vereinigten Königreich. Dort verstehen sich die „Registered Nurses“ als Agenten für eine sichere, effektive und patientenorientierte Patientenversorgung. Ihr professioneller Anspruch ist es, in einem teambasierten Verständnis Lernende und Mitarbeitende mit geringerer Qualifikation in die Versorgung einzubinden, anzuleiten und zu supervidieren. Zu ihrem Selbstverständnis gehört es aber auch, Regelverstöße von Höherqualifizierten oder Vorgesetzten – auch von anderen Gesundheitsberufen – anzusprechen („Speak up!“) und das Einhalten etwa von Hygienestandards einzufordern. Auch die Pflicht zur Registrierung und Weiterbildung dient letztlich vor allem dem einen Ziel: Patientensicherheit zu gewährleisten.

In Berufskammern organisiert.

Überhaupt werden Pflegeberufe in den hier betrachteten Ländern (und auch andernorts) in die Verantwortung genommen. Die Selbstorganisation und Selbstbestimmung von Pflegefachpersonen in Berufskammern oder ähnlichen Institutionen ist Ausdruck dessen. Dieses Vorgehen dient dazu, dass sie ihre Interessen organisieren und sich vernehmlicher zu Wort melden können – auch dort, wo sie die Rechte von Patientinnen und Patienten beeinträchtigt sehen. Indem Pflegefachpersonen den Auftrag erhalten, Standards für ihre Aus- und Weiterbildung sowie ihre Berufsausübung selbst zu formulieren und durchzusetzen, wird aber auch öffentlich anerkannt, dass sie – neben anderen Gesundheitsberufen und gesellschaftlichen Gruppen – eine hohe Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft im Gesundheits- und Sozialsystem tragen. Erweiterte Kompetenzen und Befugnisse erlauben es ihnen zugleich, innovative Beiträge zur Beantwortung gesellschaftlicher Herausforderungen zu leisten – eine Ressource, die in Deutschland noch viel zu selten genutzt wird.

Medizinische Routineaufgaben übernommen.

Pflegefachpersonen sind in Schweden, im Vereinigten Königreich, Kanada und anderen Ländern neben Ärztinnen und Ärzten und anderen Berufsgruppen mit eigenem Auftrag in der Primärversorgung tätig. In Schweden absolvieren sie hierfür meist eine Fach­weiterbildung in der „Gemeindegesundheitspflege“. Diese qualifiziert sie für eigenständige Aufgaben in der Primärversorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, für die häusliche Krankenpflege oder für Aufgaben in der Schulgesundheitspflege.

In einem definierten Rahmen können Pflegefachpersonen Medikamente sowie Heil- und Hilfsmittel verordnen.

Meist übernehmen sie medizinische (Routine-)Aufgaben, die Patienten-Triage und telefonische Beratungen. Sie dürfen in einem definierten Rahmen Medikamente sowie Heil- und Hilfsmittel verordnen. Ärztinnen und Ärzte müssen dadurch bei Bagatellerkrankungen oder in stabilen Phasen chronischer Erkrankung nicht notwendigerweise einbezogen werden. Dies lässt ihnen mehr Zeit für die Diagnose und Therapie in schwierigen oder komplexeren Fällen. Ähnlich sind etwa auch in Kanada in der Primärversorgung oft Pflegefachpersonen anzutreffen, die zudem ein Masterstudium als „Nurse Practitioner“ (praktizierende Pflegeexperten) abgeschlossen haben und verantwortliche Aufgaben in der ambulanten Versorgung von Patientinnen und Patienten übernehmen.

Pflegefachkräfte halten eigene Sprechstunden ab.

Erfahrene und auf einzelne Diagnosen und Krankheitsbilder spezialisierte Pflegefachpersonen bieten in Schweden, den Niederlanden, im Vereinigten Königreich oder auch in Kanada eigene Sprechstunden an – etwa in Krankenhausambulanzen oder Gemeindegesundheitszentren. Meist handelt es sich dabei um Angebote für Menschen mit chronischen Erkrankungen, langanhaltenden Gesundheitsproblemen oder erhöhten Risiken wie Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz oder Multimorbidität. Dabei unterbreiten sie auch gesundheitsförderliche und präventive Ange­bote zum Beispiel zur Raucherentwöhnung und Bewegungsförderung und vermitteln gesundheitsbezogene Informationen. Begleitstudien haben positive Effekte der pflegerischen Spezialan­gebote in Bezug auf die Fähigkeiten zur Selbstversorgung, die Gesundheitskompetenz und die Änderung des Lebensstils von Patientinnen und Patienten gezeigt.

In Schottland wurden gemeinsam mit Hochschulen Pflegeheime zu Innovationszentren umgewandelt (Care Home Innovation Centres), um Studierende der Pflege, der Medizin, der Sozialarbeit und anderer Fachrichtungen bei der Entwicklung ihrer gerontologisch-geriatrischen und interprofessionellen Kompetenzen zu unterstützen. Zugleich wird in diesen Einrichtungen Forschung und Praxisentwicklung betrieben – etwa auch zur Umsetzung tragfähiger Personalkonzepte (Skills-Grade-Mix), die Pflegequalität gewährleisten und weiterentwickeln. Dabei wird zugleich die Personalrekrutierung unterstützt in Feldern, die für junge Menschen auf den ersten Blick oft nicht attraktiv erscheinen. Ähnliche Partnerschaften zwischen Hochschulen und Praxiseinrichtungen – sogenannte Academic Practice Partnerships (APP) – werden unter anderem auch in Australien, den USA, Kanada, den Niederlanden, Norwegen, Österreich und der Schweiz gefördert.

Digitale Technologien eingesetzt.

Schweden will bis 2025 eine weltweite Führungsposition in Digitalisierung und E-Health-Anwendungen erlangt haben. Die Bürger sollen niedrigschwelligen Zugang zu qualitätsgesicherten Gesundheitsinformationen, zu individuell angepassten Dienstleistungen und interaktiven Online-Diensten haben. Dabei übernehmen Pflegefachpersonen wichtige Aufgaben, so etwa bei der nationalen webbasierten Informations- und Beratungsplattform „Vårdguiden“, die rund um die Uhr an allen Tagen der Woche landesweit unter der einheitlichen Telefonnummer 1177 oder über das Internet zu erreichen ist. Die hier tätigen Pflegefachpersonen sind erste Ansprechpartner der Bürger. Sie beantworten Gesundheitsfragen und schätzen am Telefon einen möglichen Behandlungsbedarf ein. Vielfach übernehmen sie auch koordinierende Aufgaben, indem sie zum Beispiel einen Rettungswagen rufen oder einen Termin bei einem Bereitschaftsarzt vermitteln. Zudem leisten sie psychosoziale Unterstützung, Empowerment, Gesundheitsförderung und Prävention wie auch einen Beitrag zur Förderung der Gesundheitskompetenz.

Elektronische Patientenakte gemeinsam genutzt.

Der Einsatz moderner Technologien, von Digitalisierung und Robotik ist in allen betrachteten Ländern ein Thema in den Pflegeberufen – wenngleich mit Nuancen. Der Einsatz intelligenter Hebe- und Transferhilfen dient dazu, den Alltag aller Pflegeberufe weniger belastend zu gestalten. Mit anderen Berufsgruppen gemeinsam genutzte elektronische Patientenakten sind in den Niederlanden, Schweden und Kanada ein selbstverständliches, vielfach sektorenübergreifend genutztes Arbeits- und Kommunikations­instrument.

  • Yvonne Lehmann, Christiane Schaepe, Ines Wulff, Michael Ewers (2019): Pflege in anderen Ländern: Vom Ausland lernen? Stiftung Münch (Hrsg.). Verlag medhochzwei, Heidelberg.
  •  Iris Ludwig, Hrsg. (2015): Wir brauchen sie alle – Pflege benötigt Differenzierung. Verlag hpsmeida, Hungen.
  • Nursing Now: Kampagne des Weltbundes der Pflegefachpersonen (ICN) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Stärkung der Rolle von Pflegenden in der Gesundheitsversorgung bzw. in der Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung aller Länder

Im schwedischen Lappland kann es schon mal passieren, dass ein Schockraum im Notfallzentrum eines Landkrankenhauses allein von Pflegefachpersonen betreut wird, die dabei per Telekonsultation von Ärztinnen und Ärzten in einem weiter entfernten Regionalzentrum angeleitet und beraten werden. Für die Akzeptanz und nachhaltige Umsetzung ist wichtig, dass Innovationen – wie die hier exemplarisch skizzierten – gemeinsam mit den Pflegeberufen und nicht über ihren Kopf hinweg entwickelt, in der Praxis erprobt und evaluiert werden.

Patentlösungen gibt es nicht.

Insgesamt kann es den Pflege­berufen durch differenzierte Qualifikationswege, transparente Konzepte und Werteorientierungen sowie erweiterte Entscheidungs- und Handlungsspielräume gelingen, attraktiver zu werden und zugleich innovative Beiträge zur Beantwortung gesellschaftlicher Herausforderungen zu leisten. Dabei gibt es auch in den hier betrachteten Ländern zwar keine Patentlösungen. Denn jedes Land ringt mit ganz eigenen Herausforderungen. Auffallend ist aber, dass andernorts häufig Win-Win-Situationen entstehen: Einerseits werden förderliche gesundheits- und bildungspolitische Weichenstellungen vorgenommen, damit sich die Pflegeberufe anforderungsgerecht ausdifferenzieren können – von der Helferqualifikation bis zum Doktortitel.

Auf diese Weise können Menschen mit unterschiedlichen Talenten integriert werden und sich in einem zukunftsfähigen Berufsfeld weiterentwickeln. Andererseits werden die Pflegeberufe aber auch in die Pflicht genommen. Sie müssen Verantwortung übernehmen und sich an der Verbesserung der Bedingungen ihrer Berufstätigkeit aktiv beteiligen, sich für die Erreichung gemeinsamer Gesundheitsziele stark machen und insgesamt die Sicherheit der Versorgung in allen Settings und für alle Bevölkerungsgruppen gewährleisten.

Raus aus alten Denkmustern.

International haben die Pflege­berufe längst unter Beweis gestellt, dass sie trotz oder gerade wegen ihrer Vielfalt erfolgreich daran mitarbeiten können, das Gesundheits- und Sozialsystem zu optimieren, Erfahrungen von Menschen auf dem Weg durch diese Systeme zu verbessern, Ausgaben für die Gesundheits- und Sozialversorgung unter Kontrolle zu halten und schließlich auch das Wohlergehen von Versorgungsteams – einschließlich ihrer selbst – zu fördern.

Es ist an der Zeit, dass auch in Deutschland überholte Stereotype überwunden, Sonderwege in der Aus- und Weiterbildung verlassen und den Pflegeberufen Freiräume zur Entfaltung ihrer Potenziale eingeräumt werden – im Interesse aller. Das vom ICN und der WHO ausgerufene „Internationale Jahr der Pflegenden und Hebammen“ 2020 ist – trotz der mit der aktuellen Pandemie einhergehenden Herausforderungen – der richtige Zeitpunkt, um auch in Deutschland damit anzufangen.

Michael Ewers MPH ist Gesundheits- und Pflegewissenschaftler und Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Yvonne Lehmann ist Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
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