Corona

Debatte: Nähe schaffen trotz Distanzgebot

Die Corona-Pandemie hat den Umgang der Menschen miteinander verändert und belastet die Psyche, meint Dr. Dietrich Munz. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer fordert Konzepte für Kontaktmöglichkeiten zu Älteren und empfiehlt Hilfe für Pflegende.

Die zweite Corona-Welle ist anders

als die erste. Im Frühjahr 2020 konnten die Menschen noch mit einem schnellen Rückgang der Ansteckungsgefahr rechnen. Dagegen ist der Winter lang und das potenziell lebensgefährliche Virus hartnäckiger. Viele Menschen haben mit existenziellen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu kämpfen: Restaurant- und Barbetreiber, Solo-Selbstständige, Künstler und Freiberufler. Die psychischen Belastungen der Gesundheits- und Wirtschaftskrise ergänzen sich. Gleichzeitig fallen wichtige Schutzfaktoren für die psychische Gesundheit weg. Menschen brauchen den Austausch mit anderen Menschen und lebendige Beziehungen, in denen sie sich aufgehoben fühlen. Wer über solchen Rückhalt verfügt, ist psychisch belastbarer.

Raum für emotionale Nähe.

Die Realitäten sind nicht wegzudiskutieren. Die Ansteckungsgefahr ist real und die wirtschaftliche Krise auch. Umso wichtiger ist es, die körperliche Distanz, die wir draußen und beruflich wahren müssen, mit emotionaler Nähe und Unterstützung in den eigenen vier Wänden zu verbinden. Wir brauchen auch in Pandemiezeiten einen Raum für Nähe mit für uns wichtigen Menschen sowie Rückzugsmöglichkeiten für den Einzelnen. Es ist nicht immer einfach, die Pandemie-Regeln mit diesen psychischen Bedürfnissen und Notwendigkeiten in Einklang zu bringen.

Menschen brauchen den Austausch und lebendige Beziehungen.

Aus Sicht der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ist es wichtig, Kitas und Schulen so lange wie möglich offen zu halten. Kinder und Jugendliche brauchen den Austausch mit Gleichaltrigen. Außerdem überfordert Home-Schooling viele Eltern neben ihrer Tätigkeit im Home-Office. Die familiäre Nähe, die uns sonst trägt, kann dann schnell umschlagen in familiären Dauerstress, Konflikte und sogar Gewalt.

Depressivität vorbeugen.

Psychisch besonders gefährdet sind ältere Menschen, die häufig bereits an anderen Erkrankungen leiden. Als Risikogruppe sind sie besonders starken Schutz- und Isolationsmaßnahmen unterworfen. Für sie galten während der ersten Corona-Welle besonders strenge und vor allem langfristige Kontaktbeschränkungen. Wir müssen unbedingt flexiblere Kontaktmöglichkeiten finden. Hierfür brauchen wir dringend Konzepte. Die ständigen Gedanken an eine tödliche Infektionskrankheit können stark verängstigen. Der Verlust an familiärer Aufmerksamkeit und Aufgaben führt zu Depressivität und dem Gefühl von Sinnlosigkeit. Hat jemand schon eine andere Erkrankung oder ist die erwartete Lebenszeit begrenzt, kann eine langfristige Isolation ohne den Austausch mit nahestehenden Menschen zu Niedergeschlagenheit und Depression führen.

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Die praktische Erfahrung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zeigt: Bei vielen, die 75 Jahre und älter sind, wird aus der Angst sich anzustecken nicht selten Todesangst und aus Rückzug totale Isolation. Am Ende quälen sie sich mit der Erwartung, wegen Corona allein zu sterben.

Pflegende unterstützen.

Pflegekräfte und medizinisches Personal sind besonders ansteckungsgefährdet. Bei ihnen summieren sich hohes Infektionsrisiko, Schichtdienst und überlange Arbeitszeiten aufgrund von Personalknappheit. Bei einer Überlastung des Gesundheitssystems müssten Ärztinnen und Ärzte auch Entscheidungen über eine stationäre Aufnahme oder Intensivbehandlung treffen – möglicherweise Entscheidungen über Leben und Tod der Patientinnen und Patienten. Das ständige Abwägen von eigener Moral, beruflicher Ethik und verfügbaren Ressourcen kann bei Ärztinnen und Ärzten enormen psychischen Stress auslösen, Scham- und Schuldgefühle hervorrufen und zur Entwicklung psychischer Störungen und sogar zu Suizidalität führen. Hier ist es besonders wichtig, auch langfristig Unterstützung und Hilfe aktiv anzubieten. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe und die BPtK stellen beruflich Pflegenden kurzfristig und bundesweit halbstündige Beratungstermine bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Verfügung.

Um solch hohe Belastungen auszuhalten, ist es grundsätzlich wichtig, positive Ziele zu setzen. Doch ein Ende der Pandemie ist nicht seriös vorauszusagen. In dieser schwierigen und langen Zeit der Unsicherheit ist gegenseitige Unterstützung besonders wichtig.

Dietrich Munz ist Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK).
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