Gewaltprävention

Wenn Patienten zuschlagen

Beschimpfungen, Bedrohungen, Schläge und Bisse: Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte hat Studien zufolge deutlich zugenommen. Immer mehr Mediziner und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen bereiten sich daher auf den Ernstfall vor – durch Schulungen und die Gestaltung ihrer Praxis. Von Thorsten Severin

Herr S. ist aufgebracht und scheint zu allem fähig. Er möchte, dass seine demenzkranke Mutter in die Psychiatrie eingewiesen wird. Doch die Mitarbeiterin vom sozialpsychiatrischen Dienst sieht dafür keine Veranlassung, versucht zu beschwichtigen. „Ich verstehe Ihre Sorge, aber gegen den Willen Ihrer Mutter kann ich da nichts machen“, sagt sie. S. platzt jetzt fast vor Wut, hebt die Stimme: „Sie rufen da jetzt an und machen einen Termin, ich zähle bis drei …“ Er schreit die verschüchterte Frau hinter dem Schreibtisch an, hebt die Faust und droht: „Geht’s Ihnen gut, soll das so bleiben?“ Stopp. Der eben noch so aggressive Herr S. schlüpft jetzt in seine eigentliche Rolle: Olaf Schmelzer leitet als Deeskalations- und Kommunikationstrainer heute ein Seminar für Beschäftigte des öffentlichen Gesundheitswesens. Ärzte, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sind nach Wolfsburg gekommen, um den Umgang mit gewaltbereiten Klienten zu lernen. Konfliktsituationen werden dabei in Rollenspielen möglichst realistisch simuliert.

Viele der Teilnehmer haben schon Erfahrungen mit aggressiven Klienten gemacht. Arthur Siem etwa ist Arzt, arbeitet beim sozial-psychiatrischen Dienst der Stadt Wolfsburg. Zusammen mit einem Sozialarbeiter besuchte er einmal einen Mann in seiner Wohnung, der Alkoholprobleme hatte. Sie sitzen im Wohnzimmer, der Mann verlässt kurz den Raum. Plötzlich steht er mit einer Pistole im Türrahmen und bedroht seine Besucher. „Fliehen ging nicht, da er direkt in der Tür stand. Da habe ich versucht, ruhig zu bleiben“, erzählt Siem. Langsam geht er auf den Mann zu, als er nah genug dran ist, ergreift er seinen Arm und nimmt ihm die Waffe ab. Für Siem ein einschneidendes Erlebnis in seiner Berufslaufbahn. Während sich der Mediziner an verbale Ausfälle von Klienten im Job gewöhnt hat, da sie „mehr oder weniger regelmäßig vorkommen“, ist es zum Glück noch kein Alltag, mit einer Waffe bedroht zu werden.

Beschäftigte im Gesundheitswesen können ständig auf aggressive Menschen treffen. Um sich auf solche Situationen vorzubereiten, nahmen Anfang Oktober Ärzte, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen des öffentlichen Gesundheitsdienstes an einem Seminar in Wolfsburg teil. Der Titel: „Umgang mit gewaltbereiten Klienten“.

Ärzte sind besonders gefährdet.

Olaf Schmelzer kennt noch weitere Beispiele: Jemand möchte einen Stempel unter eine nicht korrekt ausgefüllte Vorsorgevollmacht, ein dubioser Klient bittet die Dame vom Amt in seine Wohnung und schließt hinter ihr ab, Patienten randalieren in der Notaufnahme. Ärztinnen und Ärzte gehören laut Schmelzer zu einer besonders gefährdeten Berufsgruppe, für die er entsprechend oft Seminare im Auftrag von Ärztekammern und Berufsverbänden veranstaltet. Auslöser für gefährliche Situationen könnten Wartezeiten sein oder die Verweigerung von Medikamenten, etwa von Opiaten. Oder Angehörige müssen bei Behandlungen draußen warten. Manchmal unterstellen Verwandte einem Arzt auch einen fehlerhaften Umgang mit einem Angehörigen, vielleicht weil sie über „gefährliches Viertelwissen“ aus dem Internet verfügen, wie Schmelzer sagt. Kassenpatienten fühlten sich oft benachteiligt gegenüber privat Versicherten. Nicht selten spiele auch Neid auf den sozialen Status des Arztes eine Rolle.
 
„Gewalt ist längst Alltag in unseren Praxen. Und es wird immer schlimmer“, klagt Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes. Die Ursache dafür seien eine „allgemeine Verrohung“ und ein immer höheres Anspruchsdenken. „Meistens entzünden sich Angriffe daran, dass Patienten nicht das bekommen, was sie wollen. Enttäuschte Erwartung führt zu Frustration und Wut“, sagt er. „Wir diskutieren auch oft mit Patienten, warum eine Krankenkasse bestimmte Medikamente nicht bezahlt oder warum es Begrenzungen gibt, zum Beispiel bei der Physiotherapie oder bei der Logopädie.“ Die Ärzte müssten allzu oft unpopuläre Entscheidungen ausbaden. Auch Heinrich hat registriert, dass zudem ein häufiger Streitpunkt die Wartezeit ist. In vielen Fällen spiele bei Übergriffen eine psychische Erkrankung der Täter eine Rolle.

75 Übergriffe am Tag.

Eine Ärztebefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des NAV-Virchow-Bundes unter 7.000 Medizinern im Jahr 2018 hat ergeben, dass es statistisch betrachtet jeden Tag zu mindestens 75 Fällen von körperlicher Gewalt gegen niedergelassene Ärzte und ihre Praxisteams kommt. Jeder vierte Arzt hat bereits konkrete Erfahrungen mit körperlichen Übergriffen. Vier von zehn ambulant tätigen Medizinern sind zudem täglich Opfer von verbaler Gewalt – das sind 2.870 Fälle. Eine 2017 veröffentlichte Studie der Technischen Universität München mit 835 ausgewerteten Fragebögen ergab, dass 92 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte bei ihrer Tätigkeit Aggression in irgendeiner Form erlebt haben.

Porträt von Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes

„Enttäuschte Erwartung führt zu Frustration und Wut.“

Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes

„Insgesamt ist festzustellen, dass die Hemmschwelle gesellschaftlich immer weiter sinkt und der Respekt vor Autoritäten abnimmt“, sagt Heinrich. In seiner Praxis hat er mehrfach selbst Gewalt erlebt, sowohl verbal als auch körperlich. Als er und seine Helferin in der Praxis von einem rabiaten Patienten angegangen worden seien, seien ihnen zwei Patienten aus dem Wartezimmer zu Hilfe gekommen. „In dem Stadtviertel, in dem meine Hamburger Praxis liegt, gibt es viele kräftige Jungs. Sie haben den Querulanten kurzerhand rausgeschmissen.“

Tatort Notaufnahme.

Besonders häufig bekommen Ärzte in der Notaufnahme Gewalt und Aggression zu spüren. Eine Umfrage der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen im Jahr 2019 zeigt, dass zwei Drittel der Ärzte im Bereitschaftsdienst verbaler, jeder vierte sogar körperlicher Gewalt ausgesetzt war. Die meisten berichteten allgemein von Aggressivität der Patienten (95 Prozent) und Beleidigungen (84 Prozent). Beim nicht-ärztlichen Personal gaben 85 Prozent der Befragten an, im Bereitschaftsdienst beschimpft oder beleidigt worden zu sein und elf Prozent hatten sogar körperliche Gewalt erfahren. 93 Prozent der Ärzte hatten das Gefühl, dass die Gewalt in den vergangenen Jahren zugenommen hat – und das nicht nur in großen Städten. Die KV Hessen hatte insgesamt 30 im Bereitschaftsdienst tätige Ärzte und 70 Angehörige des nichtärztlichen Personals nach ihren Gewalterfahrungen befragt.

Dr. Gisa Andresen, Leitende Oberärztin in der Anästhesie am Diakonissenkrankenhaus Flensburg, traf es in einer für sie traumatischen Nacht gleich zwei Mal. In der Auseinandersetzung mit einem alkoholisierten Patienten, der zur Ruhe gebracht werden musste, zog sie sich eine Wunde am Handgelenk zu. Zwei Stunden später kam ein Patient mit einer Medikamentenvergiftung und war ebenfalls sehr aggressiv. „Der hat mich gebissen und genau die frische Wunde erwischt. Dann hieß es noch, er sei wahrscheinlich HIV-positiv, sodass ich lange Zeit nicht wusste, wie es um meinen HIV-Status steht“, erzählt die Vizepräsidentin der Ärztekammer Schleswig-Holstein. In ihren mehr als 30 Jahren als Anästhesistin hat sie in der Notaufnahme immer wieder gewalttätige und ungeduldige Patienten erlebt. Die Menschen seien immer egoistischer unterwegs. „Keiner möchte mehr warten, jeder betrachtet sich selbst als Mittelpunkt.“

Den Medizinern, die Opfer von Übergriffen waren, hängt dies noch lange nach. „Als Konsequenz gaben die Betroffenen an, vorsichtiger und angespannter zu sein oder weniger Spaß an der Interaktion mit den Patienten zu haben“, schildert Dr. Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer Hessen.

Freundlichkeit und Respekt helfen, Gewalt in der Praxis zu vermeiden.

Im August 2018 sorgte der Tod eines Arztes in Offenburg für bundesweites Aufsehen. Der 52 Jahre alte Allgemeinmediziner war in seiner Praxis von einem offenbar psychisch kranken Patienten mit zahlreichen Messerstichen getötet worden, zudem wurde eine Arzthelferin verletzt. Der Vorstand der Bundesärztekammer sah sich damals veranlasst, eine Resolution zu verabschieden, in der er mehr Schutz für Ärzte und Angehörige anderer Gesundheitsberufe forderte, zumal in den Jahren zuvor auch andere Fälle für Schlagzeilen gesorgt hatten. 2016 etwa hatte ein Rentner in einer Berliner Klinik einen Kieferorthopäden erschossen. Vorbeugung von Gewalt fange bereits damit an, dass der Arbeit von Medizinern die Anerkennung entgegengebracht werde, die sie verdiene, schrieb die Ärztekammer. Außerdem müssten Übergriffe gesamtgesellschaftlich geächtet werden.

Weltweites Phänomen.

Auch in Europa und global ist Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte ein wachsendes Problem, wie der Präsident des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte (CPME), Frank Ulrich Montgomery, betont. „In den letzten zehn Jahren haben wir weltweit einen Anstieg der Gewalt gegen Gesundheitspersonal erlebt“, sagt er. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe sich dieses Phänomen dramatisch ausgeweitet. „Täglich berichten Ärzteverbände von Vorfällen: Drohungen, Beleidigungen, Stigmatisierung durch Gemeinden und Staaten.“ In einigen Ländern würden Ärzte Opfer von Repressalien, weil sie unwürdige Arbeitsbedingungen oder den eklatanten Mangel an medizinischer Ausrüstung aufgezeigt oder die staatlichen Pandemie-Reaktionen kritisiert hätten.
 
Medizinische Organisationen, darunter das CPME und auf globaler Ebene der Weltärztebund, prangerten im Mai die Fälle von Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung im Zuge von Covid-19 öffentlich an. Konkret kritisierten die europäischen Verbände „das Stigma, mit dem Ärzte und andere Angehörige der Gesundheitsberufe, die mit infizierten Patienten zu tun haben, täglich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Arbeitsplatzes konfrontiert sind“. Montgomery sieht die Ursache für Gewalt gegen Ärzte vor allem in der Gesellschaft. Allgemein sei die Schwelle zur Gewaltbereitschaft gesunken.

Ärzte sollten Vorsorge treffen.

Doch wie können sich Ärzte vorbereiten beziehungsweise Gewalt vermeiden? Wichtig sei es, sich in den Praxen gemeinsam mit den Mitarbeitern einen Plan zu machen, wie mit aggressiven Patienten umgegangen werde, rät Dirk Heinrich. „Wer wird wann und wie informiert? Haben wir ein Code-Wort, mit dem wir unauffällig andere Teammitglieder um Hilfe bitten können, wenn eine Situation brenzlig wird?“ Die Abläufe müssten immer wieder trainiert werden. Auch helfe eine ausgezeichnete Praxisorganisation mit kurzen Wartezeiten, die Frustration niedrig zu halten. Manchmal seien auch technische Vorkehrungen und Maßnahmen wie Alarmklingel oder Notfalltaster empfehlenswert. Auch besondere bauliche Maßnahmen, Überwachungskameras und ein restriktiver Praxis­zugang über Sprechanlagen könnten helfen.

Nützlich könne es darüber hinaus sein, eine Schale Sand oder Büroklammern in der Schreibtischschublade zu haben, deren Inhalt einem Angreifer zur Abschreckung ins Gesicht geschleudert werden könne, sagt der Virchow-Bund-Vorsitzende. „Und in der Praxis sollte nichts herumstehen, was ein aufgebrachter Patient als Waffe einsetzen kann oder was dem Praxispersonal im Ernstfall den Fluchtweg abschneidet.“ Auch Seminarleiter Schmelzer betont, Gegenstände in der Arztpraxis könnten schnell zu gefährlichen Wurfgeschossen werden. „Die meisten Waffen, die benutzt werden, sind vor Ort: das Stethoskop, die Schere, der Locher oder der Reflexhammer.“

Deeskalation trainieren.

Und nicht zuletzt sollte das Praxisteam laufend in Deeskalation geschult werden. „Durch zielgerichtete Kommunikation lassen sich Eskalationen häufig noch vermeiden“, sagt Heinrich. Sein Kollege Montgomery fordert: „Arbeitgeber sollten Deeskalationstrainings anbieten und räumliche Gegebenheiten schaffen, die ein sicheres Arbeiten möglich machen.“ Gegebenenfalls müsse Sicherheitspersonal vorgehalten werden, so Montgomery, der auch Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes (WMA) ist. „Für den einzelnen Arzt eignen sich zusätzlich Kommunikations- und Informationsstrategien, die Sicherheit und Vertrauen schaffen.“

Porträt von Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte

„Die Schwelle zur Gewaltbereitschaft sinkt.“

Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte

Olaf Schmelzer empfiehlt seinen Kursteilnehmern in brenzligen Situationen die Notbremse zu ziehen, so lange es noch geht. Das heißt: Der bedrohte Arzt gibt nach, unterschreibt das Rezept für das Opiat oder den Medizinal-Cannabis, macht den Stempel unter die Einweisung der Mutter in die Psychiatrie. „Das heißt nicht, dass derjenige mit seinen Bedrohungen durchkommt. Es gibt eine Konsequenz, aber nicht hier und jetzt.“ Sprich: Der Arzt sollte anschließend den Vorgesetzen, die Polizei oder die Behörden verständigen, Anzeige erstatten. „Bitte bringt Euch nicht in Gefahr“, mahnt Schmelzer die Workshop-Teilnehmer. „Geht lieber immer auf Nummer Sicher. Ihr habt das Recht und die Pflicht, gesund zu bleiben. Es ist ein Geschenk, wenn wir die Notbremse ziehen und Gewalt abwenden können.“ Vorgesetzte sollten diese Einstellung immer auch jungen Kollegen vermitteln und die Maxime selbst vorleben.
 
„Einfach so klein beizugeben, da muss ich aber mit mir kämpfen“, sagt eine Teilnehmerin des Seminars. Das geht auch anderen im Kurs so, als Schmelzer die Situationen vom Beginn noch einmal nachspielen lässt – diesmal mit der Devise, rechtzeitig einzulenken. Dass das schwer sein kann, weiß der Seminarleiter nur zu gut. Wenn auf der Autobahn hinter einem gedrängelt werde, sei meist der Reflex, dagegen zu halten. Vernünftiger, als abzubremsen und sich in Gefahr zu bringen, sei es jedoch, den anderen ziehen zu lassen. Gerade bei Hausbesuchen rät Schmelzer, sich nicht in Gefahr zu begeben, wenn den Teilnehmern etwas komisch vorkomme. „An der Tür habt Ihr noch die Regie.“

Respekt vor Sanitätern hat abgenommen.

Marco König, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbands Rettungsdienst, hat festgestellt, dass auch Rettungs- und Notfallsanitätern längst nicht mehr so viel Respekt entgegengebracht wird, wie dies einmal war. Sie werden häufiger als früher beschimpft oder an ihrer Arbeit gehindert. Bei Anzeichen von Gewalt rät auch König, lieber den Rückzug anzutreten und nicht übertrieben selbstsicher aufzutreten. „Lieber einmal zu viel rausgehen, als einmal zu wenig.“ Richtig findet er, dass in der Ausbildung zum Notfallsanitäter inzwischen 200 Stunden dem Thema Kommunikation gewidmet werden.
 
Schmelzer gibt Ärzten und Angestellten im Gesundheitswesen den Tipp, sich bei verbalen Ausrastern und Entgleisungen in den anderen hineinzuversetzen und sich so selbst emotional runter zu bringen. „Es geht darum, Verständnis zu haben, warum ein Mensch so ist.“ Denn oft befänden sich die Patienten in einer Lebenskrise: Eltern haben in der Rettungsstelle Angst um ihr krankes Kind, ein Sohn macht sich Sorgen um seine Mutter, ein Patient hat Panik. Sätze wie „Ich rege mich jetzt nicht auf“ könnten da helfen, sagt Schmelzer. Als examinierter Krankenpfleger in der Psychiatrie ist er viel gewohnt.
 
Auch Anästhesistin Gisa Andresen räumt ein, wie schwer es ist, bei verbaler Gewalt nicht im selben Ton zurückzukeilen. „Da muss man kurz in sich gehen, Luft holen und versuchen, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen und sich zu sagen: Der kann jetzt nichts dafür, der steht unter Druck, der ist krank und ich bin hier diejenige, der es gut geht.“

Nicht zuletzt ist eine angenehme Atmosphäre in der Praxis zur Gewaltvermeidung hilfreich, wie Schmelzer betont – durch eine gemütliche Einrichtung, eine gute Lektüre, aber vor allem durch Mediziner, die auf ihre Patienten mitfühlend reagieren, auf sie eingehen, eine Beziehung aufbauen. „Jemanden ins Gesicht zu schlagen, der freundlich und respektvoll zu mir ist, das ist schwierig“, schildert der Kommunikationstrainer.

Kenntnisse in Selbstverteidigung können helfen.

Doch was ist, wenn es trotz allem ernst wird und ein Patient kurz davor ist, zuzuschlagen? In allerletzter Konsequenz sei es ratsam, wenn Ärzte ein wenig Kampfsport-Kenntnisse besäßen, sagt Olaf Schmelzer. Die Teilnehmer in Wolfsburg lernen schon mal, wie sie in einen sicheren Stand gehen können: etwas kleiner machen, die Hände vor dem Kopf, möglichst zwei Armlängen Abstand, die Füße stehen fest auf dem Boden. Dabei sollte der Angegriffene stets Blickkontakt zu der aggressiven Person halten und ihr niemals den Rücken zuwenden.

„Ruhig bleiben und beruhigend auf den Menschen einreden“ – dazu rät Professor Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Seine Ärztekammer setze mit ihren Seminaren auf Deeskalation; Karate und Judo böten andere Organisationen an. Seit mehreren Jahren gibt es bei der Kammer eine Beratung für Ärzte, die Opfer von Gewalt und Aggression geworden sind. Viele bekommen aber Hilfe in ihrer Einrichtung.

Egal, ob körperlich oder verbal, Übergriffe sollten nach Ansicht von Virchow-Bund-Chef Heinrich konsequent angezeigt werden. Derzeit sei das nur bei jedem vierten Übergriff der Fall. „In meiner Praxis gehen wir konsequent gegen Rüpel vor und bringen Vorfälle immer zur Anzeige. So hat sich schnell herumgesprochen, dass bei uns auch Beleidigungen nicht okay sind.“ Notwendig sei zudem ein „zentrales Meldesystem bei den Kammern“, um Gewalt gegen Ärzte besser quantifizieren zu können.  

Datenbank für Übergriffe anlegen.

Die Landesärztekammer Hessen etwa hat im Frühjahr 2019 ein anonymes Meldesystem eingeführt. Der Meldebogen „Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte“ steht auf ihrer Webseite. Bislang seien mehr als 50 Meldebögen eingegangen, berichtet Hessens Ärztekammer-Chef Pinkowski. Der größte Teil der Absender arbeite in niedergelassenen Praxen. Neben verbalen Aggressionsformen werden leichte körperliche Gewalt, sexuelle Belästigung sowie in sieben Fällen sogar schwere Aggressionen beschrieben. So heißt es da: „Patient wollte Praxis nicht verlassen, drohte mit schlechten Internetbewertungen, da wir seine Mutter in seinen Augen nicht ordnungsgemäß behandelten.“ Oder: „MFA von Angehörigem gewürgt worden, der seine Ehefrau nicht korrekt behandelt sah.“ Pinkowski würde sich wünschen, wenn in Deutschland eine Datenbank wie in Frankreich angelegt würde. Dort würden seit 2013 alle gemeldeten Fälle in einem Register der nationalen Ärztekammern erfasst. Laut Heinrich wäre es zudem sinnvoll, angehenden Medizinern Konfliktmanagement und Deeskalation bereits an der Uni zu vermitteln.
 
Auch der Weltärztebund und mehrere europäische Ärzteorganisationen fordern die Einrichtung einer wirksamen Berichterstattung. Notwendig seien auch unterstützende Maßnahmen für Opfer von Gewalt in ganz Europa, betont Montgomery. Erforderlich seien zudem Präventionsprogramme; bestehende Gesetze müssten durchgesetzt werden. 

Gesetzliche Verschärfung.

Eine Konsequenz aus diversen Vorfällen hat die Politik 2020 gezogen: Durch das vom Bundestag beschlossene, aus Verfahrensgründen aber noch nicht in Kraft getretene Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität sollen im ärztlichen Notdienst oder in einer Notaufnahme tätige Personen vor Angriffen geschützt werden. Hierzu werden sie in Paragraf 115 des Strafgesetzbuches künftig ausdrücklich genannt, so wie dies schon bei Feuerwehr, Katastrophenschutz und Rettungsdienst der Fall ist. Doch letztlich wird die Änderung Klienten nicht davon abhalten, Gewalt anzuwenden. In dem Fall sei es wichtig, dass es eine gute Nachsorge gebe, um die Ereignisse zu verarbeiten, sagt Olaf Schmelzer. „Durch unser Verhalten können wir die Zahl der Übergriffe reduzieren, aber nicht gänzlich verhindern“, gibt er den Seminarteilnehmern mit auf den Weg.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: Illustration: iStock.com/Denis Pobytov, Fotos: Werner Krüper, NAV-Virchow-Bund, Ärztekammer