Mit Ergotherapeutin Sarah D. arbeitet Frau K. an der Verbesserung ihrer Fingerfertigkeit. Das kann ihr helfen, den Alltag zu Hause zu bewältigen.
Rehabilitation

Pflegekonzept ebnet Weg nach Hause

Muskelaufbautraining, Treppensteigen, Hochbeete bepflanzen: Im Haus Ruhrgarten enthält der Pflegealltag Reha-Elemente. So erhöhen sich für Menschen nach einem Klinikaufenthalt in der Kurzzeitpflege die Chancen, nach Hause zurückzukehren. Von Stefanie Roloff

Nach mehreren

Krankenhausaufenthalten aufgrund von Herzproblemen und Komplikationen, wie einer Gürtelrose, war Herbert Hanser „ganz schön am Boden“, wie er sagt. Mit Pflegegrad vier kam der Rentner ins Haus Ruhrgarten, ein Heim der Evangelischen Altenhilfe in Mülheim an der Ruhr. Dieses konnte er dank des Konzepts der therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Anteilen nach sieben Monaten wieder verlassen. „Ich habe nicht geglaubt, dass er nochmal auf die Beine kommt,“ erzählt seine Lebensgefährtin Renate Tausendfreund in einem Filmbericht der AOK Rheinland/Hamburg. Die Kasse unterstützt den neuartigen Pflegeansatz. In der Senioreneinrichtung sei er wieder richtig fit gemacht worden, berichtet Tausendfreund. Nun könne Hanser sogar zu Hause mit dem Stock gehen.

So wie Herbert Hanser geht es vielen älteren Patientinnen und Patienten nach Stürzen, Schlaganfällen oder anderen akuten Erkrankungen. Etwa 40 Prozent von ihnen bleiben Experten zufolge allerdings nach der Kurzzeitpflege auf Dauer im Pflegeheim. Dass es Auswege aus dieser Situation gibt, zeigt die AOK Rheinland/Hamburg gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) am Beispiel der Häuser Ruhrgarten und Ruhrblick. In den Jahren 2017 bis 2019 wurden in den Einrichtungen etwa 170 Menschen erfolgreich rehabilitativ gepflegt, sodass sie nach Hause entlassen werden konnten. Die überwiegende Mehrzahl von 106 Patientinnen und Patienten hielt sich nur bis zu drei Monate im Heim auf.

Tagesform gibt Taktung vor.

„In unserem Konzept steht der Mensch absolut im Mittelpunkt,“ sagt dazu Oskar Dierbach, Pflegedienstleiter der Häuser Ruhrgarten/Ruhrblick. Zusammen mit Fachleuten wie Ärzten, Apothekern, Pflegefachkräften und Therapeuten werde geschaut, welche Therapie für den Einzelnen die beste sei und wie diese in den Pflegealltag eingebaut werden könne.

Patientinnen und Patienten erhalten die Zeit und Ruhe, die sie für ihre Wiederherstellung brauchen.

Die Pflege-, Betreuungs- und Therapieangebote greifen bei diesem Konzept Hand in Hand. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege und der sozialen Betreuung übernehmen Ansätze aus der Ergo- und der Physiotherapie, indem sie mit den Bewohnerinnen und Bewohnern beispielsweise Plätzchen backen, am Hochbeet arbeiten oder das Training am Barren fortsetzen. „Dabei gibt der pflegebedürftige Mensch mit seiner Tagesform die Taktung für das therapeutische Handeln vor“, sagt Dierbach. Zusätzlich wird geprüft, welche Medikamente abgesetzt werden können, um Wechsel- und Nebenwirkungen zu reduzieren und die Betroffenen leichter aktivieren zu können.

Eigenmotivation fördern.

Durch den motivationalen Ansatz unterscheidet sich die therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen von der klassischen geriatrischen Rehabilitation. Die Patientinnen und Patienten erhalten die Zeit und Ruhe, die sie für ihre Wiederherstellung brauchen. „So lassen sich rehabilitative Anteile konkret in der Lebenswelt implementieren und fortschreiben“, erläutert Professor Michael Rapp, Präsident der DGGPP.

Muskelaufbau ohne Altersgrenze: Physiotherapeut Markus M. leitet im Fitnessraum des Haus Ruhrgarten die 98-jährige Bewohnerin Frau B. beim Training an.

Als Beispiel erzählt Oskar Dierbach von Getrud W. Sie litt nach einer Hirnblutung an einer Angststörung, die jede Form von Therapie erschwerte. Nach Stationen in der Akutklinik und Früh­reha kam sie im Haus Ruhrgarten Schritt für Schritt wieder ins Leben zurück. Dies gelang durch eine Reduktion der sedierenden Medikamente und eine behutsame, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Therapie. Dafür brauche es viel Personal, sagt Oskar Dierbach sowie „die Bereitschaft des Menschen mitzumachen“. Bei Getrud W. waren es die Dahlien, die ihr Mann mitbrachte. Sie erinnerten sie an ihren geliebten Garten und wurden zum Motivationsschlüssel.

Der Aufwand, der mit dem Pflegekonzept verbunden ist, lohnt sich – und das nicht nur in Bezug auf die einzelnen Patienten. So kommt Michael Rapp, der das Konzept und die dazu von der AOK Rheinland/Hamburg erhobenen Zahlen geprüft hat, zu dem Ergebnis, dass „rehabilitative Ansätze die Krankheitslast für den Betroffenen und die Kosten für das Gesundheitssystem senken“. Das Konzept der therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Anteilen der Evangelischen Altenhilfe in Mülheim an der Ruhr sei gegenüber den Vergleichsheimen kosteneffizient.

Das Konzept in die Breite bringen.

Das bestätigt Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg. An der Umsetzung des Konzeptes in den Häusern Ruhrgarten/Ruhrblick werde deutlich, wie rehabilitative Pflege erfolgreich und zum Wohl der Pflegebedürftigen umgesetzt werden könne. Jetzt gelte es, die gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen, „um die Versorgung von Pflegebedürftigen weiterzuentwickeln und soziale und ökonomische Aspekte zu verbinden“.

Reha und Pflege müssen stärker zusammenkommen.

Er fordert, die Grenzen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung zu öffnen und eine ganzheitliche Betrachtung der Betroffenen im pflegerischen Alltag zu etablieren. „Hierfür muss der Gesetzgeber die rechtlichen Grundlagen schaffen“, so AOK-Vorstand Mohrmann. Über den positiv beschiedenen Innovationsfondsantrag könne das Projekt nun auf eine breitere Basis gestellt und das Konzept der rehabilitativen Pflege auf weitere Einrichtungen ausgeweitet werden. „Das Ziel muss sein, Brüche in der Versorgung Pflegebedürftiger, die in unterschiedlichen Zuständigkeiten begründet sind, zu vermeiden.“

Oskar Dierbach hat Pläne für die Zeit nach der Corona-Pandemie. Er möchte die rehabilitative Pflege für Menschen mit Demenz in familiären Kleingruppen weiterentwickeln und die Mitarbeitenden gezielt schulen. Auch kleinere bauliche Veränderungen in der Pflegeeinrichtung sind hierfür geplant. Von der Politik wünscht er sich „das alltägliche Fachgespräch auf Augenhöhe mit dem Ziel, dass Pflege und Reha endlich stärker zusammenkommen“.

Stefanie Roloff ist freie Journalistin in Berlin.
Bildnachweis: Walter Schernstein, 2020