Thema des Monats

Expertenrat ist stark gefragt

Virologen, Intensivmediziner und Biochemiker beraten Corona-Kabinette und sitzen Seite an Seite mit Politikern in Pressekonferenzen. Wissenschaft und Politik scheinen seit Beginn der Pandemie enger zusammenzurücken. Warum dadurch die Gefahr von Missverständnissen steigt, beschreiben Prof. Dr. Nils C. Bandelow, Johanna Hornung und Lina Y. Iskandar.

Mitte März 2021: vorübergehender Impfstopp für das Vakzin von AstraZeneca. Gesundheitsminister Jens Spahn betonte: „Das ist eine fachliche Entscheidung, keine politische.“ Er folge einer Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). „Wir treffen Entscheidungen rund ums Impfen grundsätzlich auf fachlicher Basis“, so der Minister. „Der Ratschlag der Wissenschaftler ist ein Ratschlag, aber das ist kein Automatismus“, erklärte hingegen SPD-Gesundheitsexperte Professor Karl Lauterbach in einem Deutschlandfunk-Interview auf die Frage, ob Jens Spahn auch anders hätte entscheiden können, als einen Impfstopp zu verfügen und damit der Expertise des PEI zu folgen. Zwei Statements, die ein Schlaglicht auf den Zusammenhang von Wissenschaft und Politik in der Corona-Krise werfen.

Alte und neue Rollen einordnen.

Die aktuelle Pandemie hat auf den ersten Blick das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit grundlegend verändert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treten regelmäßig in Talkshows auf, produzieren eigene Podcasts und entwickeln sich zu Medienstars und/oder Feindbildern. Zwischen einzelnen Wissenschaftlern und Politikern scheinen symbiotische Beziehungen entstanden zu sein. Das zeigt sich nicht nur in der Vergabe von Forschungsaufträgen und der Präsentation von Ergebnissen dieser Aufträge, sondern in gemeinsamen öffentlichen Auftritten, bei denen die Rollenverteilung unklar ist. Politiker äußern sich zu wissenschaftlichen Fachfragen, Wissenschaftler geben politische Einschätzungen ab.

Beides geschieht zwar in der Regel mit den üblichen Grundsätzen, dass die eigentliche Zuständigkeit bei der jeweils anderen Seite liegt. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass die Systeme von Wissenschaft, Politik und medialer Öffentlichkeit immer mehr zusammengeflossen sind. Gibt es wirklich keine klaren Grenzen mehr zwischen diesen Systemen? Macht jetzt Wissenschaft Politik? Und was ist daran eigentlich neu? Dieser Beitrag will die alte und die neue Rolle von Wissenschaft im politischen Prozess aus sozialwissenschaftlicher Perspektive einordnen.

Handlungsprämissen unterscheiden sich.

Schon vor der Pandemie spielten die Wissenschaften in der Politik und insbesondere auch in der Gesundheitspolitik eine zentrale Rolle. Sie wurden vor allem unter dem Paradigma der evidenzbasierten Medizin auch formal in Entscheidungsprozesse beispielsweise im Gemeinsamen Bundesausschuss eingebunden (Bertelsmann, Roters und Bronner, 2007, siehe Lese- und Webtipps). Vor Beginn der Corona-Krise waren die Grenzen der Systeme strittig: So wurde die evidenzbasierte Medizin zum „Spielball der Politik“. Das schrieb Sven Wunderlich 2019 im „Observer Gesundheit“, als Jens Spahn mit der Einführung einer Fachaufsicht über den Gemeinsamen Bundesausschuss dem Ministerium Entscheidungsmacht bei der Methodenbewertung verschaffen wollte.
 
Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass die Logik der politischen Arena und die der Fachwelt häufig nicht kompatibel sind. Politik orientiert ihr Handeln an anderen Prämissen, etwa der Wiederwahl und der Besetzung von Ämtern, die auf kurzfristiger öffentlicher Beliebtheit beruhen. Wissenschaften folgen dagegen Standards, die meist auf dem Begründungszusammenhang, auf Transparenz der Methoden und dem Prinzip des ständigen Zweifelns basieren. Anders, als der öffentlich verbreitete Singular der „einen“ Wissenschaft suggeriert, sind diese Standards und auch die dahinterstehenden wissenschaftstheoretischen Verständnisse in verschiedenen Disziplinen und Teilkulturen unterschiedlich und haben kaum einheitliche Schnittmengen.

Strategien folgen wissenschaftlichen Empfehlungen.

Die Corona-Krise hat weltweit die Beziehungen zwischen Wissenschaften, Politik und medialer Öffentlichkeit neu strukturiert. Politikerinnen und Politiker nutzen teilweise neue und teilweise bestehende Expertengremien. So wurde in Frankreich etwa ein neuer Ad-hoc-Expertenrat gebildet und der bisherige „Verteidigungsrat“ als Gremium umgewidmet. Auch die meisten anderen europäischen Länder haben in Anlehnung an die chinesischen Erfahrungen zumindest zu Beginn der Pandemie die Empfehlungen von medizinischen Expertinnen und Experten umgesetzt. Dies konnte je nach national dominierender Wissenschaftsmeinung zu unterschiedlichen Politiken führen. In den meisten europäischen Ländern empfahlen die ausgewählten Experten diffuse Zwangsmaßnahmen zur möglichst allgemeinen Reduktion von Kontakten. Aber auch die phasenweise entgegengesetzte Strategie der Nutzung freiwilliger Politikinstrumente und gezielter Eingriffe in spezifische Infektionsketten folgte wissenschaftlichen Empfehlungen.

Expertengremien bewerten Evidenz.

In Deutschland zeichnete sich im Zuge der Corona-Pandemie eine unterschiedliche Berücksichtigung von Experten entlang einer langfristigen und einer kurzfristigen Perspektive ab. Das deutsche Gesundheitswesen verfügt vor allem mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), dem Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) und dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) grundsätzlich über Expertengremien, die wissenschaftliche Evidenz bewerten und in Empfehlungen umsetzen.

Die Corona-Krise hat die Beziehungen zwischen Wissenschaften, Politik und medialer Öffentlichkeit neu strukturiert.

Insbesondere der SVR steht jedoch vor der Herausforderung, dass seine Empfehlungen häufig nicht in der allgemeinen Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Vielmehr kürzen die jeweiligen Akteure des Gesundheitswesens seine mehrere Seiten umfassenden Berichte auf wesentliche Aussagen, die ihre bisherigen Sichtweisen jeweils stützen.

Die Neigung zu einer „politikbasierten Evidenz“ – die Professor Holger Straßheim und Professor Pekka Kettunen 2014 in der Zeitschrift „Evidence & Policy“ beschreiben – ist somit in Teilen erkennbar, wenn im Vorfeld erarbeitete gesundheitspolitische Wahlprogramme und Meinungen mit den Ergebnissen des SVR nachträglich bestätigt werden. Mittlerweile wirbt der SVR um mehr Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, etwa durch das öffentliche Vorstellen seiner Ergebnisse. Das kann durchaus Konflikte mit den politischen Auftraggebern bewirken. Zudem sind zwar das IQWiG und das IQTIG eng mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss verbunden. Dieser erweist sich aber auch zunehmend als ein auf politische und Medienlogiken reagierender Akteur, wie eine brillante Analyse im „Observer Gesundheit“ zeigt (2021, siehe Lese- und Webtipps).

Legitimation politischer Entscheidungen.

Die Notwendigkeit kurzfristiger Reaktionen und Lösungen auf das neuartige Corona-Virus erforderten eine veränderte Art der Expertise. Der Handlungsdruck und die als erforderlich erachteten tiefgreifenden Einschränkungen mussten darüber hinaus öffentlich legitimiert werden, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu gewährleisten. Zu diesem Zweck wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch Teil der öffentlichen Kommunikation. Diese Strategie war zumindest kurzfristig erfolgreich: Zwischen März und Mai 2020 lag das Vertrauen in „die“ Wissenschaft laut Wissenschaftsbarometer 2020 (siehe Lese- und Webtipps) höher als in den Jahren zuvor. Sie sank demnach aber zuletzt wieder auf den Stand vor der Corona-Krise.
 
Wissenschaften liefern nicht nur Daten, Interpretationen und Prognosen. Die Komplexität der Krise bewirkte vor allem, dass zusätzliche Quellen für Vertrauen in politische Entscheidungen notwendig wurden. Weder das politische System noch einzelne Politikerinnen und Politiker konnten diese ausreichend bereitstellen. Dies galt nicht nur in Deutschland, war hier aber durch die dauerhafte Regierungskrise einer Koalition von Parteien, deren Vorsitzenden seit der letzten Bundestagswahl mindestens einmal gewechselt haben, besonders ausgeprägt. Die Präsentation einzelner Wissenschaftler als Mitverantwortliche für politische Entscheidungen erfüllt somit auch ein genuin politisches Ziel, nämlich die Stärkung der diffusen (von Inhalten gelösten) Legitimation politischer Entscheidungen.

Grenzen sind nicht aufgehoben.

Die Corona-Krise hat somit neue Stars an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und medialer Öffentlichkeit hervorgebracht. Einige genießen inzwischen hohes Renommee in mehreren dieser drei Systeme. Andere haben die Systeme eher gewechselt und sind von früherer angesehener wissenschaftlicher Tätigkeit über eine zentrale Rolle in der Gesundheitspolitik jetzt primär zum Medienstar geworden, wie vor allem Karl Lauterbach. Die personellen Schnittmengen zwischen Teilsystemen bedeuten aber nicht, dass die Grenzen zwischen den Systemen aufgehoben wären, im Gegenteil: Es zeigt sich wiederholt, dass Personen sich schwer damit tun, die unterschiedlichen Logiken zu reflektieren, denen Wissenschaft, Politik und mediale Öffentlichkeit jeweils folgen.
 
Wie Professor Niklas Luhmann in seinen Ausführungen zur Systemtheorie 1995 beschreibt, existieren in sozialen Systemen unterschiedliche Kommunikations-Codes, die entsprechend interpretiert werden. Die politische Logik funktioniert anhand von Macht. Die Logik im Wissenschaftssystem folgt wissenschaftlichen Standards und die Medienlogik der Generierung von Aufmerksamkeit. Geübte Akteure in den Systemen kennen und verstehen die jeweilige Logik. Bewegen sich nun aber Akteure eines Systems in einem anderen System und versuchen gleichzeitig in ihrer ursprünglichen Kommunikationslogik zu bleiben, führt dies zu Missverständnissen und Fehldarstellungen.

Journalisten übersetzen Wissenschaft.

Die Grenzziehung zwischen Systemen beruht nicht auf dem professionellen Hintergrund der jeweils Informationen sendenden Menschen. Sie hängt vielmehr vom spezifischen Selektions- und Interpretationsmechanismus des Funktionssystems ab, von dem die Informationen aufgenommen werden. Hier gibt es Verbindungen, die entweder aus überlappenden Systemlogiken entstehen (wenn etwa Wissenschaft von Geld abhängig ist) oder durch Personen mit Übersetzungsaufgaben geleistet werden. Die traditionellen Übersetzer von Wissenschaften für das Mediensystem sind (Wissenschafts-)Journalistinnen und Journalisten. Sie können die wissenschaftlichen Erkenntnisse nach medialer Logik aussuchen und aufbereiten. Wissenschaftler können im Hinblick auf ihre ursprüngliche Sendungsfunktion dabei professionell beraten und auch persönlich geschützt werden (etwa durch universitäre Pressestellen), um nicht von der Interpretation ihrer Informationen durch andere Systeme überrascht zu werden.

  • Hilke Bertelsmann, Dominik Roters, Dorothea Bronner: Vom Nutzen der Nutzenbewertung: Die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin und des Health Technology Assessments als Entscheidungsgrundlage des Gemeinsamen Bundesausschusses. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen – German Journal for Quality in Health Care, 2007. Online-Zugang: doi
  • Observer Gesundheit: Öffentliche Sitzung des Gemeinsamen Bundesausschusses Berlin. Zum Download
  • Matthias Schrappe, Hedwig François-Kettner, Matthias Gruhl, Dieter Hart, Franz Knieps, Holger Pfaff, Gerd Glaeske: Thesenpapier 3.0. Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 – eine erste Bilanz. Strategie: Stabile Kon­trolle des Infektionsgeschehens. Prävention: Risikosituationen erkennen. Bürgerrechte: Rückkehr zur Normalität. Zum Download
  • Wissenschaftsbarometer 2020: Ergebnisse im Überblick

Kommunizieren aber Wissenschaftler wie jetzt in der Corona-Pandemie direkt über das Mediensystem, müssen sie sich eigenverantwortlich an der medialen Logik orientieren. Medienkommunikation sucht nicht nach Vielfalt und Fragezeichen, sondern nach (scheinbarer) Klarheit, bekannten und interessanten Personen, nach Emotionen und Skandalen. Dies erklärt, warum medial ein reduziertes und oft verfälschtes Bild wissenschaftlicher Debatten präsentiert wird. Es erklärt auch, warum einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so schnell Prominenz erlangt haben, ohne dass dies für eine „Verwissenschaftlichung“ von Politik sprechen würde.

Zweifel stören die politische Kommunikation.

Auch in der Politik folgt die Interpretation jeder Kommunikation einer systemspezifischen Logik. Die Corona-Pandemie präsentiert uns zwar neue prominente Wissenschaftler als Teilnehmende politischer Entscheidungsrunden. In den Runden selbst müssen aber alle Beteiligten den politischen Kriterien der Fragen nach Machtgewinn, Legitimation und Akzeptanz folgen. Anders als in der wissenschaftlichen Kommunikation sind Zweifel und Unsicherheiten hier keine Bestandteile, sondern Störungen der Kommunikation. Wissenschaftler machen nur dann Politik, wenn sie sich politisch verhalten. Dies ist umso mehr der Fall, je stärker die Beratung nicht nur als Politikerberatung, sondern als öffentliche Politikberatung erfolgt.

Experten sind öffentlichen Diffamierungen ausgesetzt.

Dazu kommt, dass die politischen Maßnahmen nicht durch wissenschaftliche Evidenz begründet werden können, selbst wenn sie darauf basieren. Dies gilt nicht nur unter den spezifischen Bedingungen der besonderen Unsicherheit, die im Zuge der Neuartigkeit und fehlenden systematischen multiperspektivischen wissenschaftlichen Datenerhebung in der aktuellen Krise entstanden ist (Schrappe et al., 2020, siehe Lese- und Webtipps). Die Gräben zwischen der analytisch reduzierenden Bearbeitung isolierter Fragen durch die Wissenschaft und der ganzheitlich ausgerichteten Politik sind strukturell nicht zu überwinden.

Dieses Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und medialer Öffentlichkeit führt immer wieder zu scheinbar paradoxen Effekten. So wird etwa eine stärkere Präsenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Medien und politischen Gremien teilweise von öffentlichen Angriffen und Beleidigungen begleitet. Das hat der Streit zwischen dem Virologen Professor Christian Drosten und der „Bild“-Zeitung gezeigt. Die Handlungen beider Seiten waren aus ihrer jeweiligen Logik heraus nachvollziehbar und berechenbar, führten aber dennoch zu einem Konflikt. Der Umgang damit liegt im jeweiligen System begründet. Für andere Meinungen und Vielfalt ist in der Wissenschaft Platz, sie werden gelebt und gegenseitig akzeptiert. Die „Bild“-Zeitung ist als Medium darauf angewiesen, zu provozieren und zu polarisieren. Die Politik und die politischen Akteure sind mit Diffamierungen von Anhängern anderer politischer Lager und den Medien in der Regel vertraut. Sie sind deshalb besser darauf vorbereitet und im Umgang geschulter, als es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind.

Mediale Präsenz analysiert.

Auch gegenüber der Bevölkerung kann sich dieses Spannungsfeld eher hinderlich als förderlich für die Akzeptanz der Wissenschaften erweisen. Das Hauptmedium massenmedialer politischer Kommunikation ist noch immer das Fernsehen. Die neuen und sozialen Medien wirken nach wie vor eher in spezifischen sozialen Umfeldern, vor allem auch bei der Beeinflussung der Fernsehkommunikation. So wird der Kurznachrichtendienst Twitter hauptsächlich zur Information von Journalistinnen und Journalisten genutzt. Auch andere Trends und Nachrichten in den neuen Medien, etwa das YouTube-Video des Bloggers Rezo vor der Europawahl oder die Tweets des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, werden weiterhin über die traditionellen Medien vermittelt, wobei das Fernsehen deutlich mehr Reichweite generiert als Printmedien.

Vor dem Hintergrund der dominierenden Rolle der Fernsehnachrichten ist relevant, wie Wissenschaftler in diesem Medium präsentiert werden und wie sich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik hier gestaltet. Dazu haben die Autoren dieses Beitrags die „Tagesschau“ im Zeitraum von zwei Wochen vor und nach dem jeweiligen Lockdown von März bis Mai 2020 und ab Dezember 2020 analysiert (siehe Grafik „Wissenschaft kommt häufig zu Wort“).

Grafik: TV-Nachrichten - Anteile in Prozent von Politikern und Experten an der Gesamtzahl ihrer Nennungen in der

Im Zusammenhang mit dem jeweiligen Lockdown zeigten Experten in der „Tagesschau“ große Präsenz: So betrug ihr Anteil an der Gesamtzahl der genannten Experten und Politiker im März 2020 40 Prozent, darunter zwölf Prozent Virologen. Politiker kamen auf 65 Prozent. Nach Beginn des zweiten Lockdowns im Dezember 2020 war ihr Anteil in der Tagesschau auf 32 Prozent zurückgegangen (Politiker: 57 Prozent).
 
Quelle: Bandelow, Hornung, Iskandar auf Basis von Tagesschau.de/Archiv

Betrachtet man die Häufigkeit, mit der Personen im Zusammenhang mit der Festlegung und Verkündung der Maßnahmen anteilig in den Sendungen genannt werden, zeigt sich, dass Virologen vor allem zu Beginn der Pandemie medial sehr präsent waren (zwölf Prozent). Expertinnen und Experten kamen mit 40 Prozent nah an die Politiker (57 Prozent) heran. Im Dezember scheint der disziplinäre Hintergrund der öffentlich auftretenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vielfältiger zu sein (lediglich drei Prozent Virologen). Politikerinnen und Politiker sind in diesem Zeitraum mit 65 Prozent in der Tagesschau doppelt so präsent gewesen – was zum Teil mit den anstehenden Wahlen 2021 erklärt werden kann.

Verhältnis wird komplexer.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Systeme von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit auch in der Corona-Pandemie abgegrenzt sind. Sie funktionieren nach eigenen Logiken, die nicht miteinander verträglich sind. Jedoch zeigt sich, dass die jeweiligen Akteure und dabei vor allem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend aus ihrem System ausbrechen und sich in den anderen Systemen bewegen. Dies kann problematisch sein: Erstens besitzen Wissenschaftler keine demokratische Legitimation für das Treffen politischer Entscheidungen. Zweitens sind sie nicht mit den Logiken der anderen Systeme vertraut. Oft führt das dazu, dass Wissenschaftler in ihrer eigenen Logik wissenschaftliche Aussagen machen, die aber anders verstanden werden, wenn sie in andere Systeme eingebettet sind. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wird damit in der Corona-Krise komplexer. Dem muss sich die Forderung nach einer evidenzbasierten Politik stellen.

Trotz der benannten Systemgrenzen ist zu erwarten, dass auch nach der Corona-Krise in vielen Politikfeldern häufiger nach der Evidenz für bestimmte Maßnahmen gefragt werden wird. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen durch den Klimawandel, der demografischen Entwicklung und der Veränderung von Stadt-Land-Beziehungen bis hin zu den ökonomischen Folgen der Corona-Krise ist zu klären, wie sich wissenschaftliche Evidenz systematisch nutzen lässt, ohne dabei einzelne Sichtweisen zu vernachlässigen – damit eine evidenzbasierte Politik nicht zu einer politikbasierten Evidenz wird.

Literatur bei den Verfassern

Nils C. Bandelow leitet das Institut für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse der TU Braunschweig.
Johanna Hornung ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse der Technischen Universität Braunschweig.
Lina Y. Iskandar ist studentische Hilfskraft am Institut für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse der TU Braunschweig.
Oliver Weiß ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: Titelbild Startseite: iStock.com/Mihajlo Maricic