Interview

„Wir sind den Seuchen nie entronnen“

Singulär an Corona ist nicht das Virus selbst, sondern wie die Menschen darauf reagieren, meint Prof. Dr. Karl-Heinz Leven. Der Medizinhistoriker konstatiert, erstmalig würden weltweit politische Entscheidungen und das tägliche Leben nach epidemiologischen Kriterien ausgerichtet.

Herr Professor Leven, ist Corona etwas Besonderes in der Seuchengeschichte?

Karl-Heinz Leven: Ja, weil das Virus Reaktionen hervorgerufen hat, die es in dieser Form noch nie gegeben hat. Die Weltgesundheitsorganisation hat am 11. März 2020 erstmals die Warnstufe Pandemie ausgegeben. Es gibt weltweit eine geradezu militärisch organisierte Seuchenabwehr, die mal mehr, mal weniger gut gelingt. In Ländern rund um den Erdball werden komplette Branchen, Schulen und andere Bereiche in den Lockdown geschickt. Zwar ist Covid-19 eine ernstzunehmende Krankheit, die tödlich enden kann. Corona ist aber nicht vergleichbar mit den großen Seuchen wie der Pest im 14. Jahrhundert, der Cholera im 19. Jahrhundert, der Spanischen Grippe 1918/19 oder Aids ab den 1980er-Jahren.

Porträt von Karl-Heinz Leven, Medizinhistoriker

Zur Person

Prof. Dr. Karl-Heinz Leven ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg. Dort hat er den Lehrstuhl für Geschichte der Medizin inne. Seit 2011 ist er Mitglied der Leopoldina.

Verdanken wir diese neuartige Reaktion dem medizinischen-technischen Fortschritt oder der Aufklärung?

Leven: Weder noch. Wir leben nach wie vor in einer vormodernen Gedankenwelt, in der Angst sowie die Disziplinierung durch Maßnahmen eine große Rolle spielen. Wir erleben aktuell auch vor­moderne Reaktionsformen bei den Politikern. Und diese Abwehrmuster der frühen Neuzeit werden perfektioniert auf die ganze Welt übertragen.

Sie haben kürzlich in einem Fernsehbeitrag gesagt, dass wir inzwischen ein epidemisches Zeitalter erreicht haben. Was meinen Sie damit?

Leven: Corona hat viele Leute sehr überrascht. Ihnen war offenbar nicht klar, dass wir den in der Geschichte allgegenwär­tigen Seuchen nie entronnen sind. Die Wucht der Pandemie hat uns dahin gebracht, dass wir inzwischen alles unter einem epidemiologischen Blickwinkel sehen. Das Abwägen von Gesundheits­risiken hat enorm zugenommen. Das meine ich mit dem epidemischen Zeitalter. Die Maxime der Politik ist seit knapp anderthalb Jahren, dass Seuchenabwehr und Gesundheitsschutz oberste Priorität haben. Diese Maxime ist mehrheitsfähig. Auch dies ist ein Phänomen, das es welthistorisch noch nie gegeben hat.

Seuchenabwehr und Gesundheitsschutz haben inzwischen die oberste Priorität.

Ihnen geht es also nicht um eine eventuelle objektive Zunahme von Seuchen aufgrund des Klimawandels?

Leven: Der Klimawandel spielt auch eine Rolle, ebenso wie der Eingriff des Menschen in Lebensräume, die er in vergangenen Zeitaltern in Ruhe gelassen hat, wie beispielsweise den Regenwald. Wir kommen mit Tieren in Berührung, mit denen wir früher keinen Kontakt hatten. Durch die Globalisierung können sich Erreger in Windeseile verbreiten. Das sind zwei sich gegenseitig verstärkende Tendenzen.

Wird man das Gesundheitswesen neu aufstellen müssen?
 
Leven:
Es zeigt sich, dass unser System nicht in allen Bereichen effektiv ist – ungeachtet der Tatsache, dass Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger sowie andere im Gesundheitswesen gerade alles tun, was sie können – und viele auch mehr. Ob man da mehr Mittel bereitstellen muss, ob das System noch aufwendiger werden muss? Das allein wird nicht reichen. Vielleicht muss auch eine Neubewertung verschiedener Tätigkeiten erfolgen. Vielleicht muss die Pflege aufgewertet werden, etwa durch eine Akademisierung und bessere Bezahlung. Vielleicht brauchen wir auch mehr Medizinstudierende. Da stellen sich Herausforderungen, die zur Umformung des Gesundheitswesens aufrufen.

Ines Körver führte das Interview. Sie ist Redakteurin im KomPart-Verlag.
Bildnachweis: privat