Behandlungsfehler

Heilpraktikerin haftet nach Todesfall

Das Patientenrechtegesetz gilt auch für Heilpraktiker. Hat ein Patient erkennbar Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer empfohlenen medizinischen Behandlung, darf ein Heilpraktiker ihn nicht in der Abkehr von der gebotenen Therapie bestärken. Ansonsten begeht er einen Behandlungsfehler, urteilte das Oberlandesgericht München. Von Anja Mertens

Urteil vom 25. März 2021
– 1 U 1831/18 –

Oberlandesgericht München

Immer mehr Menschen

wenden sich von der Schulmedizin ab. Stattdessen suchen sie Heilpraktiker auf, welche mit alternativen Heilverfahren arbeiten. Diese bieten jedoch in vielen Fällen nicht die gleichen Erfolgsaussichten wie schulmedizinische Behandlungen. Auch die Gerichte haben sich schon mehrmals mit der Frage auseinandergesetzt, wann Heilpraktiker haften. So auch kürzlich das Oberlandesgericht (OLG) München.

Strahlentherapie abgebrochen.

In dem Fall ging es um eine schwangere Frau, die an Gebärmutterhalskrebs erkrankt war. Der Tumor wurde noch während der Schwangerschaft entfernt. Nach der Geburt ihres Sohnes im April 2015 unterzog sie sich ab Mitte Mai einer Strahlentherapie. Diese brach sie im Juni 2015 ab, obwohl sie von ihrem Frauenarzt und der Strahlenmedizinerin wusste, dass ein Abbruch wahrscheinlich zum Tod führt. In der Folgezeit verließ sich die Frau allein auf eine Horvi-Enzym-Therapie (Schlangengifttherapie), die ihre Heilpraktikerin ihr angeraten hatte. Da sich der Gesundheitszustand verschlechterte, musste die Patientin ab September 2015 in palliativ-medizinische Behandlung und verstarb schließlich im Oktober 2015.
 
Ihr Sohn, vertreten durch den Vater, klagte gegen die Heilpraktikerin und verlangte Schmerzensgeld und Schadenersatz wegen fehlerhafter Behandlung. Ohne den Abbruch der Strahlentherapie hätte seine Mutter gute Heilungschancen gehabt. Die Beklagte habe aber von der schulmedizinischen Therapie abgeraten. Daraufhin habe seine Mutter die begonnene Therapie abgebrochen und sich stattdessen auf die wirkungslose Schlangengifttherapie verlassen.
 
Das Landgericht wies die Klage ab. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass die behaupteten Fehler mitursächlich für den Entschluss seiner Mutter zum Abbruch der Strahlentherapie waren und die Schlangengiftpräparate den weiteren Verlauf dahingehend beeinflusst hätten, dass sie ihrem Krebsleiden erlag.

Die Therapie mit Schlangengift ist keine evidenzbasierte Behandlungsmethode, so die Zivilrichter.

Gegen das Urteil legte der Kläger Berufung ein. Das OLG gab ihm dem Grunde nach Recht. Wegen fehlerhafter Behandlung veurteilte das Gericht die Heilpraktikerin, 30.000 Euro Schmerzensgeld und 7.100 Euro Schadenersatz für den entgangenen Kindesunterhalt zu zahlen. Zudem müsse sie dem Kläger weitere bis zum 9. Juni 2020 entstandene materielle Schäden zu zwei Drittel ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger (Waisenrente) oder andere Dritte übergegangen seien.

In seiner Begründung wies das OLG zunächst darauf hin, dass zwischen der Verstorbenen und der Heilpraktikerin ein Behandlungsvertrag bestanden habe (Paragraf 630a Bürgerliches Gesetzbuch). Die daraus resultierenden Pflichten würden auch für Heilpraktiker gelten. Da die Beklagte als solche auftrete, nehme sie das entsprechende Vertrauen für sich in Anspruch und müsse sich an dem etablierten Standard messen lassen. Der Sachverständige habe Zweifel daran geäußert, ob die Beklagte hinreichend qualifiziert war, eine naturheilkundliche Begleittherapie einer krebskranken Patientin zu übernehmen. Die dafür erforderliche Fortbildung habe zum Zeitpunkt der Behandlung zehn Jahre zurückgelegen und nur acht Stunden inklusive Pausen betragen. Zudem sei die Schlangengifttherapie keine evidenzbasierte Behandlungsmethode, und die Fachliteratur für Heilpraktiker rate ausdrücklich davon ab, diese bei Krebspatienten einzusetzen.

Hinweis auf Folgen erforderlich.

Der Heilpraktikerin müsse klar gewesen sein, dass sie für die Patientin der „letzte Strohhalm“ war. Deswegen habe sie berücksichtigen müssen, dass die Patientin ihre Erkrankung und ihre Krankheitssituation möglicherweise falsch einschätzte. Ihr sei daher vorzuwerfen, dass sie nicht nachdrücklich auf mögliche Folgen eines Therapieabbruchs und die Notwendigkeit der Fortsetzung Strahlenbehandlung hingewiesen habe.

Frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln, Rabattverträge, Patientenverfügungen, Behandlungsfehler – diese und weitere Themen behandeln die „18. Mitteldeutschen Medizin­rechtstage“. Sie finden vom 30. September bis 1. Oktober in Leipzig statt. Veranstalterin ist die Meinhardt Congress GmbH.

 Weitere Informationen über die „18. Mitteldeutschen Medizin­rechtstage“

Aus der Behandlungsdokumentation ergäbe sich kein Anhaltspunkt in Richtung dieser geschuldeten Beratung. Dass die Patientin wusste, dass ein Therapieabbruch wahrscheinlich zum Tode führt, entlaste die Beklagte nicht. Vielmehr sei sie verpflichtet gewesen, die Patientin nachdrücklich auf die möglichen Folgen eines Therapieabbruchs und die notwendige Fortsetzung der Strahlentherapie hinzuweisen. Sie hätte es nicht einfach so hinnehmen dürfen, dass sich die Patientin gegen die einzig sinnvolle Behandlung entschieden hatte.

Grober Fehler kehrt Beweislast um.

Die unzureichende therapeutische Aufklärung stelle einen groben Behandlungsfehler dar und sei ursächlich für den Tod der Patientin. Zugunsten des Klägers greife eine Beweislastumkehr (Paragraf 630h Absatz 5 BGB). Die Beklagte habe nicht den Gegenbeweis erbracht, ihr Fehler sei nicht kausal für den weiteren Verlauf gewesen. Das OLG sei nicht davon überzeugt, dass die Patientin dem von der Beklagten geschuldeten Rat zuwider die Strahlentherapie auf keinen Fall fort­geführt oder wieder aufgenommen hätte. Nach dem Sachverständigengutachten hätte bei einer konsequent durchgeführten Strahlentherapie die Überlebenswahrscheinlichkeit bei über 98 Prozent gelegen.

Bei der Bemessung des Schmerzensgelds und des Schadenersatzes sei zu berücksichtigen, dass die Patientin eine Mitschuld trage. Denn sie habe sich freiwillig für den Therapieabbruch entschieden. Dass die Beklagte nicht haftpflichtversichert sei, bleibe außer Betracht. In der Gesamtschau wäre eine hälftige Teilung der Schuld nicht zu rechtfertigen, da sich die verstorbene Patientin in größter Not der Beklagten anvertraut und sich auf deren Fachwissen verlassen habe.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
Bildnachweis: Foto Startseite: iStock/rclassenlayouts